Psychiatr Prax 2005; 32(6): 314-315
DOI: 10.1055/s-2005-915506
Fortbildung und Diskussion
Wiedergelesen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychische Erkrankungen im Urteil der Bevölkerung

Psychiatric Disorders in Public Opinion
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 August 2005 (online)

 

Wolfgang Stummes Kritik der Vorurteilsforschung

Wolfgang Stumme ist Soziologe. Ende der 60er-Jahre war er einer von Caspar Kulenkampfs "bright young men" in der Düsseldorfer Forschungsstelle für Psychiatriesoziologie. Später war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Psychiatrie-Enquete-Kommission, noch später Psychiatriedezernent in Rheinland-Pfalz und in Hessen.

Seine soziologische Habilitationsschrift wurde nach Closed Ranks von Cumming und Cumming und Popular Conceptions of Mental Health von Nunnally zu einem Markstein der Vorurteilsforschung. Ihr Kern ist neben den eigenen Untersuchungen eine rigorose Kritik der bis dahin vorliegenden Forschung über Vorurteile gegenüber Psychisch Kranken und der Psychiatrie. Bereits 1970, in einem Vortrag auf der legendären Loccumer Tagung "Der Psychisch Kranke in der Gesellschaft", hält er fest:

"In den zur Zeit weit über 100 vorliegenden Untersuchungen wird ausnahmslos berichtet, dass die soziale Distanz der Bevölkerung zu den Geisteskranken unüberwindlich ist. Immer wieder wird bestätigt, dass das manifeste Vorurteil gegenüber Geisteskranken gekennzeichnet ist durch folgende Merkmale: Geisteskranke sind gefährlich, gewalttätig, unbeherrscht, unberechenbar, Triebverbrecher etc. Übereinstimmend wird berichtet, dass die Information der Bevölkerung über psychische Erkrankungen relativ gering ist, wobei Laien mit höherer Schulbildung am nächsten an das Informationsniveau der Psychiater herankommen" (und toleranter gegenüber den Kranken sind).

Die Ergebnisse der vorliegenden Studien unterschieden sich kaum von einander; sie würden nur unterschiedlich interpretiert. Das mag damit zusammenhängen, dass Vorurteilsforschung meist Einstellungsänderung zum Ziel hat. Wie diese erreicht werden kann, darüber gehen die Meinungen - damals wie heute - weit auseinander. Stumme hat gegen diese Forschung eine Fülle von Einwänden methodischer, aber auch grundsätzlicher Art.

Das beginnt mit der Sprache, die nicht alltagstauglich sei und zu wenig differenziere. "Mentally Ill" (geisteskrank) bedeute zudem für Fachleute etwas anderes als für Laien. Es setzt sich damit fort, dass die Frage, was Vorurteil ist und was nicht, - was gut ist und was schlecht, - normativ ist, und nicht empirisch belegbar. Dazu komme, dass es keine einzige Untersuchung gebe, die sich mit den Einstellungen - Vorurteilen - der Psychiater befasse. Schließlich seien ausnahmslos verbal bekundete Einstellungen untersucht worden und nicht tatsächliches Verhalten; und oft seien abgefragte Informationen in Wirklichkeit auch Einstellungen.

Schließlich werde die reale Situation von Psychiatrie und psychiatrischer Versorgung der 50er- und 60er-Jahre fast nie berücksichtigt, die in der Psychiatrie-Enquete noch Anfang der 70er-Jahre als "teilweise menschenunwürdig und unmenschlich" charakterisiert wird. So komme es, dass "die festgestellten Vorurteileein Kunstprodukt der empirischen Sozialforschung sind." Aus allen diesen Gründen müsse man sich fragen, ob die angeblichen Vorurteile nicht berechtigte Urteile sein könnten, - Schlussfolgerungen aus der Art und Weise des alltäglichen Umgangs von Psychiatrie und Versorgungsträgern mit den psychisch Kranken.

Stummes eigene Untersuchungen zeigen, dass Laien durchaus differenzierte Vorstellungen entwickeln, wenn die Forschung umgangssprachliche Begriffe verwendet. Dann nivellieren sich auch die schichtspezifischen Unterschiede früherer Forschungen. Zugleich kann er zeigen, dass das Wissen über die reale Situation der Psychiatrie für die Einschätzung der Bevölkerung sehr wohl eine Rolle spielt: "Insbesondere bei den Symptomschilderungen und den komplexeren Handlungsbeschreibungen zeigen die von den Befragten in hohem Maße befähigt sind, differenzierte Ansichten zu artikulieren. Ferner konnte anhand der Fallbeschreibungen aufgezeigt werden, dass neben den Symptomen zusätzliche Kriterien der Abweichler von nicht unerheblicher Bedeutung sind." Dazu gehören neben Geschlecht und Schichtzugehörigkeit auch Informationen über frühere Behandlungen.

In seiner zusammenfassenden Diskussion geht Stumme mit der Psychiatrie - nicht mit der Bevölkerung - ins Gericht: "In bestimmten Situationen sind die Vorurteile der Laien zu psychisch Kranken fast bedeutungslos gegenüber diskriminierendem Handeln von Seiten der psychiatrischen Experten. Bemerkenswerter als diese ausgeprägte Identität des Handelns auf der einen und der an diesem Handeln orientierten Vorstellungen der anderen scheint uns zu sein, dass in den zahlreichen Publikationen über die Erforschung der Vorurteile von Laien gegenüber "Geisteskranken" der Bereich psychiatrischen Handelns geradezu tabuisiert wird. Dass diese Ansichten der Laien jedoch über lange Zeit zum gesicherten Repertoire der psychiatrischen Wissenschaft zählten, ist in diesem Kontext noch nie thematisiert worden."

Stumme schlägt vor, die verfügbaren Ressourcen auf die Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten zu konzentrieren statt auf Stigmaforschung (das Wort Stigma kommt im ganzen Buch genau zweimal vor) und frustrane Versuche der Veränderungen der Einstellung: Wenn dies geschehe und die Psychiatrie in der Lage sein werde, die in sie gesetzten Erwartungen der Laien zu erfüllen, werde eine Vorurteilsforschung nicht mehr nötig sein. Die negativen Einstellungen würden sich von allein relativieren.

Skeptisch ist er gegenüber der Vorstellung, die Laien müssten sich mit "den Aufgaben und Zielen der Agenten der sozialen Kontrolle identifizieren", zumal dies bedeute, dass die Laien die Experten legitimierten, ihr Betätigungsfeld auszuweiten - "vor allem in Richtung auf die Früherfassung".

Skeptisch ist er auch gegenüber der auch von Cumming und Cumming vertretenen Ansicht, ein Ziel der Aufklärung der Bevölkerung müsse es sein, die wenig ausgeprägte Fähigkeit der Laien zu schärfen, bestimmte Formen abweichenden Verhaltens als psychische Krankheit zu identifizieren. Nicht mehr, sondern - im Sinne der Labelling-Theorie - weniger Toleranz gegenüber den Betroffenen könnte die Folge sein.

Nicht nur diese letzten Überlegungen zeigen, wie beklemmend aktuell Stummes Buch ist. Manchmal wünsche ich mir, dass die gegenwärtigen Antistigmaprotagonisten ihm und jenem der Cummings mehr Beachtung schenken.