Psychiatr Prax 2005; 32(5): 261
DOI: 10.1055/s-2005-871828
Fortbildung und Diskussion
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Psychiatriereform als Gesellschaftsreform?

Psychiatric Reform as Reform for the Society
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Publication Date:
28 June 2005 (online)

 

Das Westfälische Institut für Regionalgeschichte leistet seit längerem wichtige Beiträge zur Geschichte der Psychiatrie, die in ihrer Bedeutsamkeit den regionalen Rahmen regelmäßig sprengen. Das gilt auch für das vorliegende Buch, das aus einer Klausurtagung des Lanschaftsverbandes Westfalen und der Universität Witten-Herdecke hervorgegangen ist. Die für die Veröffentlichung bearbeiteten 14 Einzelbeiträge sind durchweg lesenswert. Sie setzen thematische Schwerpunkte zur Anstalt zwischen Euthanasie und Psychiatriereform, zum Vorfeld der Psychiatrieenquete und dem - unterstellten - Zusammenhang von Psychiatrie und Demokratisierung im Zeichen von 1968. Letzterer erschließt sich mir allerdings nur in dem Sinne, dass gesellschaftlicher Aufbruch und Aufbruch in der Psychiatrie parallel verlaufen. Die Psychiatriereform war und ist keine Gesellschaftsreform. Sie wurde möglich, weil die sich wandelnde Gesellschaft ihren Umgang mit abweichendem Sozialverhalten veränderte, also auch mit psychisch Kranken.

Ich will vier Aufsätze hervorheben, die ich mit besonderem Gewinn gelesen habe: Alexander Veltins "Therapeutische Gruppenarbeit im psychiatrischen Krankenhaus" der 60er-Jahre; Heinz Häfners "Die Inquisition der psychisch Kranken geht ihrem Ende entgegen. Die Geschichte der Psychiatrieenquete und Psychiatriereform in Deutschland"; Manfred Bauers "Reform als soziale Bewegung: Der Mannheimer Kreis und die Gründung der deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie"; und Cornelia Brinks "Radikale Psychiatriekritik. Zum Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg". Die Freiburger Historiker lieferten hier aus dem zeitlichen Abstand eine fundierte Analyse der Entwicklungen in der Heidelberger Poliklinik, an denen sich 1970/71 nicht nur die Geister schieden und die bei unmittelbar und mittelbar beteiligten Zeitzeugen auch heute noch die Emotionen - auch Ängste - hoch kochen lassen.

Der Untertitel des Buches unterstreicht die Tatsache, dass deutsche Nachkriegspsychiatriegeschichte die "Hypothek des Nationalsozialismus" nicht ausklammern kann - anscheinend umso weniger, je größer der zeitliche Abstand zu den Naziverbrechen wird.

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