Laryngorhinootologie 2005; 84(7): 479-481
DOI: 10.1055/s-2005-870122
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zunehmende Differenzierung der Therapie beim fortgeschrittenen Larynx/Hypopharynxkarzinom

Increasing Differentiation in Management of Advanced Laryngeal and Hypopharyngeal CarcinomasA.  Dietz1
  • 1Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Plastische Operationen der Universität Leipzig
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Juli 2005 (online)

Anlass dieses Editorials ist die zunehmende therapeutische Differenzierung und damit Komplexizität der Therapieentscheidung beim fortgeschrittenen Larynx-Hypopharynxkarzinom, die im Rahmen eines Rundtischgesprächs auf dem diesjährigen 76. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie in Erfurt beleuchtet wurde. Die vom Autor zusammengestellte Runde bestand aus Herrn Prof. Dr. H. E. Eckel, Primarius der HNO-Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt, Herrn Prof. Dr. J.-A. Werner, Direktor der HNO-Universitätsklinik Marburg, Herrn Prof. Dr. M. Schilling, Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Kinderchirurgie der Universitätskliniken des Saarlandes, Herrn Prof. Dr. M. Flentje, Direktor der Universitätsstrahlenklinik Würzburg, Herrn Prof. Dr. M. M. Hess, Direktor der Abteilung Phoniatrie/Pädaudiologie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf und Herrn Prof. Dr. R. Schwarz, Direktor der Abteilung für Sozialmedizin, Universitätsklinikum Leipzig.

Prof. Dr. Andreas Dietz

Fortgeschrittene Larynx- und Hypopharynxkarzinome zeichnen sich durch eine seit Jahrzehnten unverändert schlechte Prognose und einer großen Reihe Tumor- bzw. Patienten-begründeter Problemfelder aus. Nach den Daten des Robert Koch Instituts ist die Inzidenz der Hypopharynxkarzinome gegenüber den Larynxkarzinomen in den letzten Jahren leicht zunehmend, so dass die Relevanz des Themas außer Frage steht. Oft liegt bereits bei Erstdiagnose eine mindestens lokoregionäre, wenn nicht systemische Metastasierung vor. Handelt es sich beim Larynx um ein „geschlossenes” System, muss man, bezogen auf die frühe lymphogene Metastasierung, den Hypopharynx als „offenes” System, ansehen. Hieraus ergeben sich unterschiedliche Therapieprinzipien, die sich in den R0-Resektabilitätskriterien, dem Management des „Necks” und adjuvanten Maßnahmen niederschlagen. Spielen die sog. onkologischen Einheiten im Larynx heute nur noch eine untergeordnete Rolle, reichen dennoch im Larynx Resektionsgrenzen von wenigen Millimetern für eine biologisch zu rechtfertigende R0-Resektion aus. Dagegen ist bekannt, dass 2 cm Resektionsabstand bei Tumoren des Hypopharynx oft nicht ausreichen, um von einer R0-Resektion zu sprechen. Als zusätzlich erschwerend gilt unverändert die hohe somatische bzw. (fast noch relevantere) psychische Komorbidität.

In der Regel trifft der HNO-Arzt im Rahmen der Erstdiagnostik auf einen insgesamt schwer kranken Menschen. Hierbei spielen neben den nüchternen technischen Belangen der Tumorausdehnung Fragen der Lebenserwartung, Entscheidungsfähigkeit und zu realisierenden Lebensqualität eine entscheidende Rolle. Oft gelingt es nicht, genügend Zeit für eine von Patienten wirklich internalisierte Therapieentscheidung aufzubringen bzw. Patienten überhaupt in der gebotenen Differenzierung an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Nach einer bemerkenswerten Analyse von Prof. Schwarz werden von Ärzten durchschnittlich mehr als 70 % der vorhandenen psychischen Komorbiditäten nicht erkannt.

Für fortgeschrittene Larynx- und Hypopharynxkarzinome steht heute eine zunehmende Auswahl unterschiedlicher Therapieansätze zur Verfügung. Alle Verfahren haben indikationsabhängige Vor- und Nachteile und sollten nicht konkurrierend, sondern ergänzend Einsatz finden. Prof. Werner betonte, dass die unstrittig segensreiche transorale Laserchirurgie mit dem Ziel der Organerhaltung sehr sorgfältig abgewogen werden sollte und in die Hand eines gut ausgebildeten, erfahrenen Kopf-Hals-Chirurgen gehört (Abwägen des extralaryngealen Wachstums, Kehlkopfskelettinfiltration, transorale Exponierbarkeit etc.). Oft handelt es sich bei laserchirurgischen Eingriffen am Kehlkopf und Hypopharynx um sehr aufwändige Prozeduren, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen können und oftmals erheblich anspruchsvoller sind und länger als eine Operation von außen dauern können. Nicht immer gelingt es, einen wirklich funktionell zufrieden stellenden Organerhalt des Kehlkopfes zu erreichen. Die Resektion eines Aryknorpels wird in der Regel gut toleriert, entfernt man aber den zweiten Aryknorpel oder reseziert zusätzlich einen Teil des Zungengrundes, kann dies zu dauerhafter Aspiration führen. Prof. Hess betont in diesem Zusammenhang, dass bei allen Therapieentscheidungen immer die klare Hierarchie der Funktionalitäten im Vordergrund stehen sollte; 1. Atmen, 2. Schlucken und (erst dann) 3. Sprechen. Zwar wird das Tracheostoma von vielen Patienten prätherapeutisch als großes Hemmnis empfunden, doch stellt es sich oft im späteren Verlauf als vergleichsweise weniger belastend heraus. Nicht immer werden diese Notwendigkeiten im Rahmen der Indikationsstellung klar priorisiert.

Wenn ein Tumor nicht mehr transoral oder von außen organerhaltend reseziert werden kann, rückt die Laryngektomie bzw. Laryngopharyngektomie in den Fokus der Therapieentscheidung. Alternativ steht heute der Larynxorganerhalt durch multimodale Therapiestrategien zur Verfügung, wodurch heute bei richtiger Indikation ca. 60 % der befallenen Kehlköpfe funktionell erhalten werden können. Prof. Flentje führt aus, dass bislang drei deutsche Studien (insbesondere das kürzlich abgeschlossene Phase-II-Induktions-Protokoll der Deutschen Larynxorganerhaltungs-Studiengruppe, DeLOS, bei dem 12 deutsche Kliniken teilnahmen) auf den Weg gebracht wurden. DeLOS konnte vergleichbar gute Ergebnisse zu den aktuell von Frau Forastiere, RTOG, vorgelegten amerikanischen Daten zeigen.

Hat der Tumor aber auch diesen Indikationsbereich überschritten, was schnell nach Durchwachsen des Kehlkopfskeletts, Eindringen in den oberen Ösophagusmund oder Mehretagenbefall erreicht ist, stellt sich die Frage der Radikalchirurgie oder multimodalen Radiochemotherapie. Bei ausgedehnten Laryngopharyngektomien haben sich als Pharynxersatz sowohl der gestielte myocutane Pectoralis-major-Lappen als auch mikrovaskulär anastomosierte, freie Lappen wie Unterarm, Jejunum etc. im Standardrepertoire einer HNO-Klinik mit modernem onkologischen Leistungsspektrum bewährt. Für weit fortgeschrittene Larynx-Hypopharynx-Karzinome steht bemerkenswerterweise ein altes, von vielen Operateuren verlassenes Verfahren (zu hohe Mortalität), aufgrund verbesserter Operationstechniken wieder hoch im Kurs. Prof. Schilling führte aus, dass eine Laryngopharyngoösophagektomie (also konsequente Resektion des Ösophagus) mit konsekutivem Magenhochzug in der Hand eines eingespielten interdisziplinären Teams heute mit beachtlich guten Ergebnissen durchführbar ist. Prof. Schilling konnte in einer Serie von 28 Patienten mit T4a-Hypopharynxkarzinomen mit Ösophagusmundbeteiligung nach Laryngopharyngoösophagektomie mit konsekutivem Magenhochzug ein 5-Jahresüberleben von 60 % und operationsbedingter Mortalität von 0 % nachweisen (Schilling et al. 2002). Zwar gestand er ein, dass die beeindruckend niedrige operationsbedingte Mortalität nach Magenhochzug bei vorbestrahlten Patienten nur schwer einzuhalten sei, doch überzeugten (bzw. machten neugierig) die ungewöhnlich guten Ergebnisse. Die von ihm entwickelte neue Magenhochzugstechnik beinhaltet eine Magenfundusrotationsplastik, bei der der Magenfundus geteilt und zu einem verlängerten Rohr umgenäht wird. Hierdurch gelingt es, ein gut vaskularisiertes Transponat spannungsfrei in den Pharynx zu ziehen. Trotz radikalster Chirurgie war die überwiegende Mehrzahl der Patienten relativ zufrieden. Aus Sicht des Autors sprechen viele molekulargenetische Untersuchungen an Hypopharynx und Ösophagus für eine phylogenetische Einheit dieser Organe, die sich auch in der Manifestation von „Second field”-Tumoren, also der Feldkanzerisierung und damit synchroner bzw. metachroner Zweittumorentstehung niederschlägt. Die kombinierte Entfernung von Hypopharynx und Ösophagus macht also aus diesem Grunde möglicherweise Sinn.

Schließlich steht heute fest, dass bei nicht sinnvoll resektablen Tumoren des Larynx- und Hypopharynx die simultane Radiochemotherapie die Therapie der Wahl darstellt. Hierbei haben in den letzten Jahren publizierte Studien signifikante Überlebensvorteile bei simultaner Anwendung von Cisplatin, Carboplatin, 5-FU und Mitomycin gezeigt, wie Prof. Flentje ausführte. Der Begriff der Resektabilität ist dennoch nicht zu verallgemeinern, da neben rein technischen Aspekten die Konstitution, die somatische und psychogene Komorbidität und der Wunsch des Patienten mit einbezogen werden müssen.

Prof. Eckel betonte übereinstimmend mit den übrigen Referenten, dass Lebensqualität auch etwas mit Tumorfreiheit zu tun hat, wobei die Notwendigkeit des Organerhalts in diesem Kontext oft überschätzt wird. Auch radikalchirurgische Maßnahmen mit irreversiblem Organverlust können eine erheblich leichter zu handhabende Situation bewirken, da vollendete Tatsachen geschaffen werden. Prof. Schwarz betonte, dass der ultimative Verlust des Kehlkopfes und damit verbundene Zwang der Bewältigung der neuen Lebenssituation für viele Patienten leichter zu ertragen ist als die ständige Angst vor Organverlust nach beispielsweise multimodalen Therapieoptionen. Die Priorisierung der Funktionalitäten Atmen und Schlucken sollte immer im Vordergrund der Therapieentscheidung stehen und vor allem bei organerhaltenden chirurgischen Optionen streng abgewogen werden. Nach Untersuchungen von Prof. Schwarz und Prof. Hess schneiden Patienten nach Laryngektomie in lebensqualitätsbezogenen Follow-up-Beobachtungen aufgrund der gesicherten Atem- und Schluckfunktion überraschend gut ab. Diese Aussage steht aber nicht im Widerspruch zu der Notwendigkeit, organerhaltende Therapieansätze im Rahmen jeder Therapieentscheidung zu prüfen.

Dennoch müssen in der gemeinsamen Planung eines Therapiekonzeptes immer Fragen der Komorbidität, Zumutbarkeit und zu erzielenden Überlebensvorteile streng abgewogen werden. Oft ist eine radikalchirurgische Maßnahme aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll, so dass kurative Ansätze zugunsten palliativer Betrachtungen weichen sollten. Nirgends gilt der Grundsatz „nil nocere” mehr als gerade in der Therapieentscheidung fortgeschrittener Larynx-Hypopharynxkarzinome, sollte aber nicht mit falscher Zurückhaltung verwechselt werden.

Nicht zuletzt wegen der geringen Fallzahlen ist es aus Sicht aller Teilnehmer des Rundtischgesprächs dringend geboten, Patienten mit diesen Erkrankungen an spezialisierten Zentren zu behandeln, in denen im Rahmen von interdisziplinären Tumorboards eine Kopf-Hals-Onkologie gelebt wird und aufgrund der vielen offenen Fragen eine aktive wissenschaftliche Begleitung stattfinden kann. Leider werden Patienten viel zu oft in Expertenstreitigkeiten eingebunden, die bei Einholung von Zweitmeinungen oft zutage treten. Auch hier können multidisziplinäre Tumorboards wertvolle Dienste leisten und schließlich den „besseren” Weg aus der Vielzahl von Einflussgrößen definieren.

Literatur

  • 1 Schilling M K, Eichenberger M, Maurer C A, Greiner R, Zbaren P, Buchler M W. Longterm survival of patients with stage IV hypopharyngeal cancer: impact of fundus rotation gastroplasty.  World J Surg. 2002;  26 561-565

Prof. Dr. Andreas Dietz

Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Plastische Operationen, Universität Leipzig

eMail: andreas.dietz@medizin.uni-leipzig.de