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DOI: 10.1055/s-2005-867034
Vom Objekt zum Subjekt: Compliance wird Concordance und Paternalismus zu Partizipation
Turning Objects into Subjects: Compliance becomes Concordance and Paternalism ParticipationPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
01. September 2005 (online)
Oft nähern sich Revolutionen auf Umwegen, oft wird das umwälzend Neue erst langsam bemerkbar. Unter Begriffen wie „Shared-Decision-Making” (SDM) und „Partizipative Entscheidungsfindung” (PEF) entwickeln sich in den letzten Jahren in vehementer Weise Konzepte einer „partnerschaftlichen” Zusammenarbeit von Arzt und Patient. Handelt es sich hierbei vordergründig um zunehmende „Kundenorientierung” medizinökonomischer Provenienz, so scheint weit darüber hinaus eine revolutionäre Neudefinition der Rollen von Arzt und Patient möglich - manche Autoren sprechen gar von einem Paradigmenwechsel.
Durch politische Vorgaben und Vorstöße wie etwa die Beteiligung von Patientenorganisationen im Gemeinsamen Bundesausschuss, das zunehmende Selbstbewusstsein immer besser informierter Patienten und ihrer Vertreter und das wachsende Interesse der Ärzteschaft konnte auch in Deutschland ein Feld bereitet werden für international beachtete Forschung unter der gerade verlängerten Förderung eines Modellprojektes des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) „Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess” (www.patient-als-partner.de). Nicht umsonst wird die vierte „International Shared Decision Making Conference”, deren dritte kürzlich in Ottawa/Kanada stattfand, im Mai 2006 in Freiburg i. Br. ausgerichtet.
Shared-Decision-Making stellt sich als Konzept dar, wie im therapeutischen Prozess eine Entscheidung von Patient und Arzt nach gegenseitigem Informationsaustausch gemeinsam getroffen und verantwortet werden kann. Hierbei wird das Konzept deutlich abgegrenzt vom paternalistischen Modell (Arzt verfügt über Information und Entscheidungsbefugnis), vom informed-choice-Modell (Patient wird informiert und entscheidet allein verantwortlich) und vom Konsumentenmodell (Arzt verfügt über Information, Patient entscheidet). Von der breiten Anwendung verspricht man sich höhere Zufriedenheit bei Patient und Arzt sowie eine Verbesserung der Therapie-Compliance. Letzteres scheint für die Popularität des neuen Modells entscheidend zu sein. Die Frage, wie im medizinischen Prozess Entscheidungen getroffen werden sollen, trifft die evidence-based medicine am Punkt ihrer Ratlosigkeit darüber, dass Patienten und Ärzte sich trotz höchster „Evidenz” medizinischer Maßnahmen „incompliant” verhalten, Präventionsregeln und Leitlinien schlicht nicht umgesetzt werden.
Die Compliance-Forschung selbst hat seit ihrem Beginn in den 70er-Jahren neben der Entwicklung zahlreicher Strategien zur „Compliance-Verbesserung” mit nicht selten manipulativer Grundhaltung einen grundlegenden Wandel in der Definition der Arzt-Patient-Beziehung von einem paternalistischen zu einem kooperativen Modell mit dem Leitbegriff der „Concordance” vollzogen, das durchaus anschlussfähig an das SDM-Konzept erscheint. Diese Entwicklung wurde befördert von der britischen Royal Pharmaceutical Society und nicht primär von psychosozialen Fächern. Anders die Lebensqualitätsforschung, die ausgesprochen dazu beitrug, dass heute der vom Patienten „subjektiv” erlebte Therapieerfolg (outcome) neben biomedizinischen Parametern in prominenter Position als Maß der Therapiequalität etabliert ist.
Ist mit Shared-Decision-Making ein Kernanliegen der psychosozialen Fächer - die Wiedereinführung des entscheidungsbefugten Subjektes in die Medizin - in den somatischen Fächern angekommen und gelungen? Ob das Konzept tatsächlich ein in diesem Sinne „revolutionäres” Potenzial entfalten kann, wird sich an mehreren Stellen entscheiden. Zum einen: Sind Patienten (außerhalb von Modellprojekten) angesichts des immer komplexer werdenden Medizinsystems überhaupt willens, sich auf einen gemeinsamen Entscheidungsprozess einzulassen? Zum anderen: Werden Ärzte in ihrer professionellen Sozialisation ertragen können, „Non-Compliance” bzw. Ablehnung einer Therapiemöglichkeit durch den Patienten als ernst zu nehmende Entscheidung zu begreifen? Denn Partizipation braucht die grundsätzliche Offenheit des Arztes bzw. Therapeuten der Patientenentscheidung gegenüber. Diese Position wird unmöglich, wenn der Arzt/Therapeut als unmündiger Anwalt rein statistisch verantworteter Leitlinien und Therapierichtlinien - wie sie auch in den psychosozialen Fächern immer mehr Verbreitung finden - fungieren muss [1]. In besonderem Maße wird von Bedeutung sein, ob neben der Weiterentwicklung des konzeptuellen Rahmens der Entscheidungsfindung eine Weiterentwicklung ärztlicher und psychotherapeutischer Fähigkeiten angestoßen werden kann. Ziel der Shared-Decision-Making-Bewegung muss nicht nur der entscheidungsfähige und entscheidungsbefugte Patient, sondern auch der beziehungsfähige und fachlich kompetente Arzt/Therapeut sein. Und da lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie viel „Subjekt” ist im Einzelnen wirklich in der geteilten Entscheidung, vor allem: Wie viel reale Arzt-Patient-Interaktion vor der Entscheidung?
Das Erläutern von flow-sheets über mögliche Therapieverfahren, das Vorlegen von decision-aids, das Auswerten von Fragebögen zu Präferenzen des Patienten - das alles ist ein „Informationsaustausch”, aber noch keine Begegnung, die eine individuelle Entscheidungsfindung ermöglicht. Zum Teilen der Entscheidung gehört das vorgängige Bemühen, die Wirklichkeit des betroffenen Anderen, des Patienten, zu teilen. Erst wenn Ärzte und Therapeuten zuhören, entsteht ein Teil-Haben, das Ausgangspunkt einer „geteilten Entscheidung” sein kann.
Doch professionelles Zuhören und akzeptierendes Teilhaben an der persönlichen Lebens- und Krankheitsgeschichte eines Patienten muss gelernt, geübt und reflektiert werden. Scheibler und Pfaff betonen als Herausgeber des Materialien-Bandes „Shared Decision Making - Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess”, dass die Etablierung symmetrischer Interaktionsprozesse zwischen Arzt und Patient eine „alte Domäne” der Psychosomatik und Medizinischen Psychologie seien [2]. Die psychosozialen Fächer fungieren seit langem als Schrittmacher und Vorreiter bei der Implementierung von Unterrichtsangeboten zum Erwerb kommunikativer und interaktioneller Fertigkeiten und deren realitätsnahe Überprüfung [3] [4]. Soll Shared-Decision-Making das ihm innewohnende Potenzial zugunsten einer individualisierten Arzt-Patient-Interaktion entfalten, so werden die psychosozialen Fächer durch Unterrichtsangebote während des Medizinstudiums, der Facharztweiterbildung und für niedergelassene Ärzte wie Kommunikations- und Interaktionstrainings, Kurse zur psychosomatischen Grundkompetenz und Balintgruppen eine wichtige Rolle spielen müssen. Wenn es hierdurch der breiten medizinischen Öffentlichkeit gelänge, die Qualität der Therapeut-Patient-Beziehung statt als Plazebo als ein wirksames Agens in jedweder Therapie zu begreifen [5], dann wären wir tatsächlich Zeugen einer medizinischen Revolution, wie sie unbedingt zu wünschen ist.
Literatur
- 1 Wichert P von. Evidenzbasierte Medizin (EbM) - Begriff entideologisieren. Dtsch Ärztebl. 2005; 102 (22) A 1569-A 1570
- 2 Scheibler F, Pfaff H H. Shared Decision-Making. Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess. Weinheim; Juventa 2003
- 3 Nikendei C, Zipfel S, Roth C. et al . Kommunikations- und Interaktionstraining im Psychosomatischen Praktikum: Einsatz von standardisierten Patienten. Psychother Psych Med. 2003; 53 (11) 440-445
- 4 Schrauth M, Riessen R, Schmidt-Degenhard T. et al . Praktische Prüfungen sind machbar. Z Med Ausbild. 2005; 22 (2) 50-52
- 5 Klosterhalfen S, Enck P. Plazebos in Klinik und Forschung: Experimentelle Befunde und theoretische Konzepte. Psychother Psych Med. 2005; 55 (9) 433-441
Prof. Dr. med. Stephan ZipfelÄrztl. Direktor
Abteilung Innere Medizin VI · Psychosomatische Medizin und Psychotherapie · Medizinische Universitätsklinik Tübingen
Silcherstraße 5
72076 Tübingen
eMail: Stephan.Zipfel@med.uni-tuebingen.de