Psychiatr Prax 2005; 32(6): 267-268
DOI: 10.1055/s-2005-866971
Editorial
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Frührehabilitation chronisch psychisch Kranker während der Akutbehandlung

Urteil des Bundessozialgerichtes stärkt sozialpsychiatrisches HandelnEarly Rehabilitation for Chronic Mentally Ill During Inpatient StayCourt Decision Strengthens Social-Psychiatric Treatment ApproachWolfgang  Weig1
  • 1Niedersächsisches Landeskrankenhaus Osnabrück
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Publication Date:
10 August 2005 (online)

In kaum einem medizinischen Fachgebiet sind die Grenzen zwischen rehabilitativer Versorgung und kurativer Therapie so fließend wie in der Psychiatrie, denn die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung enthält notwendigerweise auch rehabilitative Elemente. Eine Abgrenzung zwischen Rehabilitation und Behandlung anhand der angewendeten Methoden, wie in der somatischen Medizin, ist somit bei der Versorgung psychischer Erkrankungen nicht möglich [1]. Deshalb gibt es, wenn es um die medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation chronisch psychisch Kranker geht, seit Jahren Streitigkeiten darüber, wer für die Finanzierung der entsprechenden Leistungen zuständig ist.

Obwohl in § 39 des SGB V festgelegt ist, dass akutstationäre Behandlungen im Einzelfall auch die zum frühestmöglichen Zeitpunkt einsetzenden Leistungen zur Frührehabilitation umfassen können, versuchen die Krankenversicherungen teilweise diese gesetzliche Regelung auszuhöhlen und Maßnahmen der Frührehabilitation aus der von ihnen finanziell getragenen Krankenbehandlung auszuklammern. Unter Verweis auf den primär rehabilitativen Charakter vieler sozialpsychiatrisch orientierter Therapieansätze und mit Bezug auf vermeintlich preisgünstigere komplementäre Versorgungsangebote gelingt es dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen meist, die Dauer stationärer Behandlungen eng zu begrenzen. In Fällen, wo chronisch psychisch Kranke trotzdem längerfristig stationär behandelt wurden, waren psychiatrische Krankenhäuser und Abteilungen bislang häufig gezwungen, mit den Krankenkassen um die Kostenübernahme für die Behandlung zu streiten. Anfang 2005 jedoch hat das Bundessozialgericht eine Entscheidung getroffen, die für die rechtliche Begründung und damit auch für die Finanzierung einer sozialpsychiatrisch orientierten stationären Behandlung bahnberechend sein dürfte.

Mit seinem Urteil vom 16.2.2005 [2] hat der 1. Senat des Bundessozialgerichtes einen Rechtsstreit entschieden, der sich auf eine Behandlungsepisode in den Jahren 1992 bis 1994 bezog. Die richterliche Entscheidung ist insofern bemerkenswert, als sie den Rechtsgrundsatz, den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker sei bei der Krankenbehandlung Rechnung zu tragen (§ 27, Abs. 1, Satz 3, SGB V), betont und ausfüllt, die besonderen Mittel des psychiatrischen Krankenhauses definiert und Hinweise zur Abgrenzung der Behandlung von Rehabilitation und flankierenden Hilfen gibt. Die Bedeutung des Urteils wird dadurch unterstrichen, dass die Entscheidung vom 1. Senat unter Vorsitz des Präsidenten des Bundessozialgerichtes getroffen und in der Begründung ausdrücklich als „über den Einzelfall der Klägerin hinausgehend” deklariert wurde.

Dem Verfahren zugrunde lag der Fall einer 1946 geborenen, gesetzlich krankenversicherten Frau, bei der eine Schizophrenie diagnostiziert wurde und die deshalb in den Jahren 1978 bis 1994 wiederholt, teilweise für längere Zeit, in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus stationär behandelt werden musste. Der letzte Aufenthalt, der 1992 begann und 1994 endete, dauerte fast 21 Monate, wobei die Behandlung in den letzten 4 Monaten in einer Tagesklinik erfolgte. Der Therapie lag ein sozialpsychiatrisch orientiertes, mehrdimensionales Konzept zugrunde, das neben angepasster Medikation und Verhaltenstherapie auch sozialtherapeutische und rehabilitative Elemente beinhaltete. Behandlungsziel war die langfristige Stabilisierung des Zustands der Patientin und die Bewältigung ihrer Erkrankung. Dieses Ziel wurde im Zuge der stationären Therapie auch erreicht. Die langfristige und kontinuierliche Verbesserung des Krankheitsbildes der Patientin hielt auch nach der Entlassung an. Exazerbationen mit der Notwendigkeit stationärer Intervention traten deutlich seltener auf und stationäre Behandlungen waren, wenn sie erforderlich wurden, kürzer als im bisherigen Krankheitsverlauf.

Trotz des Therapieerfolgs bestritten der Medizinische Dienst der Krankenversicherung und ihm folgend auch die zuständige Krankenkasse ab November 1993 die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung und verweigerten die Kostenübernahme. Sie begründeten ihre ablehnende Haltung damit, dass die Behandlung vorwiegend psychotherapeutisch-rehabilitativen Charakter gehabt habe und daher eine Rehabilitationsmaßnahme sei, für die die Krankenkasse als Kostenträger nicht zuständig wäre. Sie argumentierten weiter, dass das komplexe Therapieprogramm auch in einem geschützten Wohnbereich durchführbar gewesen sei. Die Patientin, unterstützt von ihrer Betreuerin und vertreten durch einen erfahrenen und politisch engagierten Anwalt, ging gegen diese Entscheidung der Krankenkasse gerichtlich vor. Während sie vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht unterlag, gab das Bundessozialgericht der Klage statt. Die endgültige Regelung der Kostenübernahme wird allerdings erst vom Landessozialgericht festgelegt werden, an das der Fall aus formalen Gründen zurückverwiesen wurde.

Folgende Feststellungen in der Urteilsbegründung sind trotzdem schon jetzt über den Einzelfall hinaus für jede sozialpsychiatrisch orientierte stationäre Behandlung von Bedeutung:

Die im Rahmen einer Krankenhausbehandlung erbrachten Leistungen müssen in ihrer Qualität und ihrer Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Die Notwendigkeit einer Krankenhausbehandlung ergibt sich dann, wenn die Behandlung primär dazu dient, die Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern und wenn bezogen auf eines dieser Behandlungsziele die besonderen Mittel des Krankenhauses erforderlich sind. Anders als in somatischen Fächern, tritt bei der psychiatrischen Behandlung der Einsatz krankhausspezifischer technischer Geräte in den Hintergrund. Dagegen kann die Notwendigkeit einer stationären Behandlung durch den erforderlichen Einsatz von Ärzten, „therapeutischen Hilfskräften” und Pflegepersonal begründet werden. Falls eine ambulante Therapie als Alternative infrage kommt, genügen rein theoretisch vorstellbare Konstellationen nicht, vielmehr muss eine tatsächlich in Betracht kommende ambulante Behandlungsmöglichkeit nachgewiesen werden, um den Anspruch auf eine Krankenhausbehandlung zu entkräften. Die Kostenübernahme für eine stationäre Therapie darf von den Krankenkassen nicht mit der Begründung verneint werden, es handle sich um bloße „psychotherapeutisch-rehabilitative” Maßnahmen, die per se keine Krankenhausbehandlung sein können.

In seinem Urteil hebt des Bundessozialgericht wiederholt und explizit das „Zusammenwirken eines fachärztlich geleiteten multiprofessionellen Teams aus Psychologen, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten und Bewegungstherapeuten sowie psychiatrischem Krankenpflegepersonal” als Wesensmerkmal einer stationären psychiatrischen Behandlung hervor.

Als Grundlage für die mögliche und erforderliche Therapie wird die Behandlungsleitlinie Schizophrenie der DGPPN ausdrücklich anerkannt. Neben biologischen Behandlungsverfahren sieht das Bundessozialgericht somit auch in der Psychotherapie, insbesondere in Interventionen zur Verbesserung der Krankheitseinsicht und -bewältigung, sowie in sozialtherapeutischen Verfahren (Milieugestaltung, lebenspraktisches Alltagstraining, Ergotherapie) notwendige Behandlungsbestandteile. Dabei hänge die Auswahl stationärer, teilstationärer, ambulanter oder komplementärer Behandlungsformen nach Auffassung des Bundessozialgerichts von der Krankheitsphase und dem Verlauf der Erkrankung ab. Für eine kleinere Gruppe chronisch Kranker sei eine stationäre Langzeitbehandlung nicht zu vermeiden und daher im Einzelfall auch über Jahre durch die Krankenversicherung zu finanzieren.

Die Notwendigkeit einer stationären Behandlung könne nicht unter Hinweis auf einen im Vordergrund stehenden rehabilitativen Charakter des Therapieprogramms verneint werden, da schon die Psychiatrie-Personalverordnung, die ausdrücklich als rechtliche Grundlage der Entscheidung benannt wird, zum Ausdruck bringe, dass eine entsprechend komplexe Behandlung auch im stationären Bereich erforderlich sein könne.

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts setzt die bisherige krankenhausfreundliche Rechtsprechung fort [3] und stärkt die Verhandlungspositionen psychiatrischer Krankenhäuser und Abteilungen gegenüber den Krankenkassen. Das Urteil ist eine gute Argumentationshilfe, um die von interessierter Seite aktuell gesteigerten Versuche abzuwehren, notwendige stationäre Behandlungen unter Hinweis auf vermeintlich preisgünstigere rehabilitative oder komplementäre Versorgungsangebote zu verkürzen. Nicht zuletzt stärkt die Entscheidung des Bundessozialgerichts aber auch die Rechte chronisch psychisch Kranker auf eine angemessene Behandlung und verbessert die Möglichkeiten für die sozialpsychiatrische Arbeit im Krankenhaus.

Literatur

Prof. Dr. med. Wolfgang Weig

Niedersächsisches Landeskrankenhaus Osnabrück

Knollstraße 31

49088 Osnabrück

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