Zentralbl Gynakol 2005; 127 - 30
DOI: 10.1055/s-2005-862486

Kohärenzgefühl vor und nach der Geburt. Veränderung und Einfluss bei Frauen mit stationär behandelter vorzeitiger Wehentätigkeit

S Röhl 1, B Schücking 1
  • 1Universität Osnabrück, FB 08/Gesundheitswissenschaften, Forschungsschwerpunkt: Maternal Health, Osnabrück

Einleitung: Das Kohärenzgefühl (sense of coherence (SOC)) entspricht einer globalen Lebensorientierung mit den Komponenten Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit. Der SOC kann als Gesundheitspotential auf mentaler Ebene verstanden werden, welches Menschen befähigt soziale, materielle und psychische Ressourcen wahrzunehmen sowie das Zutrauen zu haben, anstehende Situationen zu meistern. Nach Antonovsky ist die Höhe des Kohärenzgefühls durch gravierende Lebensereignisse veränderbar. Da Schwangerschaft und Geburt zu einschneidenden Veränderungen im Leben einer Frau gehören, soll die vorliegende Untersuchung darüber Aufschluss geben, ob und wenn ja in welcher Richtung das Kohärenzgefühl durch die Geburt verändert wird. Nach den theoretischen Komponenten des SOC-Fragebogens ist eine Erhöhung des Kohärenzgefühls anzunehmen. Durch die Geburt eines Kindes ist insbesondere bei der Komponente Sinnhaftigkeit eine Zunahme zu erwarten.

Methode: 200 Schwangere (vorwiegend Erstgebärende) in stationärer Therapie aufgrund vorzeitiger Wehentätigkeit wurden in 13 Kliniken in 11 Städten (Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg) in die Studie einbezogen. Zum ersten Erhebungszeitpunkt (t1) erfolgte die Befragung mittels Fragebogen während der stationären Behandlung. Die Zweitbefragung wurde ausgehend vom ET±12 Wochen nach der Geburt überwiegend als Telefoninterview durchgeführt. Zu beiden Erhebungszeitpunkten kam für die Erfassung des Kohärenzgefühls die normierte deutsche Kurzform des SOC (9 Items), die Leipziger Kurzskala, zum Einsatz. Daneben waren soziodemographische, geburtsbezogene, gesundheitliche sowie klinische Angaben Bestandteil der Erhebung.

Ergebnisse: Die SOC-Mittelwerte zu beiden Erhebungszeitpunkten unterscheiden sich höchst signifikant voneinander (p=0,000). Zu t1 beträgt der Wert für die Gesamtstichprobe 48,4 gegenüber 50,8 zu t2. Demnach steigt das Kohärenzgefühl nach der Geburt deutlich an. Für die Höhe des SOC erweisen sich Faktoren wie Alter, Einkommen und Schulbildung als nicht signifikant. Die SOC-Mittelwerte unterscheiden sich unter Berücksichtigung des Geburtsmodus ebenfalls nicht signifikant. Bei einer Unterteilung der Stichprobe in Frauen mit und ohne Frühgeburt zeigt sich, dass bei Frauen mit Frühgeburt der SOC zu t1 signifikant niedriger ist als bei Frauen mit späterer Termingeburt. Bei Frauen mit Frühgeburt beträgt der Ausgangswert 46,3 und steigt auf 48,9 (p=0,037); bei Frauen mit Termingeburt liegt der Wert zu t1 bei 49,6 und steigt nach der Geburt auf 51,7 (p=0,043). Die vorliegenden Ergebnisse repräsentieren ca. 80% der zu erwartenden Gesamtstichprobe.

Schlussfolgerung: Der Theorie des salutogenetischen Modells von Antonovsky folgend, erhöht die Geburt eines Kindes die Ausprägung des Kohärenzgefühls höchst signifikant. Zu vermuten ist, dass die Zunahme vor allem auf der theoretischen Komponente „Sinnhaftigkeit“ beruht. Da das Kohärenzgefühl als Gesundheitspotential im Sinne einer Bewältigungsressource zu verstehen ist, kann von grundsätzlich positiven Effekten durch die Geburt ausgegangen werden. In welchem Verhältnis die „neu“ gewonnenen Ressourcen zu den Anforderungen in diesem neuen Lebensabschnitt stehen, könnte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Festzuhalten bleibt, dass die hier befragten Frauen insgesamt im kohärenten Sinne von der Geburt ihres Kindes profitieren, da damit eine Steigerung des Gesundheitspotentials einhergeht. Wenngleich die letztlich erreichte Steigerung vom Ausgangsniveau abhängig ist und damit Unterschiede bzw. Benachteiligungen auch nach der Geburt bestehen bleiben.