Zentralbl Gynakol 2005; 127 - 19
DOI: 10.1055/s-2005-862475

Psychogene Fertilitätsstörungen – Mythen und Fakten

T Wischmann 1
  • 1Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg, Institut für Medizinische Psychologie, Heidelberg

Einleitung: Während in der angloamerikanischen Forschung das Konzept der „psychogenen Sterilität“ (=ausschließlich oder überwiegend psychisch unbewusst verursachte Fertilitätsstörung) seit über einem Jahrzehnt weitestgehend an Bedeutung verloren hat, bewahrt es im deutschsprachigen Raum auch in Fachpublikationen weiterhin eine prominente Position. Ziel dieses Reviews ist eine kritische Diskussion dieses Konzeptes auf dem Hintergrund der erweiterten diagnostischen Möglichkeiten in der Reproduktionsmedizin und aufgrund der Ergebnisse aktueller systematischer Studien gegenüber älteren deskriptiven Einzelfalldarstellungen.

Methode: Anhand eines Literaturüberblickes wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Bedeutung psychosozialer Faktoren bei der Genese von Fertilitätsstörungen gegeben, vorhandene Studien hierzu werden kritisch evaluiert.

Ergebnisse: Die Prävalenz psychogener Infertilität wird häufig noch deutlich überschätzt. Die in der Literatur zu findenden Prozentangaben von 10–15% dürften kaum valide sein, da sie auf einer einzigen „personal communication“ basieren. Das klassische Modell der „psychogenen Sterilität“ erscheint weitestgehend überholt. Es gibt definitiv keinerlei wissenschaftliche Belege für einen „fixierten“ Kinderwunsch oder für ein spezifisches Paarbeziehungsmuster beim infertilen Paar, welche eine Fertilitätsstörung mit verursachen könnten. Systematische Untersuchungen können einen potenziellen Zusammenhang zwischen Adoption bzw. Aufgabe des Kinderwunsches und nachfolgender Schwangerschaft nicht nachweisen. Der Einfluss von psychischem Stress auf Fertilitätsstörungen ist weiterhin noch völlig ungeklärt. Auch im viel versprechenden Forschungsgebiet der Psychoneuroimmunologie liegen noch keine überzeugenden systematischen Studien an größeren Fallzahlen vor, welche die Verursachung einer Fertilitätsstörung beim Menschen allein durch Stress belegen könnten.

Schlussfolgerung: Eine ausschließlich psychologische bzw. psychodynamische Betrachtungsweise ist der Komplexität von Fertilitätsstörungen ebenso wenig angemessen wie eine rein organmedizinische Sicht. Psychogene Infertilität ist in den allermeisten Fällen eher den Mythen als den Fakten zuzuordnen. Die Gleichsetzung von idiopathischer Infertilität mit psychogener Infertilität ist nicht nur unzulässig, sondern sogar kontraproduktiv, da sie bei den betroffenen Paaren sowohl Schuld- und Schamgefühle hervorrufen als auch ihre Vulnerabilität für aus wissenschaftlicher Sicht fragwürdige Behandlungsmethoden erhöhen kann. Mehr prospektiv durchgeführte, systematische und kontrollierte sowie methodologisch angemessene Studien zu den Effekten von psychischem Stress auf die Fruchtbarkeit bei Frauen und Männern sind weiterhin dringend erforderlich.