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DOI: 10.1055/s-2005-861452
Intensivmedizin als ethische Herausforderung
Intensive Care Medicine - an Ethical ChallengePublication History
Publication Date:
03 April 2006 (online)
Mit dem vorliegenden Heft beginnt eine Serie von drei Fort- und Weiterbildungsbeiträgen der Arbeitsgruppe von P. Schmucker et al., die sich detailliert mit Entscheidungen am Lebensende im Rahmen der Intensivmedizin auseinandersetzen. Dem ersten Beitrag „Grundlagen einer praxisbezogenen Medizinethik” werden die Teile „Medizinisch-objektive Grundlagen der Behandlungsbegrenzung” und „Die Bedeutung des Willens des Patienten und die ärztliche Moderation der Entscheidungsfindung” folgen.
Die Autoren dieses Editorials sind sich der hohen Brisanz dieses Fragenkomplexes bewusst, der durch aktuelle Vorgänge in den USA (Einstellung der Ernährung einer Patientin mit apallischem Syndrom), die Bemühungen des deutschen Gesetzgebers um eine stärkere juristische Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und nicht zuletzt die in den Niederlanden und in Belgien legalisierte aktive Sterbehilfe unterstrichen wird. Hier soll der Versuch gemacht werden, das allgemeine Ziel unserer intensivmedizinischen Bemühungen und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen schlaglichtartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu beleuchten.
Das Ziel der Intensivmedizin ist das selbstbewusste und möglichst auch selbstbestimmte Leben des Patienten.
Intensivmedizinische Hilfe ist meist zeitlich begrenzt und als Herausführen aus einer schweren gesundheitlichen Krise zu verstehen - sei es nach einem Unfall, nach einer schweren Operation, einer lebensbedrohlichen internistischen Erkrankung oder bei Verschlechterung einer chronischen Erkrankung. Der Intensivmedizin kommt damit eine Brückenfunktion zu, denn das Bewusstsein und möglichst auch die Selbstbestimmung sollen wieder erlangt werden, müssen demnach zuvor vorhanden gewesen sein. Dieser Ansatz ist durchaus idealtypisch und auch diskussionswürdig - Abweichungen von dieser Linie sind nicht selten und nicht immer vermeidbar. So werden durchaus Eingriffe bei nicht mehr zur Person orientierten Patienten vorgenommen, etwa bei einem Ileus. Darüber hinaus liegen Weg und Ziel häufig im Nebel, wenn akut eingegriffen werden muss und nicht alle Lebensumstände des Patienten bekannt sind oder eruiert werden können. Nur zu oft wird erst nach vielen Mühen klar, dass das Ziel verfehlt wurde und ein Patient zwar lebt, aber das Bewusstsein mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wieder erlangen wird. Uns dieses Leid vom Halse zu schaffen, steht uns nicht zu. Die Geschichte sollte uns gelehrt haben, dass die Gesellschaft verpflichtet ist, auch Leid zu ertragen. Leichte Antworten auf die Fragen nach dem - individuellen und gesellschaftlichen - Nutzen der Intensivtherapie gibt es nicht.
„Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltene Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Bei seiner Entscheidungsfindung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen. Aktive Sterbehilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wenn sie auf Verlangen des Patienten geschieht.” Damit hat die Bundesärztekammer [1] nach über 40 Jahren die grundlegenden Gedanken von Papst Pius XII. in seiner Antwort auf Fragen von B. Haid aufgenommen [2], auf die noch zurückzukommen ist. Die Ausführungen der Bundesärztekammer lassen jedoch einige Fragen offen. Warum „soll” der Arzt einen Konsens suchen, „muss” er es nicht - und wie steht es mit der Beteiligung der Angehörigen? Diese in die Entscheidungen - bei nicht mehr zustimmungsfähigen Patienten - einzubeziehen ist tägliche Praxis in zahlreichen Krankenhäusern, auch wenn dies mit einigen rechtlichen und vielen psychologischen Fragen behaftet ist.
In vielen Kliniken hat sich ein Ablauf herausgebildet, der alle Beteiligten einbindet und jedem sein Recht werden lässt. In dem für die Intensivstation verantwortlichen Arzt - und das ist oft der Anästhesist - reift die Erkenntnis, dass in einem konkreten Fall keine Hoffnung mehr besteht, das oben gesetzte Ziel zu erreichen. In der Regel sind die Pflegekräfte, die ja unvergleichlich mehr Zeit mit dem Patienten verbringen, schon zuvor zu dieser Einsicht gelangt. In der operativen Intensivmedizin ist nun der Konsens mit dem Operateur erforderlich, der bei der gemeinsamen Visite und in einem kollegialen Gespräch im eher kleinen Rahmen gesucht wird. Hier verbietet sich jeder Zeitdruck; jeder Beteiligte muss für sich zu einem Entschluss kommen. Es darf nicht verwundern, dass das Eingeständnis erfolglosen Bemühens dem Operateur schwerer fällt als dem Anästhesisten - er sieht sich nun einmal unmittelbarer involviert und hat in der Regel auch die Indikation zu einem Eingriff gestellt. Ist dieser Konsens erreicht, folgt das Gespräch mit den Angehörigen. Diesen muss die ganze Hoffnungslosigkeit vermittelt werden, ohne ihnen jedoch die Entscheidung über die Begrenzung oder Einstellung der Therapie aufzubürden. Nicht zuletzt ist dafür zu sorgen, dass die Angehörigen in einem würdigen Rahmen, ohne Zeitdruck und - auf Wunsch - mit Beistand eines Geistlichen Abschied nehmen können. Ob der Patient auf der Intensiv- oder Normalstation verstirbt, ist dagegen nachrangig. Der unmittelbar bevorstehende Tod rechtfertigt in der Regel keine Verlegung von der Intensivstation, verbietet ihn aber auch nicht grundsätzlich; ein hoher Pflegeaufwand lässt eine Verlegung aber oft als nicht sinnvoll oder geboten erscheinen. Andererseits darf der Tod auch der Normalstation nicht fremd werden; er gehört zum Leben und zum Krankenhaus und sollte nicht auf die Intensivstationen oder in die Hospize verdrängt werden.
Die moralische Verantwortung in diesem schwierigen Prozess liegt grundsätzlich bei den ärztlichen und pflegerischen Leitungskräften und darf nicht auf nachgeordnete Mitarbeiter abgewälzt werden. Andererseits ist die Meinung jedes Mitarbeiters - unabhängig von Alter und Dienststellung - zu achten. Eine regelmäßige Gesprächsrunde in entspannter und offener Atmosphäre mit Diskussion gerade aktueller und grundsätzlicher Fragen kann hier sehr zum Zusammenhalt und zur gegenseitigen Achtung beitragen. Inwieweit Klinische Ethikkomitees als beratende Organe für das therapeutische Team und die Angehörigen Hilfestellung bieten können, bleibt abzuwarten. In einigen großen Krankenhäusern und Universitätskliniken sind in der letzten Zeit solche Klinischen Ethikkomitees gebildet worden, deren Ziel es ist, in schwierigen Grenzsituationen beratende Hilfe anzubieten [3]. Von großem Nutzen kann bereits das Angebot zur Reflexion therapeutischer Grenzfragen mit etwas größerem Abstand zum klinischen Alltag oder zur Klärung semantischer und rechtlicher Fragen (aktive Sterbehilfe, passive Sterbehilfe, mutmaßlicher Wille usw.) sein.
Der Wille des Patienten ist in diesem Kontext häufig nicht mehr zu eruieren. Ein Patientenverfügung kann zur weitgehenden, jedoch nicht absoluten Verpflichtung für den behandelnden Arzt werden, sofern sie in Kenntnis konkreter Umstände - etwa im Lauf eines Tumorleidens - verfasst worden ist und keine Erkenntnisse vorliegen, dass der Verfasser inzwischen seine Meinung geändert hat. Pauschale Angaben etwa der Art, nur bei einer Überlebenschance über 25 % oder in einem bestimmten Alter beatmet werden zu wollen, sind dagegen nicht hilfreich und spiegeln eher den Zeitgeist wieder. Alles in allem sind Patientenverfügungen ein wichtiger Stein im Mosaik der schwierigen Entscheidungsfindung.
Eine Therapiebegrenzung, etwa der Verzicht auf die Hämodialyse, kann ebenso quälend sein wie der Entschluss zur Therapiebeendigung. Hier gibt die bereits erwähnte Stellungnahme [2] wertvolle Hinweise, die auch außerhalb der speziellen Konfession beachtlich erscheinen: Die Anwendung von Analgetika ist erlaubt, selbst wenn die Abschwächung des Schmerzes mit einer Verkürzung des Lebens verbunden ist; der Anästhesist hat das Recht, aber nicht die Pflicht, ein Beatmungsgerät zum Einsatz zu bringen; und die Entfernung des Beatmungsgeräts ist erlaubt, bevor der Kreislauf endgültig zum Stillstand kommt. Höchstrichterliche Entscheidungen haben dies insgesamt bekräftigt.
Damit ist dem Grundsatz nach alles gesagt; die Probleme ergeben sich in der Anwendung im Detail, wenn die Prognose unklar ist oder der Patientenwille nicht eruierbar oder zweifelhaft bleibt - Grenzsituationen eben, in denen es kein Weiß und kein Schwarz gibt, Grauzonen unserer ärztlichen Tätigkeit. Viel geübte Praktiken werden damit gestützt, und andere erscheinen in diesem Licht eher fragwürdig. Die Gabe von Opioiden wie Morphin ist auch unter Inkaufnahme einer Atemdepression zulässig; niemand darf oder muss unter Schmerzen sterben. Gerichtsanhängige Verfahren legen allerdings die bedarfsgerechte Bolusinjektion nahe, um sich - bei kontinuierlicher Zufuhr über eine Spritzenpumpe - nicht dem Vorwurf der Überdosierung auszusetzen. Die Intubation eines Patienten in Agonie ist nicht zwingend indiziert. Es entspricht dem natürlichen Sterbeverlauf, wenn die Atmung insuffizient wird und in eine Schnappatmung übergeht - oft ist noch für quälend lange Zeit zumindest eine elektrische Herzaktion nachweisbar. Das Leiden zu verhindern oder zu vermindern bleibt in diesen Situationen oberstes Gebot - nicht mehr die Beachtung physiologischer Normwerte.
Zusammenfassend sind die Autoren der Meinung, dass die heutigen medizinischen und rechtlichen Möglichkeiten einem patientengerechten ärztlichen Handeln nicht im Wege stehen. Es bedarf weniger neuer juristischer oder politischer Vorgaben als dem unbedingten Suchen nach dem Konsens von Fachdisziplinen, Berufsgruppen und Angehörigen sowie der möglichst akkuraten Erkundung des Patientwillens - und des Widerstands gegen ökonomische Zwänge, die gewollt oder ungewollt in diese letzte, so sensible Lebensphase des Menschen einzudringen drohen.
Literatur
- 1 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Deutsches Ärzteblatt. 2004; 101 1076-1077
- 2 Haid B. Fragen und Antworten. Religiös-sittliche Fragen betreffend die Wiederbelebung (Resuscitation, Reanimation). Anaesthesist. 1958; 7 241-244
- 3 Marckmann G. Lebensverlängerung um jeden Preis. Ethische Entscheidungskonflikte bei der passiven Sterbehilfe. Ärzteblatt Baden-Württemberg. 2004; 9 89
Prof. Dr. med. H. A. Adams
Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Straße 1 · 30625 Hannover
Email: adams.ha@mh-hannover.de