Klin Monbl Augenheilkd 2005; 222(4): 357-360
DOI: 10.1055/s-2005-858156
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Evidenzbasierte Betrachtungen zu akkommodativen KunstlinsenH. Schneider, R. Guthoff

H. Schneider, O. Stachs, R. Guthoff
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21 April 2005 (online)

Der Begriff der evidenzbasierten Medizin begegnet uns auch im klinischen Alltag zunehmend. Per definitionem ist die „evidence based medicine” oder „nachweisbasierte Medizin” eine Bewertungsmethodik, die den gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der besten verfügbaren externen Evidenz für medizinische Entscheidungen im Rahmen der Patientenversorgung beinhaltet [21]. Die Betrachtungen sollten die Sicht des Patienten mit seinem individuellen Problem und seinen Erwartungen, des Arztes mit seinen Fähigkeiten und Erfahrungen und die externe Evidenz, also das Wissen aus Studien, sowie die Interessen der Solidargemeinschaft berücksichtigen.

Dies ist sicherlich keine grundsätzlich neue Herangehensweise an eine medizinische Fragestellung. Ausgangspunkt für evidenzbasierte Betrachtungen ist aber unstreitig der Tatbestand, dass es angesichts der rasanten Entwicklung in der Medizin und der daraus resultierenden Fülle an Neuentwicklungen und Veröffentlichungen einer Beurteilung von Wirksamkeit, Nutzen und Anwendbarkeit einer diagnostischen Methode oder einer Therapie bedarf. Evidenzbasierte Beurteilungen sind sicher nicht in jedem Fall einer therapeutischen Entscheidung möglich oder sinnvoll, bei der Beurteilung der Wirksamkeit und der Vorteile so genannter akkommodativer Intraokularlinsen bieten sie sich jedoch vor dem Hintergrund des hohen Standards der heutigen Kataraktchirurgie an.

Die sich zunächst stellende Frage lautet: Ist die Presbyopie behandelbar und welche Methoden stehen zur Verfügung?

Die bisher zum Einsatz gekommenen chirurgischen Verfahren der Presbyopiebehandlung sind entweder von fraglicher Wirksamkeit, wie die so genannten skleraexpandierenden Operationsverfahren [17] oder weisen noch ungelöste Probleme, wie andere versuchte Varianten der Presbyopiebehandlung durch photorefraktive Keratektomie [26], dezentrierte LASIK [2] oder die Implantation kornealer Ringe [13] auf. Mit keiner bisher zum Einsatz gekommenen Therapie kann eine echte Akkommodation erzielt werden. Bestenfalls erlauben multifokale Intraokularlinsen einen besseren unkorrigierten Nahvisus auf Kosten der Kontrastempfindlichkeit [1] [9] [20] [24], so dass diese bisher keinen breiten Einsatz im klinischen Alltag finden. Im vergangenen Jahr wurde auf ophthalmologischen Kongressen über bessere klinische Ergebnisse nach Implantation von neu entwickelten, multifokalen IOL berichtet; möglicherweise gibt es hier eine Neubelebung dieses Konzeptes.

Einen weiteren Lösungsansatz zur Wiederherstellung der Akkommodation im Rahmen der Kataraktchirurgie stellen mechanische Konzepte dar, die auf dem „axial shift”-Prinzip einer Kunstlinsenoptik beruhen. Sie gehen davon aus, dass die erhaltene Funktion des Ziliarmuskels und der Zonulafasern eine Bewegung von Kunstlinsenoptiken mit flexiblen Haptiken im erhaltenen Kapselsack entlang der optischen Achse ermöglichen. Mit der BioComFold 43A (Morcher), der AT-45 Crystalens (Eyonics) und der 1CU (Human Optics) sind derartige so genannte akkommodative Acryl-Kunstlinsen heute kommerziell erhältlich. Voraussetzung für eine Akkommodationsamplitude von 2,9 Dioptrien, welche gleichbedeutend mit einer Lesefähigkeit in 35 cm Abstand ist, wäre nach Holladay eine Vorwärtsbewegung einer Kunstlinse mit einer Brechkraft von 20 dpt. im Auge um 2,2 mm [10]. Hier liegen die Grenzen dieser mechanischen Konzepte, denn diese Verschiebung würde eine Verlagerung des Irisdiaphragmas notwendig machen (Abb. [1]). Bei Kunstlinsenoptiken hoher Brechkraft können jedoch auch kleinere Bewegungen der Optik zu relevanten Brechkraftänderungen im Sinne der Presbyopiebehandlung führen.

Abb. 1 Schema der notwendigen Lageveränderung von akkommodativen Kunstlinsen im Kapselsack des menschlichen Auges (VHF Ultrasound Arcscan Systems Artemis2, menschliches Auge, 36 Jahre). Für eine Scheitelbrechwertänderung von 2,9 Dioptrien müsste sich eine 20-dpt-Kunstlinse um 2,2 mm nach anterior bewegen. Die Kunstlinse A schematisiert die normale Lage im Kapselsack. Bei einer Verschiebung von 2,2 mm würde sie sich in der Position der Kunstlinse B, also vor der Pupillarebene, befinden.

Somit sind die theoretischen Grenzen des Axial-shift-Prinzips klar umrissen; welche Aussagen aber lassen bisherige klinische Untersuchungen zur Evidenz der akkommodativen IOL zu?

Eine echte pseudophake Akkommodation ist bedingt durch eine Ziliarmuskelkontraktion.

Pseudoakkommodation dagegen ist das Phänomen der exakten Wahrnehmung von Gegenständen unterschiedlicher Entfernung, ohne Fokusierung durch das Auge. Hierbei spielen Faktoren wie eine enge Pupille oder ein Astigmatismus myopicus simplex eine Rolle. Das Phänomen der Pseudoakkommodation wird sowohl in phaken, pseudophaken als auch in aphaken Augen beobachtet [4] [11] [19] [25].

Um die Axial-shift-Intraokularlinsen bewerten zu können, muss der Akkommodationserfolg objektiv gemessen werden. Voraussetzung ist, dass eine ausreichende Lageänderung der IOL entsprechend der Theorie stattfindet. Möglichkeiten der Quantifizierung der echten, pseudophaken Akkommodation unter Ausschluss pseudoakkommodativer Phänomene bestehen in der Messung der objektiven Refraktionsänderung und der Vorderkammertiefenänderung während der Akkommodation.

Die Human Optics 1CU könnte entsprechend ihrer technischen Daten (Angaben des Herstellers) eine Verschiebung im Auge von max. 1 mm erreichen, was einer Änderung der Brillenkorrektur von 1,3 Dioptrien entspricht. Tatsächlich zeigen eigene Untersuchungen eine mittlere Anteriorverschiebung der 1CU von nur 0,32 mm und maximal von 0,9 mm [22]. Die mit dem Hartinger-Koinzidenzrefraktometer gemessenen Akkommodationsamplituden (im Mittel 0,48 Dioptrien) entsprechen nach dem Gullstrand-Modell diesen Werten [22]. In der gleichen Größenordnung liegen die Ergebnisse der untersuchten Patienten mit implantierter AT45-Crystalens mit einer mittleren Vorderkammerabflachung von 0,2 mm und einer mittleren Akkommodationsamplitude von 0,45 dpt (Abb. [2] und [3]). Ultraschallbiomikroskopische Untersuchungen unterstützen diese gemessenen Parameter [23], da bei der Human Optics 1CU eine durchschnittliche Änderung der Haptikanwinkelung von nur 7,5° (max. 10°) unter pilokarpininduzierter Ziliarmuskelkontraktion gemessen wurde. Für die vom Hersteller angegebene maximale Anteriorverschiebung der Optik um ca. 1 mm wäre eine Änderung der Haptikanwinkelung von 30° notwendig. Die AT 45 Crystalens zeigte ebenfalls nur eine unzureichende Änderung der Haptikanwinkelung von durchschnittlich 4,2° (max. 7°) (Abb. [4] und [5]).

Abb. 2 Median der Vorderkammertiefenänderung nach medikamentöser Ziliarmuskelstimulation, 4 Wochen nach Implantation einer akkommodativen Intraokularlinse (1CU bzw. AT45).

Abb. 3 Median der Akkommodationsamplitude nach medikamentöser Ziliarmuskelstimulation 4 Wochen nach Implantation einer akkommodativen Intraokularlinse (1CU bzw. AT45).

Abb. 4 Bestimmung der Änderung der Haptikanwinkelung (Winkel zwischen IOL-Optik und Haptik) nach medikamentöser Stimulation der Ziliarmuskelkontraktion durch UBM-Untersuchungen am Beispiel der AT 45 Crystalens. Die Änderung der Haptikanwinkelung der 1CU nach Pilocarpin-Gabe (rechts oben) im Vergleich zur Situation unter Cyclopentolat-Beeinflussung (links oben) beträgt in diesem Fall 7°. Unten sind die UBM-Schnitte nach Pilocarpingabe und unter Cyclopentolat übereinander gelegt.

Abb. 5 Bestimmung der Änderung der Haptikanwinkelung (Winkel zwischen IOL-Optik und Haptik) nach medikamentöser Stimulation der Ziliarmuskelkontraktion durch UBM-Untersuchungen am Beispiel der Human optics 1CU. Die Änderung der Haptikanwinkelung der 1CU nach Pilocarpin-Gabe (rechts oben) im Vergleich zur Situation unter Cyclopentolat-Beeinflussung (links oben) beträgt in diesem Fall 10°. Unten sind die UBM-Schnitte nach Pilocarpingabe und unter Cyclopentolat übereinander gelegt.

Ergebnisse in gleichen Größenordnungen zeigen die Arbeiten von Findl u. Mitarb., welche durchschnittliche Anteriorbewegungen der akkommodativen Intraokularlinsen (Morcher BioComFold, Human Optics 1CU, AT45-Crystalens) mithilfe der Partiellen Koherenz-Interferometrie ermittelten und die daraus resultierenden Akkommodationsamplituden errechneten. Die AT45 zeigte eine kleine, jedoch nicht signifikante Rückwärtsbewegung, die 1CU eine mediane Anteriorbewegung von 314 µm unter pilokarpininduzierter Ziliarmuskelkontraktion. Die erreichten Akkommodationsamplituden betrugen durchschnittlich weniger als 0,5 dpt. Die Ergebnisse der Patienten mit akkommodativen IOL unterschieden sich nicht von denen der Kontrollgruppen mit herkömmlichen Plattenhaptiklinsen [5] [6] [7] [8].

Wie auch in Untersuchungen von Kammann [12] benötigten unsere Patienten nach Implantation einer 1CU oder AT45 alle eine zusätzliche Nahkorrektur im Mittel von 2,7 bzw. 2,75 Dioptrien, mindestens jedoch von 2 Dioptrien. Nach eigenen Erfahrungen zeigen also die so genannten akkommodativen Intraokularlinsen einen nur unbefriedigenden Akkommodationserfolg und keine signifikanten Unterschiede gegenüber Vergleichslinsen mit konventionellem Design.

Küchle und Langenbucher hingegen fanden in Untersuchungen von Patienten mit akkommodativen Intraokularlinsen (Human Optics 1CU) mittlere Akkommodationsamplituden von 0,98 Dioptrien und eine im Vergleich zu einer Kontrollgruppe größere Vorderkammertiefenänderung [14] [15] [16]. Diese Ergebnisse können durch eigene Untersuchungen nicht bestätigt werden. Die in den USA für die Zulassung als „akkommodative Kunstlinse” zugrunde gelegten Akkommodationsbreiten sind in europäischen Untersuchungen bisher ebenfalls nicht nachvollziehbar.

Aber auch die von Küchle und Langenbucher ermittelten Akkommodationsamplituden nach Implantation einer Human Optics 1CU können die Lesebrille allenfalls abschwächen, jedoch nicht ersetzen.

Schließlich bleibt die Frage zu beantworten: Wie sind die akkommodativen Intraokularlinsen einzuordnen?

Evidenzbasierte Betrachtungen einer Therapieform fordern nicht zufällig auftretende Effekte, die in kausalem Zusammenhang mit der durchgeführten Intervention stehen. Anforderungen an akkommodative Intraokularlinsen nach dem Axial-shift-Prinzip müssen also lauten:

Vorderkammertiefenänderung und Akkommodationserfolg während der Akkommodation müssen objektiv messbar sein und es muss der Vergleich mit etablierten Behandlungsmethoden erfolgen.

Selbst wenn die zum Erreichen des Ziels notwendige Lageveränderung mit den zurzeit verfügbaren Linsentypen noch nicht erreicht werden kann, ist zumindest zu fordern, dass auch bei Einzelfallbetrachtungen die Vorderkammertiefenänderung mit dem Akkommodationserfolg korreliert [3]. Alle weiteren Betrachtungen, die nicht die Linsenverlagerung als Bewertungskriterium nutzen, erlauben keine Aussage über die Evidenz des Axial-Shift-Prinzips.

Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen zeigen die so genannten akkommodativen IOL bisher nur einen unzureichenden Akkommodationserfolg und der Beweis der Funktionsfähigkeit des Axial-shift-Prinzips steht noch aus.

Weiterhin stehen die von einigen Arbeitsgruppen und auch in eigenen Untersuchungen beobachteten Komplikationen nach Implantation einiger dieser Linsen bei ungelöstem Nachstarproblem (Haptikabknickungen und Verkippungen der Optik) in keinem Verhältnis zu den nur geringen oder fehlenden Akkommodationserfolgen [18] (Abb. [6]).

Abb. 6 Spaltlampenfoto 2 Jahre nach Implantation einer akkommodativen IOL (1CU); durch fibrotischen Nachstar bedingte Abknickungen der gekerbten Haptiken nach anterior sichtbar (Pfeil).

Wenn Evidenz einer Therapie bedeutet, dass ein Therapieerfolg nicht zufällig auftritt, sondern in kausalem Zusammenhang zur durchgeführten Intervention steht und außerdem der Patient, das angestrebte Ziel und alternative Behandlungsmöglichkeiten in die Betrachtung einbezogen werden, fehlt bisher die Evidenz der Wirksamkeit des Axial-Shift-Prinzips.

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Dr. med. Hanka Schneider

Universitäts-Augenklinik

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