Gesundheitswesen 2005; 67(3): 226-228
DOI: 10.1055/s-2005-858116
Leserbrief

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Leserbrief

H. Erdle
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Publikationsdatum:
23. März 2005 (online)

Albrecht D, Bramesfeld A. Das Angebot an gemeindenahen beruflichen Rehabilitationsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen in der Bundesrepublik. Gesundheitswesen 2004; 66: 492 - 498

Ihren Beitrag habe ich mit Interesse gelesen und danke Ihnen sehr für den wichtigen Hinweis, der die aktuelle Diskussion beleben kann. Im Wesentlichen kann ich Ihrer Darstellung auch zustimmen. Hinsichtlich der Aussage, in Nordrhein-Westfalen existiere ein besonders dichtes Netz an Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke Menschen, auch hinsichtlich der beruflichen Rehabilitation, entspricht die Darstellung aber leider nicht der Realität: Die Situation in Nordrhein-Westfalen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Krankenkassen, aber auch die Agenturen für Arbeit (mit geringen Ausnahmen), RPK-Maßnahmen nicht mitfinanzieren. Die (in der Tat besonders zahlreichen) Einrichtungen in diesem Land setzen daher die RPK-Empfehlungsvereinbarung, die eine verzahnte medizinische und berufliche Rehabilitation als Komplexmaßnahme ermöglicht, nicht voll um. Es handelt sich dort ausschließlich um Angebote der medizinischen Rehabilitation. An der Finanzierung ist ersatzweise der Träger der überörtlichen Sozialhilfe beteiligt mit all den sich daraus ergebenden Problemen. Ein einigermaßen flächendeckendes Netz eines spezifischen Rehabilitationsangebots für psychisch Kranke existiert derzeit nur in Niedersachsen. Zusammen mit Herrn Dr. Schell in Stuttgart bin ich gerade dabei, aufgrund einer Umfrage unserer Bundesarbeitsgemeinschaft eine detaillierte Darstellung der räumlichen Verteilung des RPK-Angebots in Deutschland zu publizieren. Über einen weiteren Austausch zu dem Thema würde ich mich freuen.

Prof. Dr. W. Weig · Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation psychisch kranker Menschen · c/o Niedersächsisches Landeskrankenhaus · Knollstraße 31 · 49088 Osnabrück

Frau Albrecht und Frau Bramesfeld, die Autorinnen des Artikels, beschäftigen sich in ihrem „Untersuchung” genannten Beitrag „vor allem (mit) vier Einrichtungstypen:

Rehabilitationseinrichtungen für psychische kranke Menschen (RPK); Berufliche Trainingszentren (BTZ); Berufsbildungswerke (BBW); Berufsförderungswerke (BFW) (S. 493).

Sie behaupten, diese seien für die berufliche Rehabilitation „von psychisch Kranken ... relevant” (S. 493). Für die RPK trifft dies zum Teil zu, für die anderen drei Einrichtungstypen nicht. Ein Blick in das SGB IX (§ 33 ff.) hätte genügt, um zu erfahren, dass es bei der Teilhabe am Arbeitsleben um behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen geht, nicht aber um kranke.

Der Gesetzgeber unterscheidet mit guten Gründen zwischen Behinderung und Krankheit. Welcher Arbeitgeber stellt schon jemanden ein, der sich selbst oder dessen „gut meinende” Helfer ihn als krank bezeichnen? Welche Ausbildung, ob im BBW oder anderswo, welche Umschulung in einem BFW oder bei anderen Trägern wird durch (akute) Krankheit nicht zeitweise unterbrochen oder gar auf Dauer vereitelt? Das gilt auch für stabilisierende und qualifizierende Trainings in BTZ mit dem Ziel der Integration auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Wenn das Kranksein „überhand nimmt”, sind selbst RPK auf Kliniken angewiesen.

Ist eine Krankheit „nicht der Rede wert” (z. B. die chronische Alkoholkrankheit nach 15 Jahren Abstinenz), sollte man sie, um in der Arbeitswelt (wieder) konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben, nicht wie eine Standarte vor sich her tragen. Es macht Sinn, dass in Bewerbungsgesprächen nicht nach latenten oder chronisch genannten Krankheiten gefragt werden darf (auch wenn sich viele nicht daran halten). Im Rahmen der beruflichen Rehabilitation sollte in solchen Fällen statt der Krankheits-/Defizitorientierung die Ressourcenzentrierung maßgeblich bleiben.

Die Autorinnen differenzieren nicht zwischen „psychisch kranken” (auf fast allen Seiten), „psychisch chronisch kranken” (S. 493 f.) und „psychisch beeinträchtigten Menschen” (S. 493 f.). Sie fordern undifferenziert, den von ihnen hochgeschätzten „personenzentrierten Ansatz” (S. 497) missachtend, für alle dasselbe. Der Begriff „Behinderung” wird keinmal erwähnt.

Im Vergleich zur WHO mit „impairment”, „disability” und „handicap” ist der Begriff gerade bezogen auf Folgen von <!?breakb b16?>psychischen Erkrankungen zwar problematisch und für viele Betroffenen inakzeptabel, weil sie sich, wenn nicht mehr krank, nicht „psychisch behindert” fühlen - aber das pure Negieren macht ihn nicht besser. Wann hört dieser diskriminierende Sprachgebrauch der Gutmeinenden endlich auf? (Das Gegenteil von „gut” ist oft „gut gemeint”.)

Der undifferenzierte Umgang mit Krankheit veranlasst die Autorinnen zu merkwürdigen Schlussfolgerungen. Da hat z. B. Hamburg weder ein BBW noch ein BFW (Tabelle 2, S. 495). Beide Einrichtungen stehen so genannten psychisch behinderten, aber nicht kranken Menschen offen, was ohne viel Aufwand zu recherchieren gewesen wäre. Das BTZ Hamburg arbeitet mit beiden Rehabilitationseinrichtungen eng zusammen.

Auch der Umgang mit der Geografie lässt zu wünschen übrig. Die Aussage, BFWs seien „überwiegend in ländlichen Gebieten (anzutreffen)” (S. 492 mit den in dem Artikel üblichen Redundanzen auf den Seiten 494, 497, 498, die die Behauptung nicht besser machen), ist selbst durch die Krankheitsbrille gesehen Unsinn. Unter den 15 größten deutschen Städten (Internet von Berlin mit 3,4 Millionen bis Dresden mit 0,5 Millionen Einwohnern) haben zehn ein BFW. In den zehn Ballungsgebieten - wie auch in den ländlichen Gebieten - finden psychisch behinderte Personen z. T. gemeindenah, z. T. wohnortnah Angebote zur beruflichen Rehabilitation. Dabei sind allerdings die im S-Bahn-Bereich von Frankfurt bzw. München liegenden Berufsförderungswerke in Bad Vilbel und Kirchseeon mitgerechnet.

Frau Albrecht und Frau Bramesfeld wollen das Angebot der vier Einrichtungstypen prüfen, ob es „flächendeckend” und „wohnortnah” ist (S. 494). Dabei werden „Wohnort-” und „Gemeindenähe” oft synonym gebraucht, obwohl Wohnortnähe je nach Verkehrsverbindungen Distanzen von 50 und mehr Kilometern verträgt - gemeindenah ist das nicht! Zu fragen ist, ob diese Nähe wirklich für alle notwenig oder auch nur wünschenswert ist, ob nicht viele zu der Mobilität fähig sind, die zu den „Tugenden” von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehören, weil sie ihre Vermittlungschancen erhöhen. Ja, für manche wäre oder ist es ein Segen, wenn sie aus der Nähe mal herauskämen oder -kommen. Das Dogma der Wohnort- oder der Gemeindenähe ist sicher nicht personenzentriert!

Völlig unverständlich ist, dass RPK „gemeindenah”, BTZ „regional”, BFW „überregional” seien und BBW „keine Wohnortnähe” hätten (Tab. 1, S. 493). Die Differenzierung ist so pauschal wie falsch. Glauben die Autorinnen wirklich, dass BTZ, BFW sowie BBW nicht auch gemeindenah und BFW sowie BBW nicht auch regional wirken? Ca. ein Drittel der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden z. B. im BFW Hamburg pendeln täglich zwischen ihrer Wohnung im Stadtgebiet oder in der Umgebung hin und her. Unter ihnen sind ganz sicher auch psychisch behinderte Menschen.

Die außer den vier „untersuchten” Einrichtungstypen entstandenen weiteren Angebote werden wegen der „kaum mehr überschaubaren Vielzahl” (S. 496) nicht weiter beachtet oder gewürdigt. Diese Abstinenz verleitet die Autorinnen zu Kassandra-Rufen ob der mangelnden oder mangelhaften „Flächendeckung”. Das BTZ Hamburg hat in Lüneburg eine Filiale <!?breakb b16?>eröffnet, weil da Mangel herrschte. Es wird z. B. weder in Kiel noch in Lübeck aktiv werden, weil da die differenzierten, personenzentrierten Angebote der dortigen Brücken die Konkurrenz des BTZ Hamburg weder brauchen noch fürchten. In vielen anderen als unterversorgt ausgewiesenen Regionen in den alten Bundesländern dürfte es nicht anders sein! Bezogen auf die neuen Bundesländer dürften die Autorinnen leider Recht haben - so ungefähr das Einzige, was an dem Beitrag stimmt, und das ist so offenkundig, dass es des Artikels wahrlich nicht bedurft hätte.

Es geht Frau Albrecht und Frau Bramesfeld um Quantität und nicht um Qualität. So schneidet wiederholt Nordrhein-Westfalen mit den meisten Einrichtungen (S. 492, 497, 498) am besten ab. Da kann natürlich z. B. Hamburg als gut versorgter Stadtstaat mit nahverkehrstechnisch hervorragend erschlossener Umgebung mit nur einer RPK, einem BTZ, einem BBW und einem BFW sowie weiteren „vielzähligen” Angeboten zur beruflichen Rehabilitation in WfbM, Integrationsfirmen und diversen Projekten nicht mithalten!

„Werkstätten für behinderte Menschen wurden nicht in die Analyse aufgenommen, weil sie im strengen Sinne nicht der beruflichen Rehabilitation dienen” (S. 494). Ist das nur ignorant oder total arrogant? Zugegeben, WfbM bemühen sich in ihren Berufsbildungs- und Werkstattbereichen in der Mehrzahl der Fälle trotz ihres gesetzlichen, durchaus strengen Auftrags vergeblich um Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt, aber eben nicht in allen! Dass sie so selten Erfolg haben, liegt an den Behinderungsauswirkungen einerseits und den immer höheren Anforderungen der Arbeitswelt andererseits, nicht am Engagement und der Kompetenz der WfbM.

„Die Förderungen beruflicher Rehabilitationsmöglichkeiten ... hat therapeutische Bedeutung. Eine Arbeitstätigkeit fördert das psychische Wohlergehen durch Tagesstrukturierung, soziale Kontakte, Gemeinsinn, soziale Identität und reguläre Beschäftigung. Darüber hinaus unterstützt Berufstätigkeit den Prozess der Genesung, indem sie bei dem Erkrankten die normale Rolle im Gegensatz zur Rolle des chronisch Kranken stärkt und überdies als leicht identifizierbares Kriterium für Gesundheit anerkannt ist” (S. 493). Ein therapeutisch so hohes Niveau der Arbeit können selbst Integrationsfirmen nicht immer herstellen und schon lang nicht ununterbrochen aufrecht erhalten. Der allgemeine Arbeitsmarkt ist dem Anspruch, der hier „ohne Wenn und Aber” erhoben wird, in der Regel nicht gewachsen. Wo arbeiten Frau Albrecht und Frau Bramesfeld? So gnadenlos positiv kann man eine Umwelt nicht verkaufen, die manche Menschen schädigt, krank macht, mehr belastet und entwertet als aufbaut! Auch die Arbeitswelt sollte - wie jedes andere Therapeutikum - mit Bedacht, Augenmaß und individueller Dosierung genutzt werden.

Dr. Henning Hallwachs · Berufliches Trainingszentrum Hamburg GmbH · Weidestraße 118 c · 22083 Hamburg · E-mail: hhallwachs@btz-hamburg.de