Zentralbl Gynakol 2004; 126 - 10_039
DOI: 10.1055/s-2004-828820

Die Pathogenese der Frühgeburt

H Schneider 1
  • 1Universitäts-Frauenklinik Bern

Die zu frühe Geburt ist der gemeinsame Endpunkt sehr unterschiedlicher pathogenetischer Pfade. Die Geburt selbst kann Folge von vorzeitigen Wehen oder einem verfrühten Blasensprung mit oder ohne vaginaler Blutung sein. Diese klassischen Symptome des klinischen Bildes einer drohenden Frühgeburt können sich, sowohl was die zeitliche Sequenz wie auch die Gleichzeitigkeit des Auftretens der Symptome anbetrifft, unterschiedlich manifestieren. Von der drohenden Frühgeburt ist die elektive oder auch iatrogene Frühgeburt zu unterscheiden. Iatrogen impliziert nicht ein fehlerhaftes Handeln des Arztes, sondern eine mütterliche, kindliche oder kombinierte Pathologie, die zum Entscheid des Arztes führt, die Entbindung im Interesse von Mutter oder Kind in der Regel durch Sectio vorzeitig vorzunehmen.

Die wichtigsten Pathologien, die ursächlich für eine Frühgeburt verantwortlich gemacht werden, sind aszendierende Infektionen, Plazentationsstörungen, Mehrlinge, Fehlbildungen des Feten oder der Gebärmutter. Die pathogenetischen Störungen lokalisieren sich in der Regel an der feto-maternalen Grenzzone – im Bereich des Plazentabettes oder des choriodezidualen Überganges. Aszendierende Keime, eine retroplazentare Blutung oder eine pathologische Dehnung des Myometriums können Auslöser einer Aktivierung inflammatorischer Zellen mit Freisetzung von Zytokinen und Prostaglandinen sowie Proteasen sein. Verbunden damit ist eine Störung des Zeitplans der Expression von uterotonen Rezeptoren. Auch die inflammatorische Erweichung der Zervix kann Teil des Vorganges sein. Eine vorwiegend auf die Entwicklung der Plazenta beschränkte Pathologie kann über eine frühe Wachstumsbeeinträchtigung des Feten zu einer frühzeitigen elektiven Entbindung führen. Eine blutende Plazenta praevia stellt eine vorwiegend mütterliche Indikation dar.

Chronische psychosoziale Stresssituationen können über eine Aktivierung der mütterlichen neuro-endokrinen Achse zwischen Hypothalamus-Hypophyse und Nebenniere (HHN) die CRH-Synthese an der fetomaternalen Grenzzone stimulieren. Die vermehrte CRH-Ausschüttung bewirkt je nach Begleitumständen und Ausmass des Stresses eine lokale Vasodilatation im uteroplazentaren Kreislauf mit einer kompensatorischen Verbesserung der Versorgungssituation des Feten als Gegenreaktion auf die stressbedingte Vasokonstriktion. Andererseits kann die lokale CRH-Ausschüttung über eine Stimulation der Prostaglandin-Synthese die Wehen und damit die Geburt als Befreiung des Feten aus einem ungünstigen Milieu verursachen. Auch die Aktivierung der fetalen HHN-Achse als Folge einer chronischen Hypoxie des Feten kann eine wichtige Rolle bei der Auslösung von vorzeitigen Wehen spielen.

Der Wissensstand über die Entstehung und den Verlauf des Frühgeburtsgeschehens hat ohne Frage eine beachtliche Ausweitung erfahren. Angesichts der immer deutlicher zutage tretenden Komplexität und Vielschichtigkeit der Gesamtproblematik darf es allerdings nicht überraschen, dass sich die immer wieder genährten Hoffnungen auf überzeugende klinische Ansätze zur frühzeitigen Diagnostik oder Therapie bislang nicht erfüllt haben.

Viele Länder verzeichnen für die 1990er Jahre einen Anstieg der Frühgeburtenrate. Allerdings kann diese Entwicklung zu einem Teil mit dem als Folge der Veränderungen in der Gesellschaft erheblich angestiegenen mittleren Alter der Schwangeren und andererseits durch die Auswirkungen der modernen Reproduktionsmedizin mit der Zunahme von Mehrlingen erklärt werden.

Verschiedene Teilaspekte der Problematik wurden kürzlich in einem Themenheft des Gynäkologen ausführlich diskutiert (Band 36, Heft 5/Mai 2003).