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DOI: 10.1055/s-2004-828403
Bewegungsstörungen bei Psychosen
Kernsymptom oder Nebenwirkung?Motor Disturbances in PsychosisKey Symptom or Side-Effect?Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. April 2005 (online)
„Wenn wir die Bewegung durch Medikamente verändern, verändern wir die gesamte Seelensituation.” Mit diesem zentralen Satz brachte es Prof. Dr. Eckart Rüther, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen, beim Symposium „Bewegungsstörungen bei Psychosen - Kernsymptom oder Nebenwirkung” an der Psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg im März 2004 auf den Punkt. Diese Einschätzung der Psychopharmakotherapie ist nach wie vor aktuell. Das Thema „motorische Störungen bei Psychosen” stand lange Zeit im Zentrum der psychopathologischen Beurteilung von Patienten, wurde jedoch nach der Einführung der so genannten atypischen Neuroleptika auch von Diskussionen um andere Nebenwirkungen der antipsychotischen Therapie in den Hintergrund gedrängt. Dabei verstärkte sich jedoch gerade in den letzten Jahren wieder die Wahrnehmung, dass motorische Störungen bei Patienten mit Schizophrenie nach wie vor von gewichtiger Bedeutung für die Diagnostik und Therapie der Erkrankung sind und vor allen Dingen auch die subjektive Befindlichkeit des Patienten wesentlich beeinträchtigen können. Gleichzeitig wurden neue Messverfahren zur Objektivierung motorischer Störungen entwickelt und haben zusammen mit funktionell bildgebenden und elektrophysiologischen Verfahren dazu beigetragen, dass zahlreiche neue und richtungsweisende Erkenntnisse zu den motorischen Störungen bei Schizophrenie gewonnen werden konnten. Deshalb war es an der Zeit, dem Thema wieder besondere Aufmerksamkeit zu widmen und aktuelles klinisches Wissen und jüngste Resultate der Grundlagenwissenschaften zusammenzuführen. Der daraus entstandene Sonderband der Psychiatrischen Praxis ist das Ergebnis dieses Bemühens.
Motorische Störungen sind ein allseits bekanntes und häufiges Symptom schizophrener Patienten, das wesentlich zur Minderung der Lebensqualität beiträgt. Diskrete motorische Einschränkungen werden oft vom Patienten und von seiner Umwelt nicht als solche bewusst registriert, sie manifestieren sich jedoch im subjektiven Befinden des Betroffenen und in der unbewussten Wahrnehmung seiner Umgebung. Sie tragen somit erheblich auch zur Stigmatisierung schizophrener Patienten bei. Die Störungsbilder sind häufig unspezifisch, ihre Pathogenese ist in vielen Aspekten noch nicht aufgeklärt. Die lokomotorischen Leistungen können dabei sowohl durch die Grunderkrankung Schizophrenie selbst als auch durch extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen (EPMS) der neuroleptischen Medikation beeinträchtigt sein. Die Differenzierung morbogener und pharmakogener Einschränkungen der Motorik fällt oft schwer und gelingt anhand des klinischen Bildes nicht eindeutig. Daraus erwächst die Frage, ob Bewegungseinschränkungen bei Psychosen ein Kernsymptom darstellen oder eine Nebenwirkung sind. Gerade hinsichtlich dieser Frage hat sich im historischen Überblick eine erhebliche Veränderung in der Bewertung vollzogen. Besonders eindrucksvolle psychomotorische Störungen wurden in der traditionellen psychiatrischen Literatur zum katatonen Symptomenspektrum zusammengefasst und selbstverständlich als integraler Bestandteil der schizophrenen Kernsymptomatik verstanden. Sie wurden dabei als Indikatoren für den Schweregrad und die Prognose der Erkrankung diskutiert und als Symptomenkomplex mit fließenden Übergängen zu anderen psychopathologischen Symptomen, insbesondere zur primären schizophrenen Negativsymptomatik, verstanden. Nach Einführung der Neuroleptika wurde diese Sichtweise in den Hintergrund gedrängt und motorische Störungen wurden regelhaft als Nebenwirkung der Neuroleptikatherapie interpretiert.
Die ersten Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich mit den klinischen Bildern motorischer Störungen bei schizophrenen Patienten und der klinisch diagnostischen Abgrenzung zwischen morbogenen und pharmakogenen Veränderungen.
Eingangs gibt der Beitrag von Professor Dr. Eckart Rüther, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen, einen umfassenden Überblick über das Thema aus der Sicht des langjährig mit diesen Fragestellungen beschäftigten Wissenschaftlers und erfahrenen Klinikers. Rüther beschreibt die Entwicklung der Forschungstätigkeit auf dem Gebiet motorischer Störungen bei psychiatrischen Patienten und stellt die euphorischen Anfänge biologischer Untersuchungen zu diesem Thema dar. Er schildert die mit ihnen verbundenen Erwartungen, die ätiopathogenetischen Grundlagen der psychischen Erkrankungen in Kürze erklären zu können, sowie die darauf folgende Ernüchterung der Forschenden. Im Zentrum seines Beitrags steht die Betrachtung des integralen Zusammenhangs aller psychischen Vorgänge, von der Kognition über Motivation, Antrieb und Affekt bis hin zur Psychomotorik. Dabei sind die psychomotorischen Phänomene in der Regel die einzigen, die der Untersucher von außen am Patienten beobachten kann. Rüther betont deshalb die Wichtigkeit einer guten klinischen Untersuchung mit einer genauen Beobachtung der Motorik des Patienten.
Im Detail befasst sich dann der zweite Beitrag dieses Bandes von Herrn Professor Dr. Peter Bräunig, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Verhaltensmedizin und Psychosomatik am Klinikum Chemnitz gGmbH, mit den Katatonien. In diesem Beitrag werden die historischen Veränderungen des Katatoniekonzeptes dargestellt und die zahlreichen klinischen Ausprägungsformen katatoner Symptome praxisnah erörtert. Auch Bräunig betont die Zusammenhänge motorischer, psychischer und vegetativer Symptome, die nur in der aufmerksamen klinischen Zusammenschau richtig und sinnvoll bewertet werden können.
Im dritten Beitrag wendet sich Herr Professor Dr. Wolfgang Fleischhacker, Leiter der Abteilung für Biologische Psychiatrie an der Universitätsklinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität in Innsbruck, den extrapyramidalmotorischen Störungen zu. Er gibt einen klinischen Überblick über die verschiedenen Arten von EPMS, wie man sie erkennt, vermeidet und behandelt. Dabei diskutiert er auch pathophysiologische Zusammenhänge und wirft einen kritischen Blick auf die z. T. heftig geführte Diskussion über die Vorteile des Einsatzes atypischer Neuroleptika gegenüber konventionellen Neuroleptika.
Herrn Privatdozent Dr. Georg Juckel, stellvertretender Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité in Berlin, gelingt durch seinen Beitrag über Bewegungsanalysen und ihre Anwendungen in der Psychiatrie der Brückenschlag von der alltäglichen klinischen Arbeit zu den grundlagenwissenschaftlichen Aspekten des Themas. Er führt dabei in neue Verfahren objektiv standardisierter kinematischer Bewegungsanalysen ein und berichtet über die Ergebnisse von Untersuchungen unwillkürlicher, emotional induzierter und willkürlicher Motorik bei Patienten mit Schizophrenie. Juckel stellt dabei kritisch fest, dass im Gegensatz zur klinischen Erfassung der Gebrauch von Geräten und Apparaten in der Analyse der Psychomotorik immer eine dreidimensionale Reduktion darstellt. Das komplexe Feld der Psychomotorik wird dabei auf einen kleinen Teil von Motorik und emotionalem Verhalten eingeschränkt, dafür ermöglichen die Verfahren jedoch eine objektive Quantifizierung motorischer Störungen und die mathematische Analyse komplexer Interaktionen, die durch rein klinisch gewonnene Daten nicht valide auswertbar sind.
Dr. Albert Putzhammer, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, stellt die Ergebnisse von ultraschallgestützten Untersuchungen von Gang und Handmotorik zusammen. Diese Befunde bestätigen mehrheitlich die in zahlreichen klinischen Untersuchungen gezeigte Überlegenheit atypischer Neuroleptika gegenüber konventionellen Neuroleptika im Hinblick auf objektiv messbare motorische Parameter.
Der Beitrag von Privatdozent Dr. Peter Eichhammer, Oberarzt, und Professor Dr. Göran Hajak, Leitender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg und Mitarbeiter, beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, die Erregbarkeit der motorischen Hirnrinde durch transkranielle Magnetstimulation zu charakterisieren.
Privatdozent Dr. Jürgen Müller, Leitender Oberarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie am Bezirksklinikum Regensburg, stellt zusammen mit Professor Hajak in seinem Beitrag die umfassenden Einsatzgebiete der funktionellen Kernspintomographie in der Untersuchung der motorischen Kerngebiete des Gehirns bei schizophrenen Patienten vor.
Mit dem vorliegenden Band steht somit sowohl klinisch tätigen als auch wissenschaftlich interessierten Ärzten und auch nicht-ärztlichen Mitarbeitern eine eindrucksvolle Sammlung von Beiträgen zur Verfügung, die einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand des Wissens über Bewegungsstörungen bei Psychosen geben. Die Beiträge bieten dem Leser Informationen, die erhebliche Konsequenzen für unser Wissen über die Krankheit Schizophrenie und ihre Behandlung in Klinik und Praxis aufzeigen.
Wir freuen uns, dass wir für diesen Band namhafte Experten zum Thema motorische Störungen bei schizophrenen Psychosen gewinnen konnten und dass wir das Werk in einer der wichtigsten deutschsprachigen psychiatrisch-nervenheilkundlichen Zeitschriften einem breiten Leserkreis zugänglich machen können. Wir danken auch der Firma Lilly Deutschland GmbH für ihre aktive Unterstützung dieses Projektes.
Dr. med. Albert Putzhammer
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg
Universitätsstraße 84
93053 Regensburg
eMail: Albert.Putzhammer@medbo.de