Rofo 2004; 176(2): 264-266
DOI: 10.1055/s-2004-818816
Der interessante Fall
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Siamesische Zwillinge: MRT-Diagnostik eines im Beckenbereich verbundenen Zwillingspaares (Ischiopagus)

T.  Meindl1 , T.  Pfluger1 , R.  Grantzow1
  • 1München
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Publication Date:
11 February 2004 (online)

Eineiige Zwillinge entstehen im Regelfall durch Teilung eines befruchteten Eis in zwei gleiche Embryonalanlagen. Das Ergebnis einer unvollständigen Durchschnürung des Embryoblasten sind miteinander verbundene, sog. siamesische Zwillinge.

Verbundene Zwillinge sind eine seltene Abnormalität mit einer geschätzten Inzidenz zwischen 1 : 50000 und 1 : 100000 Geburten (Spielmann AL et al., Journal of Computer Assisted Tomography 2001; 25 (1): 90).

Da ca. 60 % tot geboren werden, liegt die tatsächliche Inzidenz bei etwa 1 : 200 000 Geburten. 35 % der Lebendgeborenen überleben die ersten 24 Stunden nicht. Es besteht eine weibliche Dominanz von 3 : 1 (Kingston CA et al., RadioGraphics 2001; 21: 1188).

Siamesische Zwillinge werden nach Art und Ausmaß der Verwachsung klassifiziert. Das am häufigsten auftretende Verbindungsmuster ist der Thorakopagus (40 %), gefolgt von Omphalopagus (32 %) und Pygopagus (19 %). Am seltensten treten Ischiopagus (6 %) und Craniopagus (2 %) auf (Spitz L, British journal of surgery 2002; 89: 1188).

Zwillingspaare mit ischiopagem Verwachsungsmuster sind von der Umbilikalregion bis zu einer großen gemeinsamen Beckenregion verbunden. Die Wirbelsäulen sind meist getrennt und verlaufen in entgegengesetzter Richtung. Die Anlage der Beckenregion variiert. Meist sind zwei Ossa sacra und ein oder zwei Symphysen vorhanden. Je nach Zahl der Beine wird von tetrapus, tripus oder bipus gesprochen. Am häufigsten findet sich die Variante tetrapus (Kingston CA et al., RadioGraphics 2001; 21:1197).

Verbundene Zwillinge werden in der Regel durch einen elektiven Eingriff 6 - 12 Monate nach der Geburt getrennt (Kingston CA et al., RadioGraphics 2001; 21: 1190).

Die präoperative Klärung der meist komplexen Anatomie stellt hohe Anforderungen an die radiologische Diagnostik. Zur Bildgebung eignen sich neben Sonographie und konventionellen Röntgenverfahren vor allem die Computertomographie (CT) und die Magnetresonanztomographie (MRT).

Fallbericht

In unserem Institut stellte sich ein 11-jähriges weibliches Zwillingspaar aus Kirgistan, Mittelasien, zur Diagnostik vor einer eventuellen Trennung vor. Es lag ein Verwachsungsmuster vom Typ Ischiopagus, Tripus vor.

Es wurde eine kernspintomographische Untersuchung an einem 1,5 T MR-Scanner (Magnetom Vision, Siemens AG, Erlangen) durchgeführt. Die Zwillinge wurden mit dem Rumpf in entgegengesetzter Richtung im Tomographen gelagert (Abb. [1]).

Das Sequenzprotokoll bestand aus HASTE-Sequenzen (TR/TE/FA 5 ms/62 ms/ 130 °) sowie T1- (TR/TE 182,9 ms/4,1 ms) und T2- (TR/TE 3787 ms/99 ms) gewichteten Spin-Echo-Aufnahmen in transversaler, sagittaler und koronarer Schnittführung, gefolgt von einer venösen Angiographie in time-of-flight Technik (FLASH 2D, TR/TE 27 ms/9 ms). Im Anschluss daran erfolgte nach intravenöser Injektion von Gd-DTPA (0,2 ml/kg Körpergewicht) (Magnevist, Schering AG, Berlin) bei Zwilling A eine kontrastmittelverstärkte MR-Angiographie (FISP 3D, TR/TE/FA 5,0 ms/2,0 ms/25 °). Bei Zwilling B wurde mit gleicher Technik ebenfalls eine MR-Angiographie durchgeführt, so dass die Gefäßsysteme der beiden Zwillinge getrennt analysiert werden konnten. Abschließend wurden kontrastverstärkte T1-gewichtete Sequenzen (TR/TE 880 ms/14 ms) beider Zwillinge in 3 Ebenen angefertigt.

Kernspintomographisch fand sich bei beiden Zwillingen eine getrennte Anlage der Oberbauchorgane. Jedes Mädchen wies eine Einzelniere auf. Die Niere von Zwilling B stellte sich rotiert und subdiaphragmal liegend dar.

Im Bereich der Mittellinie konnte eine rudimentäre, funktionslose Niere nachgewiesen werden. Die Ureteren mündeten in eine große gemeinsame Blase. Dorsal der gemeinsamen Blase kam eine kleinere, rudimentäre Blasenanlage zur Darstellung. Es waren eine solitäre Vagina sowie ein einzelner fehlgebildeter Uterus abgrenzbar. Abdominelle Darmschlingen, Sigma und Rektum von Zwilling A stellten sich regelrecht angelegt dar, Zwilling B wies keine Sigma- und Rektumanlage auf.

Die Wirbelsäulen und das Myelon beider Zwillinge waren regelrecht ausgebildet. Jeder Zwilling wies ein funktionstüchtiges, ihm zugehöriges Bein auf. Die Femora dieser beiden Beine artikulierten separat mit einem eigenen Azetabulum. Die beiden Azetabula bildeten eine Symphyse zwischen den Beckenanlagen der Zwillinge.

Der Beckenringschluss erfolgte gegenüber der Symphyse durch die Fusion der beiden übrigen Beckenschaufeln. In diesem Bereich bildete sich ein Azetabulum für das dritte gemeinsame Bein aus (Abb. [2] u. [5]).

Jeder Zwilling versorgte jeweils ein funktionstüchtiges Bein arteriell und venös, der arterielle Einstrom des dritten Beins stammte von Zwilling B, der venöse Abfluss erfolgte überwiegend über Zwilling A. Im Bereich dieses Beins stellte sich ein Verbindungsgefäß zwischen den beiden Gefäßkreisläufen der Zwillinge dar (Abb. [3]).

Paravertebral, in Richtung Bauchdecke ziehend, wies Zwilling A einen rudimentären Röhrenknochen auf, der am ehesten einer Femuranlage entsprach. Dieser zeigte Zeichen einer chronischen Osteomyelitis mit Fistelung an die Hautoberfläche im Bereich des Unterbauchs von Zwilling A (Abb. [4]).

Neben der MRT wurde eine CT zur Darstellung der knöchernen Strukturen durchgeführt (Abb. [5]). Die genaue Lokalisation der Fusion beider Darmanlagen im Bereich des terminalen Ileums wurde durch eine Magen-Darm-Passage mit bariumhaltigem Kontrastmittel ermittelt. Eine i. a. DSA lieferte zusätzliche Informationen über die arterielle Versorgung des Rektums und der Harnblase sowie eine genaue Darstellung der Mesenterialgefäße und der multiplen dünnlumigen Verbindungsgefäße zwischen den Zwillingen im Bereich des dritten Beins. Darüberhinaus wurde eine Genito-Urographie zur Darstellung der intrakavitären Verhältnisse des Genitouretraltrakts durchgeführt.

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