Rehabilitation (Stuttg) 2004; 43(1): 56-60
DOI: 10.1055/s-2004-818554
Bericht
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Recht der Rehabilitation und Teilhabe - Zwischenbilanz zum SGB IX: Kritische Reflexion und Perspektiven”

Wissenschaftliche Tagung des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, der AOK Schleswig-Holstein, der LVA Schleswig-Holstein und der BG Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege vom 13.-14. 11. 2003 in Kiel“The Law of Rehabilitation and Participation - Interim Balance Concerning Book 9 of the German Social Code”Scientific Conference November 13-14, 2003 in KielR.  Fakhreshafaei1
  • 1Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
13. Februar 2004 (online)

Die diesjährige Tagung des Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Direktor: Prof. Dr. Gerhard Igl) beschäftigte sich in Kooperation mit der AOK Schleswig-Holstein (Vorstandsvorsitzender: Peter Buschmann), der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schleswig-Holstein (Geschäftsführer: Hans-Egon Raetzell) und der Berufsgenossenschaft (BG) Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (Direktor: Dr. Stephan Brandenburg) mit dem Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Im Vordergrund standen rechtliche und praktische Probleme bei der Umsetzung des im Jahr 2001 in Kraft getretenen SGB IX. Die Tagung fand am 13. und 14. November 2003 in Kiel statt. Zu Beginn begrüßte Prof. Igl die Teilnehmer der Veranstaltung, auch im Namen der Mitveranstalter. Grußworte sprachen Heide Moser (Ministerin für Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein) und Ingrid Jöhnk (Zweite Stellvertretende Stadtpräsidentin der Stadt Kiel).

In seinem Einführungsvortrag unter dem Titel „Das SGB IX - Wirkungen auf das System des Sozialrechts” stellte Prof. Igl zweierlei fest: Erstens lebt das Sozialrecht von der Realisierung seiner Leistungen und zweitens ist das Sozialrecht im sozialen Rechtsstaat das verfassungsrechtlich vorgesehene Instrument der Umsetzung von Sozialpolitik. Daraus ergibt sich nach Igl eine Maxime für das Sozialrecht und damit für das SGB IX, nämlich die optimale Realisierung der Leistungsansprüche. Diese wiederum sind an der Zielsetzung der Teilhabe auszurichten.

Im zweiten Teil der Veranstaltung ging es um die Umsetzung des SGB IX. Aus der Sicht der behinderten und chronisch kranken Menschen berichtete Dr. Ulrich Hase (Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung des Landes Schleswig-Holstein). Hase stellte zunächst eine von ihm durchgeführte Umfrage zur Umsetzung des SGB IX vor und fasste anschließend die Ergebnisse der Rückläufe zusammen. Nach seiner Auffassung findet Kommunikation zwischen den Beteiligten des Rehabilitationssystems nicht in der Weise statt, dass der gewünschte gemeinsame Prozess zur positiven Umsetzung des Gesetzes eintreten kann. Dieses zeige sich auch in Äußerungen zu den Erwartungen an das Gesetz und dessen Wirkung. Während Betroffene sich davon erhoffen, dass neue Leistungsformen ihren Handlungsspielraum erweitern und ihre Kompetenzen stärken, vermuten sie gleichzeitig, dass die Neuerungen von Seiten der Rehabilitationsträger vor dem Hintergrund der finanziellen Rahmenbedingungen auch als Mittel zur Kostensenkung herhalten. Der gewünschte Effekt, Synergien aus der trägerübergreifend vernetzten Beratung durch Servicestellen im Wege der Zusammenführung der Antragsbearbeitung aller Träger mit der Folge der Entlastung der Rehabilitationsträger sowie Effektivität für den betroffenen Menschen zu erzielen, konnte nach Ansicht von Hase bisher nicht zufriedenstellend erzielt werden.

Aus der Sicht der Rehabilitationsträger berichteten Ingo Koch (Stellvertretender Geschäftsführer der LVA Schleswig-Holstein) und Dr. Brandenburg über ihre Erfahrungen mit der Umsetzung des SGB IX. Nach Auffassung von Koch schafft und fördert das SGB IX zwar Erwartungen behinderter Menschen, diesen Erwartungen entsprechen aber insbesondere die finanziellen Rahmenbedingungen durch die Ausgestaltung der Rehabilitationsleistungen als rationierte Ermessensleistungen nicht. Die Rehabilitationsträger haben somit das SGB IX im Spannungsfeld zwischen Zielen des Gesetzgebers, Erwartungen und Forderungen behinderter Menschen und rationierten Leistungen umzusetzen. Dies bedeutet nach Koch, den Paradigmenwechsel zu akzeptieren und aktiv zu begleiten, die Kompetenz behinderter Menschen und ihrer Verbände anzuerkennen und im Dialog zielführend einzubinden und damit die eigene Kompetenz zu relativieren, aber auch zu erweitern und Rehabilitation als Gegenstand geltender Leistungsgesetze zielorientiert auszulegen. Für Koch ist die Kommunikation der Schlüssel eines Rehabilitationsträgers bei der Umsetzung des SGB IX. Anschließend berichtete er von der Arbeit der LVA Schleswig-Holstein, insbesondere bei der Information der Menschen mit Behinderung, der Barrierefreiheit der gemeinsamen Servicestellen und der Schulung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der gemeinsamen Servicestellen.

Als weiterer Vertreter der Rehabilitationsträger berichtete Dr. Brandenburg über die Erfahrungen der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Umsetzung des SGB IX. Nach seiner Ansicht konkretisiert das SGB IX an einigen Stellen das Leistungsspektrum der gesetzlichen Unfallversicherung. Eine der Besonderheiten der Unfallversicherung liegt darin, dass die Zuständigkeiten nicht auf mehrere Rehabilitationsträger verteilt sind, sondern die Leistungen zur Teilhabe „aus einer Hand” gewährt werden. Ungeachtet ihrer Besonderheiten sieht Brandenburg in der Einbeziehung der Unfallversicherungsträger als Rehabilitationsträger in das SGB IX eine Stabilisierung der gesetzlichen Unfallversicherung als Teil des Systems der sozialen Sicherheit in Deutschland. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen befasste sich Brandenburg mit der Frage, ob ein Anspruch auf Erstattung selbstbeschaffter Leistungen nach § 15 SGB IX auch in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht. Weitere Schwerpunkte seines Referats bildeten die Wunsch- und Wahlrechte (§ 9 SGB IX) und das persönliche Budget (§ 17 Abs. 2 SGB IX). Anschließend ging er auf die Neuerungen bei den Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie die besondere Bedeutung der Prävention als vorrangige Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung ein und rief alle Beteiligten auf, die Idee des Gesetzgebers zur verbesserten Zusammenarbeit in die Praxis umzusetzen.

Dann referierte Dr. Hartmut Haines (Ministerialrat im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung) über Erfahrungen mit der Umsetzung des SGB IX aus der Sicht des für das Vorhaben federführenden Ministeriums. Nach Haines greifen die Regelungen des SGB IX insbesondere dort, wo sich das Gesetz mit der konkreten Vorgabe von Einzelheiten an die Rehabilitationsträger wendet. Weniger erfreulich sind nach Auffassung von Haines dagegen Versuche der Rehabilitationsträger, „auszutesten”, welche wirklichen oder vermeintlichen „Lücken” der gesetzlichen Regelungen sich zum vermeintlichen eigenen Vorteil - und zum Nachteil der Leistungsberechtigten - missbrauchen lassen. Als geradezu absurd bezeichnete Haines solche „Tests”, wenn Rehabilitationsträger kollektiv Position gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers, des zuständigen Ministeriums und der Aufsichtsbehörden beziehen, wie dies bei der Gemeinsamen Empfehlung zur Zuständigkeitsklärung nach § 14 hinsichtlich des Verbots der Zweitweiterleitung geschehen sei. Anschließend ging er auf die Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder ein. Sie wurde erforderlich, weil die beteiligten Rehabilitationsträger, namentlich die Sozialhilfeträger und die gesetzlichen Krankenkassen, der Verpflichtung und einer entsprechenden Aufforderung des damaligen Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (in Abstimmung mit dem damaligen Bundesministerium für Gesundheit) vom 25. Juni 2002 nicht nachgekommen sind, die erforderlichen Einzelheiten in gemeinsamen Empfehlungen zu vereinbaren (§ 30 Abs. 3 SGB IX). Die zustimmungsbedürftige Verordnung ist am 1. Juli 2003 in Kraft getreten. Einen weiteren Schwerpunkt des Referats von Haines bildete die Einrichtung der gemeinsamen Servicestellen. Seiner Ansicht nach ist sie ein deutliches Stück Erfolg aus der Sicht der an der Gesetzgebung Beteiligten. Er bekräftigte aber zugleich, dass über die Arbeit der gemeinsamen Servicestellen von unterschiedlichen Beteiligten unterschiedliche Beurteilungen zu hören seien, die teils aus regional sehr unterschiedlichen Erfahrungen geprägt sind, teils unterschiedlichen Interessen entspringen. Aus der eigenen Erfahrung des Ministeriums berichtete Haines, dass in allen Fällen, in denen das Ministerium aufgrund von Einzeleingaben Bürgerinnen oder Bürger auf Servicestellen hingewiesen habe, diese den an sie gerichteten Anforderungen gerecht geworden sind. Er betonte jedoch, dass für die weitere Arbeit und den Erfolg der Servicestellen nun wichtig sei, dass die Rehabilitationsträger dem gemeinschaftlichen Charakter in aller Konsequenz Rechnung tragen. Nach seiner Auffassung bedeutet dies praktisch: Behinderte Menschen oder ihre Vertrauenspersonen, die eine bei einem Träger angesiedelte Servicestelle aufsuchen, müssen so gestellt werden, als hätten sie alle Träger besucht. Anschließend befasste er sich mit Fragen im Zusammenhang mit der Klärung des zuständigen Rehabilitationsträgers und der Koordination und Kooperation zwischen den verschiedenen Rehabilitationsträgern. Gerade im letztgenannten Bereich sieht Haines Defizite. Auch die Vorbereitung gemeinsamer Empfehlungen im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) blieb seiner Ansicht nach bisher hinter den Erwartungen zurück, die die gesetzgebenden Körperschaften hatten.

Die Erfahrungsberichte der beteiligten Akteure wurden in der von Prof. Igl geleiteten Arbeitsgruppe „Umsetzung des SGB IX” vertieft diskutiert. In dieser Arbeitsgruppe referierte Bernd Steinke (BAR) über das Verfahren zur Ausarbeitung der gemeinsamen Empfehlungen.

Der dritte Teil der Veranstaltung stand unter der Überschrift „Das Konzept des SGB IX zur Konkretisierung der Leistungen zur Teilhabe: Wege zur subjektiven und objektiven Bedarfsgerechtigkeit”. Dieser Veranstaltungsblock bestand aus drei Plenarvorträgen, die später in Arbeitsgruppen kritisch diskutiert wurden. In seinem Vortrag mit dem Titel „Wunsch- und Wahlrechte und individuelle Konkretisierung” befasste sich Dr. Felix Welti (Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa) zunächst mit den Gründen für Wunsch- und Wahlrechte. Nach seiner Auffassung ist die Konkretisierung der Leistungen zur Teilhabe als Sach- und Dienstleistungen notwendigerweise individuell. Ferner sind für Welti Teilhabeorientierung, Selbstbestimmung und Nicht-Benachteiligung in der Rehabilitation verfassungsrechtlich verankert. Darüber hinaus müssen Teilhabeleistungen wirksam sein. Wirksame Dienstleistungen sind auf die Koproduktion der betroffenen Personen angewiesen, so Welti. Nach Erläuterung der Gründe für Wunsch- und Wahlrechte wendete er sich der Pflicht zur objektiven Individualisierung nach § 33 Satz 1 SGB I zu. Anschließend befasste er sich mit dem subjektiven Teil des Individualisierungsgrundsatzes, den das Wunsch- und Wahlrecht in § 9 SGB IX bildet. Er ging auf das Subjekt des Wunsch- und Wahlrechts ein und behandelte insbesondere die Frage nach der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts von Kindern und Jugendlichen. Ferner stellte er fest, dass das Wunsch- und Wahlrecht schon bei der Beratung, bei der Bedarfsfeststellung, Hilfeplanung und laufenden Hilfegestaltung zu berücksichtigen ist. Nicht nur Rehabilitationsträger, sondern auch Dienste und Einrichtungen müssen das Wunsch- und Wahlrecht beachten und beide müssen dazu die vertraglichen Voraussetzungen schaffen. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand die Frage, wann Wünsche „berechtigt” sind. Sie sind nach Welti dann berechtigt, wenn ihnen nicht „Recht” entgegensteht. Entgegenstehendes Recht kann etwa der Leistungsrahmen sein. Ob ein Wunsch dem Wirtschaftlichkeitsgebot entgegensteht, entscheidet sich am Leistungszweck, der wiederum durch die individuelle Teilhabe mitbestimmt wird. Welti befasste sich in diesem Zusammenhang auch mit den besonders hervorgehobenen Wünschen, die verfassungsrechtlich fundiert sind. In der anschließenden Arbeitsgruppe unter der Leitung von Reza Fakhreshafaei (Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa) wurde insbesondere das Thema „Wunsch- und Wahlrecht und persönliches Budget” intensiv und kontrovers diskutiert.

In seinem Vortrag zum Thema „SGB IX: Bedarfsgerechte Leistung und umfassende Rehabilitation” definierte Prof. Dr. Dr. Heiner Raspe (Institut für Sozialmedizin im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck) die Rehabilitation bei Erwerbstätigen - aus sozialmedizinischer Sicht - als eine zeitlich befristete, multimodale-multidisziplinäre, ärztlich koordinierte und verhaltensmedizinisch orientierte Intervention mit dem Ziel, das erwerbsbezogene Leistungsvermögen bzw. die konkrete Teilhabe am Arbeitsleben zu erhalten und ihren Gefährdungen vorzubeugen. Nach Raspe ist auf Bedarf an medizinischen Leistungen im Kontext einer sozialrechtlich verfassten Solidargemeinschaft allgemein zu erkennen, wenn ein Versicherter an einer nichttrivialen Gesundheitsstörung leidet bzw. einem nichttrivialen Gesundheitsrisiko unterliegt und die Leistung geeignet ist, die Störung bzw. das Risiko im Vergleich zum natürlichen Verlauf günstig zu beeinflussen. Die Effekte sind am Ziel der Leistung zu messen. Bedarf setzt also ein zielorientiert nachgewiesenes Nutzenpotenzial voraus. Dieses Potenzial muss nach Auffassung von Raspe evidenzbasiert geltend gemacht werden. Bedarfsgerecht ist also eine rehabilitative Leistung nur dann, wenn bei Gefährdeten durch sie das Ziel der weiteren Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann. Nach Raspe erfordert dies erstens den Nachweis der generellen Wirksamkeit des Leistungstyps bei ähnlich Gefährdeten und zweitens eine positive Rehaprognose im Einzelfall. Der Ansicht von Raspe zufolge hat die evidenzbasierte Medizin als regulative Idee, Konzept und Methodik jetzt auch die Rehabilitation erreicht. Er plädierte für eine zielgenauere, effektivere und effizientere Gestaltung der Rehabilitation und betonte, dass das Ziel der Rehabilitation schärfer fokussiert und das Repertoire ihrer Mittel erweitert werden kann. Seine Thesen stellte Raspe anschließend in der von Karl-Heinz Köpke (Hamburg) geleiteten Arbeitsgruppe zur Diskussion.

In dem Vortrag von Dr. Wolfgang Heine (Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation) mit dem Titel „SGB IX und Akutbehandlung” ging es zunächst um die Vorgaben des SGB IX für die medizinische Rehabilitation. Anschließend untersuchte er das Verhältnis der medizinischen Rehabilitation zur Akutbehandlung. Dabei ging Heine der Frage nach, ob und inwieweit das SGB IX für die Akutbehandlung Modellcharakter haben kann. Er wies zugleich auf die wachsende Bedeutung der Rehabilitation aufgrund demografischer und arbeitsmarktpolitischer Tendenzen hin. Nach Auffassung von Heine ist Rehabilitation im Rahmen einer integrierten Gesundheitsversorgung ein unabdingbarer Bestandteil. Die Thesen Heines wurden anschließend in der von Dr. Hubert Erhard (Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus Hamburg-Boberg) geleiteten Arbeitsgruppe vertieft erörtert.

Der nächste Veranstaltungsblock war dem „Vorrang von Rehabilitation vor Rente und Pflege” gewidmet. Den rechtlichen Rahmen zum Thema „Der Vorrang von Rehabilitation vor Rente” lieferte das Referat von Prof. Dr. Wolfgang Schütte (Hochschule für angewandte Wissenschaften, Hamburg). Schütte bezeichnete die Vorrangklausel in § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB IX als eine Konkretisierung der allgemeinen Prüfpflicht der Rehabilitationsträger, wenn Sozialleistungen im Kontext manifester oder drohender Behinderungen beantragt werden. Nachdem Schütte den normativen Rahmen der Vorrangklausel bestimmt hatte, ging er auf das Problem der Vergleichbarkeit von Renten- und Teilhabeansprüchen ein. Er vertrat die These, dass Renten- und Teilhabeleistungen nicht ohne weiteres substituierbar sind. In ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis können sie nur gebracht werden, wenn beiderseits die rechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. Anschließend befasste sich Schütte mit der Praxis der Rentenversicherungen, Rentenantragssteller vorzugsweise in psychosomatische Kliniken zu schicken und dort unter dem Deckmantel der Rehabilitation einem erweiterten Renten-Begutachtungsverfahren zu unterziehen. Diese Praxis verletzt nach Schüttes Auffassung Grundsätze des allgemeinen Rehabilitationsrechts. Seiner Ansicht nach spricht alles dafür, das Prinzip „Teilhabe vor Rente” dadurch zu verwirklichen, dass der vom Gesetzgeber vorgesehene Prüf- und Beratungsprozess möglichst früh, möglichst breit und möglichst beteiligungsintensiv einsetzt und abläuft. Der Rahmenvortrag von Schütte wurde konkretisiert durch das Referat von Andreas Oltzen (Referent für die Leistungsdezernate bei der LVA Schleswig-Holstein). Oltzen erläuterte zunächst den Stellenwert des Grundsatzes „Rehabilitation vor Rente” für die Dezernate der Leistungsverwaltung und ging anschließend auf die Umsetzungsprobleme ein, insbesondere die Reduzierung des Rehabilitationshaushalts und die teilweise fehlende Motivation der Versicherten. Er berichtete schließlich von einigen typischen Fallgestaltungen aus der Praxis des Leistungsdezernats eines Rentenversicherungsträgers im Umgang mit dem Grundsatz „Rehabilitation vor Rente”.

Der zweite Teil dieses Veranstaltungsblocks befasste sich mit dem „Vorrang von Rehabilitation vor Pflege”. Den rechtlichen Rahmenvortrag hierzu hielt Prof. Dr. Thomas Klie (Evangelische Fachhochschule Freiburg im Breisgau). Er stellte zunächst fest, dass die Träger der sozialen Pflegeversicherung keine Träger der Rehabilitation im Sinne des SGB IX sind. Das SGB IX hat ferner nicht den typischen Versicherungsfall des SGB XI vor Augen, den hochbetagten, pflegebedürftigen Menschen. Die faktische Diskriminierung dieser Menschen begegnet unter unterschiedlichen rechtlichen Gesichtspunkten, nicht zuletzt im Hinblick auf das Verbot der Altersdiskriminierung im europäischen Gemeinschaftsrecht erheblichen rechtlichen Bedenken, so Klie. Nach seiner Ansicht wird der im SGB IX verschiedentlich niedergelegte Vorrang von Rehabilitation vor Pflege in unzureichender Weise umgesetzt. Als maßgebliche Gründe hierfür nannte Klie die Trennung der Finanzierungslast von Erfolgsinteressen bei der geriatrischen Rehabilitation, allokative Fehlanreize, unzureichende Infrastruktur, fehlende Qualifikation der Ärzte und Pflegenden sowie Compliance- und Adhäsionsprobleme der Betroffenen. Um den Vorrang Reha vor Pflege strukturell zu verankern, bedarf es nach Ansicht Klies de lege ferenda Korrekturen im Leistungsrecht. Hierzu gehören die Berücksichtigung der Rehabilitations-Ermessensleistungen beim Risikostrukturausgleich, die Aufnahme der SGB-XI-Träger als Rehabilitationsträger und Wettbewerbsregelungen zwischen den Pflegekassen. Abschließend betonte Klie: Während das SGB XI die Behinderten diskriminiert, die das SGB IX vor Augen hat, lässt das SGB IX seinerseits die typischen Pflegebedürftigen außer Acht. Nach Klie lassen sich diese Ausgrenzungen fachlich nicht rechtfertigen. Er forderte ihre politische Überwindung. Der Rahmenvortrag von Klie wurde durch das Referat von Reinhild Waldeyer-Jeebe (Referatsleiterin Rehabilitation beim AOK-Bundesverband) konkretisiert. Sie erläuterte zunächst die Stellung des Grundsatzes „Rehabilitation vor Pflege” insbesondere aus der Sicht der gesetzlichen Krankenversicherungen. Sie berichtete, dass die Prüfung, ob Leistungen zur medizinischen Rehabilitation unter dem Gesichtspunkt „Reha vor Pflege” erforderlich sind, in der Praxis der Krankenkassen aufgrund eines Antrages des Versicherten, im Rahmen der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit, anlässlich der Prüfung oder Erbringung anderer Sozialleistungen wegen oder unter Berücksichtigung einer Behinderung oder einer drohenden Behinderung erfolgt. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung sowie der Altersstruktur von Leistungsempfängern in der Pflegeversicherung ist auf die Umsetzung des Grundsatzes „Reha vor Pflege” für ältere Menschen nach Ansicht von Waldeyer-Jeebe besonderes Augenmerk zu richten.

Der nächste Veranstaltungsblock unter dem Titel „Das SGB IX und der Zugang zu Leistungen zur Teilhabe” fand in Arbeitsgruppen jeweils mit einer Einführung statt. Die erste Arbeitsgruppe „Die gemeinsamen Servicestellen” wurde von Helmut Middendorf (BG Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) geleitet. Die Arbeit der gemeinsamen Servicestellen wurde in dieser Arbeitsgruppe kontrovers und intensiv diskutiert. Von den Vertretern der Rehabilitationsträger wurde angemerkt, dass das Angebot der gemeinsamen Servicestellen noch nicht im möglichen Umfang genutzt wird. Die hierfür maßgeblichen Gründe wurden von den Anwesenden unterschiedlich gewertet. Einigkeit herrschte jedoch darüber, dass mit einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit das Angebot der Servicestellen bekannter werden kann. Die Arbeitsgruppe plädierte schließlich für eine stärkere Zusammenarbeit der gemeinsamen Servicestellen mit anderen Akteuren des Rehabilitationssystems.

Die zweite Arbeitsgruppe „Die Kooperation der Rehabilitationsträger mit den Betrieben” stand unter der Leitung von Klaus Rojahn (BG Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege). In dieser Arbeitsgruppe erfolgte zunächst eine Zusammenfassung der wesentlichen Vorschriften, die die Kooperation mit den Betrieben tangiert. Anhand von praktischen Beispielen aus dem Bereich eines Sozialversicherungsträgers wurde der Zugang zu Leistungen zur Teilhabe in Kooperation mit den Betrieben dargestellt. Im Rahmen der Diskussion wurden Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven sowie die Frage nach einer verbesserten Zusammenarbeit der Sozialversicherungsträger für die künftige Kooperation mit den Betrieben erarbeitet. Dabei wurde auch die Frage einer gemeinsamen Qualitätssicherung erörtert.

Die dritte Arbeitsgruppe unter der Leitung von Dirk Liebold (Rechtsanwalt, Hamburg) befasste sich mit dem Thema „Die Kooperation der Rehabilitationsträger mit den niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern”. Zur Einführung referierte Peter Masuch (Richter am Bundessozialgericht) zunächst über die Hinweis- und Beratungspflicht der Ärzte nach dem SGB IX und erläuterte das Beratungskonzept nach den §§ 60, 61 SGB IX. Für die inhaltliche Ausfüllung der Beratungspflicht erwähnte Masuch die gerade neu gefassten Rehabilitationsrichtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 SGB V. In der anschließenden Diskussion wurde die Standardisierung des Verfahrens zur Einleitung der Rehabilitationsmaßnahmen thematisiert und auf die Möglichkeit der Nutzung von Vordrucken hingewiesen. Als problematisch wurde dabei vor allem von den niedergelassenen Ärzten der Umfang des Verfahrens sowie die bisherige vergütungsrechtliche Kompensation angesehen. Begrüßt wurde die Neufassung der Rehabilitationsrichtlinien, die die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen beschleunigen und vereinheitlichen sollen. Defizite wurden vor allem in der fachlichen Kompetenz der niedergelassenen Ärzte gesehen, Rehabilitationsbedürftigkeit zu erkennen. Alle Beteiligten waren sich einig, dass noch immer zahlreiche Umsetzungsprobleme zu lösen sind.

Die vierte Arbeitsgruppe unter der Leitung von Johannes Reimann (Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa) beschäftigte sich mit der „Kooperation der Rehabilitationsträger mit den Schulen”. Schwerpunkt der Diskussion war die Frage, auf welche Maßnahmen der Schulen einerseits und der Rehabilitationsträger andererseits behinderte Schüler Anspruch haben, damit sie mit Erfolg am Leben in der Schule teilhaben können. Ins Zentrum der Betrachtung rückte zunächst die Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 Nr. 4 Bundessozialhilfegesetz bzw. nach § 35 a SGB VIII speziell für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. Diskutiert wurde auch die noch immer weitgehend ungeklärte Abgrenzung der Zuständigkeiten der Schule einerseits und der Sozial- bzw. Jugendhilfe andererseits für die Sicherstellung des Schulerfolges behinderter Schüler. Im Zusammenhang mit der Unterstützung behinderter Schüler durch Hilfspersonen wurde auch der Bereich der Schulweghilfen angesprochen. Die Teilnehmer der Arbeitsgruppe hielten es für dringend erforderlich, im Schnittbereich der Eingliederungshilfe und der Zuständigkeit der Schule zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zu kommen. Angesprochen wurde ferner die Zusammenarbeit der Schulen mit den gemeinsamen Servicestellen. Zwar ist eine Zusammenarbeit gesetzlich nicht vorgesehen; dennoch wird sie vor allem von den Schulen gewünscht. Angeregt wurde in diesem Zusammenhang, dass die Servicestellen ihr Angebot bei den Schulen in ihrem Einzugsgebiet bekannt machen und ggf. Ansprechpartner benennen sollten. Die Vertreter der Servicestellen räumten ein, dass dort häufig noch das Fachwissen für die Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen fehlt. Die Ursache hierfür wurde vor allem darin gesehen, dass die Sozial- und Jugendhilfeträger sich bisher noch sehr zurückhaltend an der Arbeit gemeinsamer Servicestellen beteiligen. Die Arbeitsgruppe konnte feststellen, dass es ein breites Spektrum an Unterstützungsmöglichkeiten für behinderte Kinder und Jugendliche zur Sicherstellung ihres Schulerfolges gibt. Diese Unterstützungsangebote sind allerdings leider nur unzureichend miteinander verzahnt, so dass sie von den Betroffenen nicht optimal genutzt werden können.

Im letzten Teil der Veranstaltung ging es um Forschungsfragen des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe. Aus der Sicht der Rehabilitationswissenschaft informierte Prof. Raspe die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die aktuellen und künftigen Forschungsfelder. Den Ausblick aus rechtswissenschaftlicher Sicht präsentierte Dr. Welti. Er sieht die Aufgaben der rechtswissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Rehabilitation vorwiegend in der Systembildung und der Dialektik von Vereinheitlichung und Vielfalt im Verhältnis des SGB IX zu den einzelnen Leistungsgesetzen. Aber auch das Verhältnis der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben zur allgemeinen Arbeitsmarktpolitik und das Verhältnis der Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft zu einer inklusiven und integrativen Gesellschaftspolitik gehören nach Welti zu den rechtswissenschaftlichen Forschungsfragen. Zusammenfassend betonte Welti, dass die Rehabilitationsforschung mit einem fachübergreifenden Ansatz unter Einschluss der Rechtswissenschaften vor einer Fülle gesellschaftlich relevanter Fragen steht, die es zu bearbeiten gilt. Dass sie nicht zu den Modethemen im öffentlichen Diskurs gehört, muss nach Ansicht von Welti kein Nachteil sein. So kann sie versuchen, selbst einen Weg zu finden, der sowohl die nötige solide Grundlagenarbeit als auch ihre stärkere gesellschaftliche Vermittlung einbezieht. Nach den Ausführungen von Welti und der anschließenden Diskussion sprachen Hans-Egon Raetzell und Dr. Brandenburg die Schlussworte aus Sicht der Veranstalter.

Reza Fakhreshafaei

Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa, Universität zu Kiel

Olshausenstraße 40

24098 Kiel

eMail: rfakhreshafaei@instsociallaw.uni-kiel.de

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