Fortschr Neurol Psychiatr 2004; 72(7): 373-374
DOI: 10.1055/s-2004-818391
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kritisches über posttraumatische Belastungsstörungen

Criticizing Posttraumatic Stress DisorderK.  Heinrich
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Publikationsdatum:
14. Juli 2004 (online)

Ein Störungsbild kann dann als medizinisch etabliert gelten, wenn es in die international gültigen Diagnoseschemata ICD-10 und DSM IV aufgenommen wurde. Für die posttraumatischen Belastungsstörungen (PTB) ist dies der Fall. Diese Feststellung wird noch zusätzlich bestätigt, wenn eigene wissenschaftliche Publikationsorgane der Erforschung dieser Störung gewidmet werden. Tatsächlich ist in den letzten Jahren die posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder: PTSD) in der Psychiatrie und darüber hinaus in der Versicherungsmedizin und der Psychologie viel diskutiert worden. Schon vor der Einführung der posttraumatischen Belastungsstörung als eigenständiges Krankheitsbild in das amerikanische Diagnostic and Statistical Manual (DSM III) 1980 sind entsprechende menschliche Reaktionen auf schwere Belastungen gesehen und beschrieben worden. In der deutschsprachigen Psychiatrie wurde von Oppenheim 1889 der Begriff der traumatischen Neurose als psychophysiologische Reaktion auf schwere Belastungen eingeführt [1]. Die Geschädigten waren vor allem Opfer von Eisenbahn- und Industrieunfällen. Bereits damals wurde das Problem der Unterscheidung von traumatischer Neurose und Hysterie diskutiert. Da die Hysterie von vielen Autoren als durch Begehrensvorstellungen (Entschädigung, Rente) zumindest mitbestimmt angesehen wurde, ergab sich eine Tendenz, auch traumatische Neurosen in die Nähe der Hysterie zu rücken. Schon sehr früh wurden die Grenzen einer rein medizinisch-wissenschaftlichen Diskussion durch das Manifestwerden sozialer und politischer Gesichtspunkte gesprengt. Im Ersten Weltkrieg wurden Diagnostik und Behandlung der „Kriegsneurotiker” militärisch bedeutsam. Die „Kriegszitterer” wurden in den Lazaretten intensiv psychiatrisch behandelt, tatsächlich gelang es durch Psycho- und Elektrotherapie zahlreiche traumatisierte Soldaten zu „heilen”, d. h. sie wieder einsatztauglich zu machen. 1926 erkannte das Reichsversicherungsamt der traumatischen Neurose den Status einer zu berentenden Belastungsstörung ab. Der Einfluss sozialer Gegebenheiten auf die Manifestationsmöglichkeiten psychotraumatischer Belastungsreaktionen zeigte sich im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite dadurch, dass es der politischen und militärischen Führung gelang, entsprechende Erscheinungen zwar nicht völlig, aber doch wesentlich häufiger als 1914 - 1918 durch rücksichtslose Sanktionen zu unterdrücken.

Neben den Befürwortern des Konzeptes der posttraumatischen Belastungsstörung finden sich auch jetzt wieder, wie bei der Einführung der Diagnose der traumatischen Neurose, Kritiker, die u. a. darauf hinweisen, dass zu Unrecht eine monokausale Beziehung zwischen Trauma und Störung hergestellt werde. Einflüsse der Persönlichkeitskonstitution i. S. einer vorgegebenen verstärkten Bereitschaft zum posttraumatischen Reagieren werden offenbar nicht immer berücksichtigt. Die Konzeption des Störungsbildes der posttraumatischen Belastung ist nicht aus dem Kontext der spezifisch amerikanischen Erfahrungen des Vietnam-Krieges zu lösen. Charakteristisch für die Tendenz zur Ausweitung als gültig angesehener Ursachen ist, dass nicht mehr die prätraumatisch „normale Persönlichkeit” Diagnosekriterium ist. Verlassen wurde auch die Forderung, dass bei normaler Anpassungsfähigkeit des betroffenen Individuums die Störung bei Nachlassen der belastenden Faktoren von allein verschwinden müsse. Fabra wendet sich mit Recht gegen die in der psychiatrischen bzw. psychotherapeutischen Behandlungs-, aber auch Begutachtungspraxis anzutreffende Gewohnheit, „jederart psychogene Störung, die als Folge eines belastenden Lebensereignisses, etwa eines Unfalles, gekennzeichnet werden soll, als PTSD zu klassifizieren, ohne dass die Diagnosekriterien überprüft worden wären [2].” Krankheiten unterliegen durchaus Einflüssen des Zeitgeistes, wie Peters am Beispiel der wieder auflebenden Neurasthenie-Diagnose dargestellt hat [3]. Müdigkeit und Erschöpfung gehörten als Ausdruck der Überforderung durch das moderne Arbeitsleben im Gegensatz zu psychischen Erkrankungen zum gesellschaftlich anerkannten Krankheitsbestand. Durch ihre unterstellte Organizität sind sie sozial legitimiert. Für das subjektive Erleben eines Traumas gilt die soziale Legitimität mutatis mutandis in vergleichbarer Weise. Wenn auch mit Priebe u. Mitarb. [4] festzustellen ist, dass ein Trauma grundsätzlich als Ursache auch anhaltender seelischer Störungen infrage kommen kann, so müssen doch auch die Schwierigkeiten gesehen werden, die durch die forcierte Berücksichtigung individueller Bewältigungsmechanismen für die ätiologische Zuordnung der posttraumatischen Belastungsstörung entstehen. Priebe und seine Mitautoren weisen richtigerweise auf die Einflüsse des politisch-sozialen Kontextes hin. Die historische Betrachtung zeige, dass seit mehr als 110 Jahren Kontroversen um die Entwicklung, Klassifizierung und Behandlung psychischer Folgen von Extrembelastungen bestünden. Zur Zeit sei unklar, ob die Literatur zukünftig eher zu einer weiteren Differenzierung der PTSD oder zu deren Aufgabe tendieren werde. In ihrem Handbuchbeitrag registrieren Vermetten u. Mitarb. mit offensichtlicher Genugtuung, dass die Psychiatrie nun endlich anerkannt habe, dass traumatische Belastungen zu chronischen psychischen Störungen führen könnten, die posttraumatische Belastungsstörung und belastungsbedingte Reaktionen glichen jetzt aber „einem schnell fahrenden Zug, der droht, alles, was sich ihm in den Weg stellt, zu überrollen [5].” Diese Befürchtung wird dadurch bestärkt, dass die psychiatrische Literatur nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center Beiträge enthält, die erkennen lassen, dass es mancherorts zu einer sachlich ungerechtfertigten Ausweitung des Begriffs der posttraumatischen Belastungsstörung gekommen ist. Bei einer Telefonumfrage drei bis fünf Tage nach dem 11. September 2001 haben Schuster u. Mitarb. in den Vereinigten Staaten festgestellt, dass auch Menschen, die bei dem traumatisierenden Ereignis gar nicht anwesend waren, Belastungsreaktionen entwickeln können. Die Autoren fragten 560 erwachsene Amerikaner hinsichtlich ihrer Reaktionen auf den terroristischen Angriff und der Wahrnehmung der Reaktionen ihrer Kinder. Dabei ergab sich, dass 44 % der Erwachsenen über ein oder mehrere bedeutende Symptome der Belastung berichteten. 35 % der Kinder wiesen ein oder mehrere Belastungssymptome auf. Die Autoren schlossen aus ihren Befragungsergebnissen, dass auch Menschen, die nicht unmittelbar von traumatischen Ereignissen betroffen waren, sich wie Traumaopfer erlebten. Die meisten oder alle Amerikaner hätten sich mit den Opfern in New York identifiziert und die terroristischen Angriffe als gegen sich selbst gerichtet empfunden. Hier wird einer vor allem durch das Fernsehen vermittelten sekundären oder (bei den Kindern) vielleicht sogar tertiären posttraumatischen Belastungsstörung das Wort geredet.

Die Untersuchung von Schuster u. Mitarb. [6] kann beispielhaft zeigen, wie der Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung i. S. einer subjektiven Viktimisierung ausgeweitet werden kann und dadurch in Gefahr gerät, seine diagnostische Trennschärfe zu verlieren. Nationale Empörung und Betroffenheit werden so zu bestimmenden Faktoren für die Definition eines medizinischen Sachverhaltes, der seine inhaltliche und terminologische Brauchbarkeit durch expansive sozialpsychologische Unschärfe verliert. Die Liste der posttraumatischen Beschwerden lässt erkennen, dass es sich zum Teil um Symptome bzw. Erlebensweisen handelt, die auch bei zahlreichen anderen körperlichen und seelischen Störungen auftreten können, so dass die Frage der konstitutionellen oder durch andere Schädigungen hervorgerufenen Dispositionen zur Ausbildung eines posttraumatischen Belastungssyndroms zu stellen ist. Die undifferenzierte kausale Verknüpfung von Trauma und posttraumatischen Störungen kann vor allem bei der Überbetonung des subjektiven Erlebnisfaktors in die Irre führen. Dies zeigt sich vor allem auch im Falle der notwendigen Begutachtung nach traumatisierenden Ereignissen. Dabei spielt dann das sog. A-Kriterium, nach dem das die Erkrankung auslösende Lebensereignis außerhalb des allgemeinen menschlichen Erfahrungszusammenhanges gelegen haben müsse [2], keine Rolle mehr. Historisch und aktuell sind posttraumatische Belastungsstörungen offensichtlich nicht losgelöst vom Kontext sozialer Leitideen zu betrachten. Das zeigt auch die umfassend und praxisrelevant über diese Diagnosekategorie orientierende Arbeit von Frommberger in diesem Band [7]. Zwischen Überdehnung der Gültigkeit der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörungen und der Notwendigkeit ihrer intensiveren Berücksichtigung in bestimmten medizinischen Disziplinen muss ein rationaler Modus des Diagnostizierens aufrechterhalten bzw. gefunden werden. Diese Ausgewogenheit der Standpunkte ist noch nicht überall erreicht.

Literatur

  • 1 Oppenheim H. Die traumatischen Neurosen. Berlin: Hirschwald 1889
  • 2 Fabra M. Das so genannte Traumakriterium (A-Kriterium des DSM IV) der Posttraumatischen Belastungsstörung und seine Bedeutung für die Sozial- und Sachversicherung (I).  Versicherungsmedizin. 2002;  54 179-181
  • 3 Peters U H. Die Neurasthenie als ewiger Wiedergänger.  Fortschr Neurol Psychiat. 2002;  70 569
  • 4 Priebe S, Nowak M, Schmiedebach H-P. Trauma und Psyche in der deutschen Psychiatrie seit 1889.  Psychiat Prax. 2002;  29 3-9
  • 5 Vermetten E, Charney D S, Bremner J D. Posttraumatische Belastungsstörung. In: Helmchen H, Henn F, Lauter H, Sartorius N (Hrsg). Psychiatrie der Gegenwart. 4. Aufl Berlin, Heidelberg, New York: Springer 2000: 59-136
  • 6 Schuster M A, Stein B D, Jaycox L H, Collins R L, Marshall G N, Elliott M N, Zhou A J, Kanouse D E, Morrison J L, Berry S H. A national survey of stress reactions after the september 11, 2001, terrorist attacks.  New Engl J Med. 2001;  345 1507-1512
  • 7 Frommberger U. Akute und chronische posttraumatische Belastungsstörung.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 411-424

Prof. Dr. med. K. Heinrich

Rheinische Kliniken - Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Bergische Landstraße 2

40629 Düsseldorf