Rofo 2004; 176(1): 15-17
DOI: 10.1055/s-2004-814674
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Radiologie und Allgemeinmedizin

Radiology and General PracticeK.-J.  Wolf1 , K.  Villringer1 , P.  Mitznegg2
  • 1Klinik und Hochschulambulanz für Radiologie und Nuklearmedizin Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
  • 2Klinik und Hochschulambulanz für Allgemeinmedizin, Naturheilkunde, Psychosomatik und Psychotherapie Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin
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Publication Date:
08 January 2004 (online)

Im Rahmen der aktuellen Reformen der Gesundheitsgesetzgebung wird die Stellung der Allgemeinmedizin in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung deutlich gestärkt. Der zukünftige Hausarzt ist der Facharzt für Innere- und Allgemein- Medizin. Die Relation der Zahl von Hausärzten zu Fachärzten soll auf eine Zielgröße von 60 : 40 zu Gunsten der Allgemeinmedizin verschoben werden. Auch qualitative Veränderungen der Tätigkeit des Allgemeinmediziners sind angestrebt.

Das traditionelle Verständnis der Allgemeinmedizin wandelt sich rasch und nachhaltig [1]. Von dem Allgemeinmediziner wurden bisher gute Kenntnisse der gesamten Medizin erwartet, allerdings oft unter Verzicht auf tiefer gehendes Wissen in einzelnen Subdisziplinen. Der Allgemeinmediziner bezog seine berufliche Qualifikation aus der universitären Ausbildung, Publikationsorganen, sowie kontinuierlicher medizinischer Fortbildung unter Einbeziehung entsprechender Fortbildungsveranstaltungen. Die persönliche berufliche Erfahrung und die direkte persönliche Kommunikation mit seinem eigenen und dem patientenbezogenen sozialen Umfeld haben für seine tägliche Arbeit überragende Bedeutung.

Die Tätigkeitsprofile des Allgemeinmediziners zeigen im internationalen Vergleich beträchtliche Unterschiede. So ist die „Gate-Keeper-Funktion” z. B. in den skandinavischen Ländern und Großbritannien besonders ausgeprägt, die Möglichkeiten im Rahmen von Gesundheitszentren zu arbeiten ist in Finnland gegeben, auch unter Nutzung von diagnostischen Großgeräten. In anderen Ländern, wie z. B. in der Schweiz und in den USA können spezielle Verträge mit Hospitälern, Fachärzten und Apotheken geschlossen werden [2].

Das Spektrum der Diagnosen in der allgemeinmedizinischen Praxis zeigt eine Gewichtung im Bereich Wirbelsäule und Gelenke (12 %), der Herzbeschwerden (10,6 %), Gefäßerkrankungen (4,9 %), abdomineller Probleme (4,5 %), Infektionen des oberen Respirationstraktes (3,6 %), Diabetes (3,4 %). Chronische Erkrankungen sind verantwortlich für ca. 80 % von Morbidität und Mortalität, akute lebensbedrohliche Erkrankungen sind selten. Sehr bemerkenswert ist die geringe Zahl von Patienten, die ins Krankenhaus eingewiesen werden, nur 3 % [3] [4] [5]. Hieraus ergibt sich, dass der Allgemeinmediziner ganz überwiegend mit komplexen Problemen konfrontiert wird, der typische Fall einer definierten Krankheit ist die Ausnahme.

Im Zuge der Diskussion um die gestiegenen Kosten bzw. die verringerten Einnahmen, der gesteigerten Lebenserwartung, Rückgang der Geburtenrate, der Änderung der Krankheitsspektren, ist der Kostenvergleich zwischen Allgemeinmediziner und Facharzt bei der Behandlung vergleichbarer Krankheitsbilder besonders interessant. So zeigt eine veröffentlichte Analyse aus dem Jahr 1999, dass z. B. bei der Versorgung einer Struma durch den Allgemeinarzt die Kosten um 44 %, bei muskulären Erkrankungen um 48 % geringer sind als bei der fachärztlichen Versorgung. Die durchschnittlichen Behandlungskosten durch Allgemeinmediziner liegen ca. 23 % unter denen der Fachärzte bei identischen Krankheitsbildern [6]. Im Gefolge auch solcher Diskussionen hat die „World Organization of National Colleges, Academies and Academic Associations of General Practitioner/Familiy Physicians” eine neue Definition des Allgemeinmediziners vorgelegt [1].

Demnach ist die Allgemeinmedizin eine eigenständige akademische und wissenschaftliche Disziplin. Sie verfügt über eigene Ausbildungszusammenhänge, Forschung, Evidenzbasierungen, klinische Aktivität; sie ist eine klinische Spezialität, die sich an dem Ziel der Primärversorgung orientiert [5].

Die Kernkompetenzen dieses so definierten Allgemeinmediziners modernen Zuschnitts sind die primäre Patientenversorgung, die personenorientierte Versorgung unter Einsatz spezifischer Problemlösungsfähigkeiten unter Einbeziehung des Lebensumfeldes bzw. der Lebensumstände des betreffenden Patienten. Man kann somit von einem holistischen Modell sprechen. Seine wesentlichen zukunftsweisenden Tendenzen sind die „Gate-Keeper-Funktion” im Sinne eines Ratgebers beim ersten Patientenkontakt, Kommunikation und Kooperation mit Spezialisten und Steuerung der Hospitaleinweisung. Zu nennen sind des weiteren Zuständigkeit für Krankheitsmanagementprogramme im Sinne von Prävention, primärer medizinischer Versorgung, Koordination und Integration von Diagnostik und Therapie sowie Rehabilitation. „Doctorhopping” muss gezielt vermieden werden [2].

Der moderne Allgemeinmediziner ist Hausarzt mit vieljähriger Kontinuität, personenorientiertem Zugang unter Einbeziehung von psychosozialen Faktoren des patientenspezifischen Umfeldes, er bündelt medizinische, soziale und psychologische Hilfe und spielt eine Schlüsselrolle bei der Prävention. Die hieraus sich ergebenden strukturellen Konsequenzen sind erheblich, insbesondere wenn man die Empfehlung der WHO 1998 bedenkt [7]. Sie empfiehlt die Allgemeinmedizin als Grundlage der Entwicklung moderner Gesundheitssysteme in den früheren Ostblockländern. Jedoch keinesfalls ausschließlich dort, sondern auch in westlichen Industriestaaten, so strebt man in Deutschland eine Relation von Allgemeinmedizinern zu Spezialisten von 60 : 40 an [7]. Die genannten Entwicklungstendenzen sind für die Radiologie von erheblicher Bedeutung. Allgemeinmedizin und Radiologie haben keine oder allenfalls geringe Konflikte im Sinne von „turf-battles”. Aus Sicht der Radiologie stellt sich somit das Problem der Selbstzuweisung im Sinne einer Konkurrenz von Seiten der Allgemeinmedizin nicht. Für beide Fächer ist eine Vertiefung und die Entwicklung neuer Wege in Kooperation und Kommunikation zukunftsweisend. Die Radiologen werden zunehmend von den Allgemeinmedizinern mit Fragen konfrontiert, denen wir bisher zu wenig Bedeutung beigemessen haben.

Der Allgemeinmediziner sieht sich unselektionierten komplexen Gesundheitsproblemen gegenüber, selten typischen und schweren Erkrankungen [3] [4]. Bedeutet ein solches Problem das Vorliegen einer definierten Krankheit oder gehört es in ein komplexes Bild multipler, unter Umständen nicht zusammenhängender Symptome?

Bei gleichzeitiger Behandlungsbedürftigkeit mehrerer Beschwerden und Pathologien - welchen Beschwerden kommt besondere Relevanz zu? Einleitend war auf die niedrige Inzidenz schwerer Erkrankungen in der Sprechstunde des Allgemeinmediziners hingewiesen worden. Hieraus ergibt sich die Frage, ob die überwiegend von Klinikern bzw. Spezialisten empfohlenen Indikationslisten zur Durchführung weiterer Untersuchungen wirklich auf die Bedürfnisse der allgemeinmedizinischen Sprechstunde zugeschnitten sind? Sind die existierenden diagnostischen Tests ausreichend sensitiv für frühe Erkrankungsstadien?

Die Allgemeinmedizin benutzt den Begriff der selbstheilenden Symptome. Ein nicht unerheblicher Teil der alltäglich von Patienten aufgeführten Beschwerden werden in diese Kategorie eingeordnet, d. h. die zeitliche Verlaufskontrolle ist Diagnostik und Therapie zugleich [8].

Können wir hilfreich sein, zwischen selbstheilenden und lebensbedrohlichen Symptomen zu differenzieren? Das Wissen des Klinikers und Spezialisten z. B. im Rahmen von Evidence Base, Effizienz usw. entstammt einer oft hochselektionierten, limitierten Umgebung. Sind diese Kenntnisse auf die persönliche Umgebung des Patienten in einer völlig unterschiedlichen Umwelt übertragbar? Werden Disease Management Programme und „Gate Keeping” wirklich aus der individuellen Situation und Umgebung des Betroffenen erarbeitet? [9].

Es sei nochmals hingewiesen, dass nur 3 % der Patienten des Allgemeinmediziners den Weg ins Krankenhaus [6] und nur 10 - 15 % zum Spezialisten [1] finden. Auch die Erfahrungen des Radiologen basieren auf hochgradiger Selektion seines untersuchten Patientenkollektives. Können die Radiologen weitergehende Hilfe leisten bei der schwerwiegenden Entscheidung, Fortführen oder Einstellen von Diagnose und Therapie unter Einbeziehung der persönlichen Lebensbedingungen des Patienten?

Die modernen Radiologen sind besonders kompetent auf dem Gebiet der Informationserzeugung und Informationsübermittlung. Gibt es möglicherweise gemeinsam nutzbare IT-Strukturen wie Befundarchiv, Wiedereinbestellungsregister o.ä?

Die Allgemeinmedizin ist ein schwergewichtiger Partner für die Radiologie, ein Partner, der noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Das Bild einer natürlichen Koalition zwischen diesen beiden bietet sich an. Könnten im Rahmen von CME gemeinsame Fortbildungsprogramme zu o. g. Themen denkbar sein? Zu entwickelnde Leitlinien müssten auf die speziellen Bedingungen des Allgemeinmediziners bzw. seines Patienten zugeschnitten sein. Aus diesen Darlegungen ergibt sich nahe liegend, dass der Allgemeinmediziner nicht nur kompetente, sondern auch umfassend ausgebildete radiologische Partner benötigt, ein Grund mehr, sich für den Erhalt des Faches Radiologie in seiner gesamten Breite einzusetzen.

Literatur

  • 1 Meyer R L. Definition der Allgemeinmedizin im Laufe der Zeit.  Schweizerische Ärztezeitung. 2002;  83 2681-2690
  • 2 Schneider A, Szecsenyi J. Disease-Management-Programme - Chance oder Bedrohung der allgemeinärztlichen Identität.  Z Allg Med. 2002;  78 393-397
  • 3 Klemm H D. Allgemeinmedizin. Stuttgart; Ferdinand Enke Verlag 1994 18
  • 4 Kreonke K, Mangeldorff A D. Common symptoms in ambulatory care: incidence, evaluation, therapy and outcome.  Am J Med. 1989;  86 262-266
  • 5 Stellungnahme des Wissenschaftsrates. Stellungnahme zu den Perspektiven des Faches Allgemeinmedizin an den Hochschulen DRS. 3848/98 Berlin 22. Januar 1999
  • 6 Schütz J. Hausarzttarife auf dem Vormarsch. Der Hausarzt 1999 19: 16
  • 7 WHO nach Ram P. Comprehensive assessment of general practitioners A study on validity, reliability and feasibility.  Maastricht University Thesis 1998
  • 8 Landolt P. Apropos Forschung in Allgemeinmedizin.  PrimaryCare. 2001;  1 768-770
  • 9 Gerlach F M, Szecsenyi J. Warumsollten Disease-Management-Programme hausarztorientiert sein? - Gründe, Grenzen und Herausforderungen. Deutsches Ärzteblatt (Supplement) 2002: 20-26

Prof. Dr. med. Dr. h. c. K.-J. Wolf

Klinik und Hochschulambulanz für Radiologie und Nuklearmedizin Charité - Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin

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