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DOI: 10.1055/s-2004-814529
Der Anästhesist als „human factor” im System operativer Versorgung
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. Juni 2004 (online)
In den letzten zwei Jahrzehnten konnte das Mortalitätsrisiko einer Allgemeinanästhesie deutlich gesenkt werden. Gegenwärtig beträgt es 0,05 - 10 pro 10 000 durchgeführte Anästhesien [1]. Obwohl sehr sichere Verfahren zur Verfügung stehen, ist für einen ansonst gesunden Patienten das Risiko bei einer Anästhesie zu versterben statistisch immer noch deutlich höher als für einen Flugpassagier die Wahrscheinlichkeit, bei einem Absturz (1 : 755 000) umzukommen [2].
„Menschliches Versagen” gilt seit den späten 70er-Jahren mit einem Anteil von bis zu 80 % als Hauptursache vermeidbarer Anästhesiezwischenfälle [3]. Ansätze zur Fehlerminimierung wie verbesserte Ausbildung, verstärkte Supervision des Anästhesisten, bessere Organisationsstrukturen, stärkere Berücksichtigung von Interaktionen zwischen Anästhesiegeräten und Anästhesisten sowie der Einsatz von zusätzlichen Überwachungsparametern [4] konnten den Anteil „menschlichen Versagens” an vermeidbaren anästhesiologischen Zwischenfällen bis heute nur unwesentlich auf 60 - 75 % senken [1].
Ein Report im Auftrag der amerikanischen Regierung [5] führte zu einer Fokussierung auf vermeidbare Zwischenfälle in der Medizin sowohl in den Fachgesellschaften als auch in den Medien. Danach versterben in den USA aufgrund medizinischer Fehlentscheidungen, dem „menschlichen Versagen”, jährlich zwischen 44 000 und 96 000 Personen. Dieses Ergebnis übertrifft bei weitem die Zahl der Verkehrstoten (43 458 Personen) oder die sehr stark in der Öffentlichkeit wahrgenomme Zahl an HIV-Verstorbenen (16 515 Personen).
Unter dieser Prämisse ist der Anästhesist selbst - ebenso wie der Operateur - ein „human factor”, der sowohl Mortalität als auch klinisches Ergebnis mitbestimmt und an seiner optimalen Leistung höchstes Interesse haben muss.
Während der operativen Versorgung sind für den Anästhesisten und den Operateur drei Komponenten maßgeblich: die Technik, die sie in den zu erfüllenden Aufgaben unterstützt, die Organisation, die eine reibungslose und effiziente Erledigung der Aufgaben ermöglicht, und sie selbst, die durch klinische Kompetenz ein optimales Ergebnis unter Einbindung von Technik und Organisation erzielen wollen.
In der Vergangenheit sind sehr viele Anstrengungen unternommen worden, um bei den Faktoren Technik und Organisation Fortschritte zu erzielen. Verbesserte und weniger fehleranfällige Narkosegeräte, eine steigende Zahl in die Überwachung einbezogener Parameter oder Datenmanagementsysteme, die patientenrelevante Informationen ohne zeitliche Verzögerung zur Verfügung stellen können, sind dafür sichtbarer Ausdruck. Dennoch lassen sich viele Handlungen, die als menschliches Versagen gewertet wurden, auch weiterhin fehlerhaften Systemprozessen zuordnen. So wird in der klinischen Anästhesie eine nicht erkannte ösophageale Fehlintubation als menschliches Versagen gewertet. Deren dokumentierte Inzidenz ist jedoch so gering, dass ihre Zahl in einer aktuellen Statistik zu anästhesiebedingten Herzkreislaufstillständen nicht auftaucht [6]. Demgegenüber werden präklinisch unbemerkte Fehlintubationen mit einer Inzidenz von 0,5 % [7] in Deutschland und bis zu 25 % [8] in den USA genannt. Während in Deutschland eine präklinische Fehlintubation ein Verschulden des behandelnden Arztes und damit menschliches Versagen bedeutet, werden in den USA die erschwerten Bedingungen und die unzureichende Überwachungsmöglichkeit der präklinischen Tätigkeit in den Vordergrund gestellt und als Systemfehler gewertet [9]. Eine individuelle Schuldzuweisung erfolgt nicht. Diese Einschätzung zeigt, dass Defizite trotz gleicher Ausgangsbedingungen sowohl individueller Fehlleistung als auch Systemfehlern zugeordnet werden, ohne dass eine rationale Begründung für die unterschiedliche Betrachtungsweise vorhanden ist.
Es gibt nur wenige Untersuchungen zu individuellen Leistungsunterschieden unter Anästhesisten. Dabei sind es individuelle, in der Persönlichkeit des Einzelnen liegende „human factors”, die die Güte anästhesiologischer Leistung im Positiven wie Negativen definieren. Deren Kenntnis kann helfen, im Bezug das Risiko von anästhesiologischen Fehlentscheidungen zu verringern. Zu den Faktoren, die die Leistungsfähigkeit des Anästhesisten modifizieren können, zählen physiologische Befindlichkeit, Persönlichkeitsstruktur und persönliche Einstellung, interindividuelle Variabilität, Ausbildungsstand und Erfahrung, Wissensverluste sowie Kommunikationsfähigkeit.
Literatur
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Dr. H. Kuhnigk
Klinik für Anästhesiologie der Universität Würzburg
Josef-Schneider-Straße 2 · 97080 Würzburg
eMail: kuhnigk_h@klinik.uni-wuerzburg.de