Klin Monbl Augenheilkd 2005; 222(1): 62-63
DOI: 10.1055/s-2004-813884
Offene Korrespondenz

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Visusminderung durch COX-2-Hemmer und die Folgen nach der freiwilligen Rücknahme von VIOXX

C. H. Meyer1
  • 1Philipps-Universität Marburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
28 January 2005 (online)

Das millionenfach verordnete Schmerz- und Rheumamittel VIOXX®/VIOXX®DOLOR (Rofecoxib) ist zum 30.9.2004 von Merck & Co. weltweit vom Markt genommen worden. Die Entscheidung des Konzerns basiert auf neuen 3-Jahresdaten aus einer prospektiven, randomisierten, plazebokontrollierten klinischen Doppelblindstudie, der so genannten APPROVe(Adenomatous Polyp Prevention on VIOXX)-Studie, an der auch Zentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt sind [1] [2] [3] [4] [5].

In dieser Langzeitstudie sollte die Wirksamkeit von VIOXX 25 mg auf das Wiederauftreten neoplastischer Polypen des Dickdarms überprüft werden. Bei dieser Studie wurde, verglichen mit der Plazebogruppe, nach mehr als 18 Einnahmemonaten von VIOXX ein erhöhtes relatives Risiko kardiovaskulärer Ereignisse, z. B. von Herzinfarkten und Schlaganfällen, beobachtet. Nach vorläufigen Auswertungen stehen 25 bestätigte kardiovaskuläre Komplikationen pro 3315 Patientenjahre unter Plazebo (0,75 Ereignisse pro 100 Patientenjahre) 45 kardiovaskulären Komplikationen pro 3041 Patientenjahre unter Rofecoxib (1,48 Ereignisse pro 100 Patientenjahre) gegenüber. Das relative Risiko beträgt 1,96 (95 %-Konfidenzintervall 1,20 bis 3,19, p = 0,0071). Dies bedeutet eine Verdoppelung des Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen. Deshalb forderte das externe Safety Monitoring Board am 23. September den Abbruch der Untersuchung und MSD zog daraufhin die Arznei freiwillig zurück.

Laut Statistik haben 80 Millionen Menschen weltweit das Medikament eingenommen und der Hersteller machte nach eigenen Angaben 2003 mit VIOXX weltweit mehr als 2,5 Milliarden Dollar Umsatz. Nach Angaben der US-Arzneimittelbehörde FDA hätten zwischen 1999 und 2003 möglicherweise knapp 28 000 Herzattacken und Herztode vermieden werden können, wenn statt VIOXX ein anderes Medikament eingenommen worden wäre. Nach Hochrechnungen von Prof. Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln, könnte es auch in Deutschland bis zu 2700 Fälle von Herzinfarkten, Thrombosen oder Schlaganfällen im Zusammenhang mit VIOXX gegeben haben.

Auch am Auge sind zahlreiche Nebenwirkungen beschrieben worden [6]. Das internationale Arznei-Monitoring-Zentrum der World Health Organization registrierte bis Mai 2003 über nahezu 500 akute temporäre Sehbeeinträchtigungen nach Einnahme von Celecoxib (Celebrax, Pfizer) (n = 230) oder Rofecoxib (VIOXX, Merck) (n = 244). Die nationale Behörde für Arzneimittel-Monitoring in Neuseeland berichtete ebenfalls über 9 Visusminderungen bei Einnahme von VIOXX oder Celebrax seit Ende 2000 [7]. An der Augenklinik Marburg haben wir bei einer Patientin zwei Tage nach Einnahme von VIOXX 25 mg eine Zentralvenenthrombose beobachtet [8]. Ein weiterer Patient erlitt eine Astvenenthrombose zwei Tage nach Erhöhung seiner VIOXX-Dosis von 0,25 mg auf 0,5 mg [9]. In beiden Fällen als auch in einem dritten Fall aus den USA, bei dem wir konsultiert wurden, konnten keine anderen Risikofaktoren als Ursache für die Thrombose am Auge ausgemacht werden [10]. Diese Beobachtungen zeigen, dass auch die mögliche Dunkelziffer von retinalen Thrombosen am Auge möglicherweise noch weit unterschätzt wird. Es wird aber weiterhin deutlich, dass auch, nachdem VIOXX vom Markt genommen wurde, die potenzielle Gefahr von COX-2-Hemmern nicht gebannt ist.

Nichtsteroidale antiinflammatrische Medikamente (NSAIM) gehören zu den meistverschriebenen Medikamenten und werden regelmäßig bei akuten und chronischen Entzündungen wie rheumatoider Arthritis oder chronischer Osteoarthritis verschrieben [11] [12] [13]. Konventionelle NSAIM hemmen zwei verschiedene Isoformen der so genannten Zyklooxygenase(COX)- 1 und COX-2. COX-1 ist ein zytoprotektives Enzym, welches verschiedene strukturelle Elemente, besonders der Darmmukosa, schützt. COX-2 dagegen produziert Prostaglandine und steigert die Entzündungsreaktion. Neuartige selektive COX-2-Hemmer wurden in der Erwartung entwickelt, gleiche antiinflammatorische Effekte, aber weniger Nebenwirkungen zu haben. COX-2-Hemmer haben aber zwei potenzielle negative Effekte: Zum einen blockieren COX-2-Hemmer Prostazyklin (PGI2), welches eine Schlüsselrolle bei Entzündungsprozessen spielt und normalerweise die Plättchenaggregation vermindert; zum anderen fördern COX-2-Hemmer die Thromboxan-A2(TXA2)-Produktion, welche ebenfalls die Blutplättchenaggregation fördert. Durch das Ungleichgewicht von TXA2 und PGI2 wird die vaskuläre Hämostase moduliert und es können spontane Thrombosen gefördert werden [14] [15] [16].

Sofern dem Unternehmen tatsächlich mangelhafte Informationen über bekannte Risiken nachgewiesen werden, könnten laut der Fach- und Regenbogenpresse eine Klagewelle und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche auf den Konzern zukommen. Entscheidend wird die Frage sein, ob ein Herzinfarkt wirklich auf die Einnahme von VIOXX zurückzuführen ist oder ob auch andere Faktoren wie Rauchen, Essgewohnheiten oder Bewegungsarmut den Infarkt herbeiführen könnten. Die Deutsche Rheuma-Liga in Bonn hat eine Liste eingerichtet, in die sich VIOXX-Patienten eintragen lassen können. Sie erhalten dann weitere Informationen über die Entwicklung und Klagemöglichkeiten. Beobachter schätzen, dass die juristischen Auseinandersetzungen den Konzern fünf bis sechs Milliarden Dollar, ggf. auch mehr, kosten könnten.

Die Geschäfte für die Pharmakonzerne werden künftig noch schwieriger werden, da sich die Schere zwischen Entwicklungskosten und Verkaufspreisen weiter öffnet. Es lässt sich zwar mit kaum einem Produkt so viel Geld verdienen wie mit Medikamenten. Ein oder zwei „Blockbuster”, also Medikamente mit einem Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Dollar, können die Margen in den zweistelligen Prozentbereich katapultieren. Der Fall VIOXX zeigt aber, dass das Pharmageschäft mittlerweile ein kaum noch kalkulierbares Risiko ist. Viele gebräuchliche Substanzen, welche heute als unverzichtbar oder gar Goldstandards gelten, hätten vermutlich keine Überlebenschance, würden ihre Neuentwicklung und Zulassung in die Gegenwart versetzt. Die Unternehmen geben für Forschung und Entwicklung rund 800 Millionen Dollar aus, ehe ein neues Produkt auf den Markt kommt. Die Ablehnung eines Medikaments durch die Gesundheitsbehörde kann alle wirtschaftlichen Hoffnungen zunichte machen. Im Fall der schmerzlindernden COX-2-Hemmer droht sogar das Aus für die gesamte Produktgruppe. Künftig sollen die Firmen gezwungen werden, eigene Studien zu veröffentlichen, die sie nach der Markteinführung ihrer Medikamente erstellen. Kommen dabei unangenehme Wahrheiten über Nebenwirkungen ans Licht, dürfte das für so manches andere Medikament das Aus bedeuten. Hinzu kommt, dass den Unternehmen nach der Markteinführung nicht viel Zeit bleibt, ihre Kosten wieder hereinzuholen. Viele Versicherungen sind immer seltener bereit, die hohen Preise für die Medikamente zu zahlen, und die Patentrestlaufzeit vieler Produkte beträgt bei Zulassung dann oft nur noch acht bis zwölf Jahre, bevor durch billige Generika hohe Umsatzeinbrüche drohen.

Der „VIOXX-Fall” ist nicht nur auf Merck begrenzt, da auch andere Firmen Produkte mit den gleichen COX-2-hemmenden Wirkstoffgruppen entwickeln. So steigt derzeit zwar die Verkaufszahl von Pfizers Schmerzmittel Celebrex kräftig an, da viele Patienten darauf umsteigen. Dennoch sind auch hier ebenfalls erhöhte Risiken festgestellt worden [17]. Auch beim Baseler Pharmakonzern Novartis beobachtet man den „VIOXX-Fall” genau, da ein eigenes Schmerzmittel kurz vor der Zulassung steht.

Mit der Rücknahme von VIOXX vom Markt ist also die potenzielle Gefahr von COX-2-Hemmern nicht gebannt. Das Wissen um das Auftreten von Thrombosen am Auge nach Einnahme von COX-2-Hemmern ist in der ophthalmologischen Fachpresse weitestgehend unbekannt. In Zukunft sollte bei neu auftretenden Thrombosen am Auge unbedingt die Frage nach Einnahme von Schmerzmitteln gestellt werden. Verdachtsfälle sind unverzüglich der deutschen Arzneimittelkommission zu melden.

Literatur

  • 1 Krüger K. Refecoxib - Aus für den Klassenprimus.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  101 2365-2366
  • 2 FitzGerald G A. The coxibs and cardiovascular disease.  N Engl J Med. 2004;  351 1709-1710
  • 3 Topol E J. Failing the public health - Refecoxib, Merck and the FDA.  N Engl J Med. 2004;  351 1707-1709
  • 4 Josefson D. FDA warns Merck over its promotion of rofecoxib.  BMJ. 2001;  323 767
  • 5 FitzGerald G A, Patrono C. The coxibs, selective inhibitors of cyclooxygenase-2.  N Engl J Med. 2001;  345 433-442
  • 6 Goldberg D, Panigrahi D, Barazi M. et al . A Case of Rofecoxib-Associated Stevens-Johnson Syndrome With Corneal and Conjunctival Changes.  Cornea. 2004;  23 736-737
  • 7 Coulter D M, Clark D W, Savage R L. Celecoxib, rofecoxib, and acute temporary visual impairment.  BMJ. 2003;  327 (7425) 1214-1215
  • 8 Meyer C H, Gähler R. Central retinal vein occlusion (CRVO) in a patient with rheumatoid arthritis treated with rofecoxib.  Lancet. 2002;  360 110
  • 9 Meyer C H, Mennel S, Rodrigues E B. Retinal vein occlusion in patients treated with rofecoxib (VIOXX) MD. BMJ/eletters/327/7425/1214. 
  • 10 Meyer C H, Schmidt J C, Rodrigues E B. et al . Risk of retinal vein occlusions in patients treated with rofecoxib (VIOXX).  Ophthalmologica. 2004 (in press); 
  • 11 Fleming M. Cardiovascular events and COX-2 inhibitors.  JAMA. 2001;  286 2808
  • 12 Gottlieb S. COX 2 inhibitors may increase risk of heart attack.  BJM. 2001;  323 (7311) 471
  • 13 Hinz B, Brune K. Gastric protective pain therapy. What is the advantage of new COX-2 inhibitors?.  MMW Fortschr Med. 2000;  142 39-40
  • 14 Zeidler H. New study of selective COX-2 inhibitors. Protecting the stomach while risking the heart?.  MMW Fortschr Med. 2001;  143 14
  • 15 Cheng Y, Austin S C, Rocca B. et al . Role of prostacyclin in the cardiovascular response to thromboxane A2.  Science. 2002;  296 539-541
  • 16 Frankish H. Why do COX-2 inhibitors increase risk of cardiovascular events?.  Lancet. 2002;  359 1410
  • 17 Lund B C, Neiman R F. Visual disturbance associated with celecoxib.  Pharmacotherapy. 2001;  21 114-115

Dr. Carsten H. Meyer

Philipps-Universität Marburg, Med. Zentrum f. Augenheilkunde

Robert-Koch-Str. 4

35037 Marburg