PPH 2004; 10(4): 179
DOI: 10.1055/s-2004-813449
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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U. Villinger
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Publication Date:
16 August 2004 (online)

„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.” Mit diesem Satz, heute als „Euthanasie”-Erlass bekannt, gab Adolf Hitler am 1. September 1939 den offiziellen Auftrag, psychisch schwer kranke und behinderte Menschen, geistig behinderte Menschen, so genannte Asoziale, Erbkranke, Alkoholiker und andere aus der Sicht des Nationalsozialismus „nutzlose Esser” in industriellem Maßstab zu ermorden.

Aus meiner Sicht gibt es auch heute, 65 Jahre später, einige gewichtigen Gründe, sich mit der „Euthanasie” des Dritten Reiches und ihrer Vorgeschichte zu befassen.

In einigen unserer Nachbarländer, z. B. Niederlande oder Belgien, wurden in den letzten Jahren Gesetze verabschiedet, die aktive Sterbehilfe unter festgelegten Bedingungen zulassen. Dazu gehören u. a. der ausdrückliche Wunsch des Betroffenen und eine durch Gutachten festgestellte zum Tod führende schwere Erkrankung. Aus den Niederlanden wird berichtet, dass pro Jahr etwa 1000 Menschen ohne ihren ausdrücklich und nachhaltig geäußerten Wunsch getötet werden. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei vorwiegend um demenzkranke alte Menschen handelt. Der gesetzliche Betreuer und Vater eines durch einen schweren Suizidversuch heute apallischen Heimbewohners versucht auf gerichtlichem Wege durchzusetzen, dass die Mitarbeiter im Heim die Anordnung des behandelnden Arztes befolgen. Sie lautet: „Die künstliche Ernährung und Zuführung von Flüssigkeit über die PEG-Sonde ist zu reduzieren. Über die Magensonde sind lediglich noch 500 ml Flüssigkeit pro Tag zuzuführen.” Die Mitarbeiter des Pflegeheims haben die Anordnung des Arztes nicht befolgt, die Klage gegen das Heim wurde auch in der zweiten Instanz abgewiesen, u. a. mit der Begründung, dass der Heimbewohner sich nicht im Sterbeprozess befinde und der Lebensschutz Vorrang habe. Das Thema „Patientenverfügungen” ist in aller Munde. Eine mir nahe stehende alte Frau bekam in ihrem Wohnstift einen Vordruck vorgelegt, in dem sie zustimmen sollte, dass sie im Falle von Gefährdung der Institution durch unkontrolliertes Verhalten, gemeint war Demenz, in ein Pflegeheim in 300 km Entfernung verlegt wird. Die alte Dame hatte zwar schon lange Zeit darüber gesprochen, dass sie nicht mehr leben wolle, aber gleichzeitig durch ihr Verhalten signalisiert, dass es Bereiche in ihrem Leben gab, die ihr Freude machten und andere, in denen sie mehr Hilfe, Zuwendung und Betreuung haben, also eigentlich so nicht weiterleben wollte.

Ich frage mich daher, ob die Themen Patientenverfügungen, aktive und passive Sterbehilfe nicht absichtlich in einer dazu passenden Zeit derart werbend in den Vordergrund gerückt werden, in der von „Altenberg” und „vergreisender Gesellschaft” die Rede ist, in der das Geld knapp geworden ist und „unproduktive” Menschen eine Bürde zu sein scheinen. Und ich bin mir sicher, dass bei einer verbindlichen Patientenverfügung, die in gesunden Zeiten aufgesetzt wurde, die Mehrzahl der Betroffenen in einer neuen Lebenssituation, und sei sie mit schwerer Krankheit verbunden, sich für das Leben entscheidet, wenn sie dann noch gefragt wird und sich äußern kann. Was aber, wenn sie sich nicht äußern kann?

Die vor kurzem verstorbene Schauspielerin Inge Meysel hat als sehr bekannte Person in früheren Jahren für die „Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben” geworben und öffentlich ankündigt, sie werde im Falle schwerer Krankheit, Gebrechlichkeit oder Demenz ihrem Leben ein Ende setzen. Folgt man den Berichten in den Medien anlässlich ihres Todes, hat Inge Meysel diesen Schritt nicht unternommen, sondern sich für das Leben entschieden, bis sie eingeschlafen ist.