Klinische Neurophysiologie 2003; 34 - 120
DOI: 10.1055/s-2003-816523

Fehldiagnose „zervikale Dystonie“ bei axialer Myopathie („dropped head“ Syndrom): eine Kasuistik

H Roick 1, RW Brüderl 1
  • 1Villingen-Schwenningen

Berichtet wird über eine 62-jährige Frau, die aufgrund einer über mehrere Monate langsam zunehmenden unwillkürlichen Kopfneigung nach vorne mit der Verdachtsdiagnose „zervikale Dystonie/Antecollis“ zur Abklärung der Indikation einer lokalen Botulinumtoxin-Therapie in der Dystonie-Sprechstunde vorgestellt wurde. Die Patientin berichtete von seit ca. 4 Monaten zunehmenden Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten, und beklagte Schmerzen im Bereich der Nackenmuskulatur. Die Symptomatik war wechselnd ausgeprägt, eine zirkadiane Rhythmik bestand nicht. Keine antagonistische Geste. An Vorerkrankungen bestand ein ca. eineinviertel Jahr zuvor diagnostiziertes und immunsuppressiv mit Prednison und Azathioprin behandeltes Sjögren-Syndrom. Bei der klinischen Untersuchung war der Kopf maximal inkliniert, eine aktive Reklination war nicht möglich. Bei passiver Reklination gab die Patientin Schmerzen an. Die passive Kopfwendung war frei, aktiv war die Drehbewegung nach rechts mehr als nach links eingeschränkt. Die proximale zervikale Muskulatur war verhärtet, palpabel und druckdolent. Fraglich bestand eine Hyperaktivität im Bereich der Mm. sternocleidomastoidei. Der weitere neurologische Untersuchungsbefund war unauffällig. Elektromyographisch fanden sich in den Mm. splenius capitis deutliche myopathische Veränderungen, die vordere Halsmuskulatur war ebenso wie die Extremitätenmuskulatur unauffällig. Im Labor waren erhöhte Entzündungsparameter (C-reaktives Protein) sowie leicht erhöhte Werte für Kreatinkinase und Laktadehydrogenase nachweisbar. Kernspintomographisch fanden sich in der zervikalen Muskulatur keine Signalauffälligkeiten. In der Zusammenschau handelte es sich um ein sogenanntes „dropped head“-Syndrom bei axialer Myopathie im Rahmen der Sjögren-Erkrankung. Unter Intensivierung der immunsuppressiven Behandlung in Form einer gesteigerten Prednisondosis besserte sich das Beschwerdebild rasch. Die vorgelegte Kasuistik zeigt die Möglichkeit einer Verwechselung des klinischen Erscheinungsbildes der axialen Myopathie mit einer zervikalen Dystonie. Bei entsprechend versierter klinischer Untersuchung unter Einbeziehung der Elektromyographie können beide Krankheitsbilder eindeutig unterschieden werden. Eine irrtümlich unter der Annahme einer zervikalen Dystonie durchgeführte Therapie mit Botulinumtoxin würde bei der axialen Myopathie zu einer Verschlechterung des Beschwerdebildes führen.