Klinische Neurophysiologie 2003; 34 - 92
DOI: 10.1055/s-2003-816495

Auditive Wahrnehmung unter Sevofluran-Narkose: ereignis-korrelierte Potenziale indizieren Orientierungsmechanismen

W Nager 1, MAF Gross 1, C Quandt 1, N Loeffler 1, SA Piepenbrock 1, R Dengler 1, TF Muente 1, S Muente 1
  • 1Hannover, Magdeburg

Im Gegensatz zur visuellen Modalität ermöglicht das Hören die Wahrnehmung sich ändernder Umgebungsbedingungen auch von rückwärtigen Positionen und stellt somit einen wichtigen natürlichen Fernsinn dar. Die automatische sensorische Detektion auditiver Stimuli für die Überwachung einer akustischen Umgebung konnte elektrophysiologisch auch an schlafenden Probanden und Säuglingen nachgewiesen werden. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, unter Narkosebedingungen Vorgänge automatischer Detektion und nachfolgender unwillkürlicher Orientierungsmechanismen auf unerwartete, akustisch bedeutsame Ereignisse zu charakterisieren. Für ein Kollektiv von 20 Patienten wurden intraoperativ in einem tiefen Narkosestadium (endexpiratorische Sevofluran-Konzentration=1,2–2,2%) oder postoperativ kurz vor dem Erwachen (flaches Narkosestadium; Sevo=0,7%) Ereignis-korrelierte Potenziale aufgezeichnet. Akustische Stimuli wurden in Form eines modifizierten „Oddball“-Paradigmas über einen Kopfhörer präsentiert. Dabei unterbrachen entweder seltene, in der Tonhöhe „abweichende“ Stimuli (p=0,15) oder Stimuli aus einer Gruppe von wechselnden „neuartigen“ Geräuschen (digitalisierte Umweltgeräusche z.B. Kindergeschrei, Verkehrslärm, Kanonenschüsse; insgesamt p=0,15) die Regelhaftigkeit eines häufig dargebotenen Standardstimulus (p=0,7). Die Analyse der „Mismatch negativity“ für „abweichende“ Stimuli und der P3a-Komponente für „neuartige“ Stimuli erlaubt dabei die Unterscheidung zwischen Mechanismen automatischer sensorischer Verarbeitung (Mismatch negativity) und Indikatoren einer unwillkürlichen attentionalen Orientierungsreaktion (P3a). Für das flache Narkosestadium konnte anhand von Varianzanalysen (ANOVA) die Existenz einer P3a-Komponente als Indikator intakter attentionaler Orientierungsmechanismen belegt werden (F=7,63; p<0,02). Überraschenderweise konnte während des tiefen Narkosestadiums neben erhaltenen Mechanismen automatischer sensorischer Verarbeitung (Mismatch negativity; F=9,20; p<0,007) die Integrität attentionaler Orientierungsmechanismen auf hochsignifikantem Niveau nachgewiesen werden (P3a; F=9,54; p<0,007). Die Topographie und Latenz der P3a entsprach dabei den typischen, am wachen Normalkollektiv beschriebenen Eigenschaften der Komponente. Anhand der vorliegenden Ergebnisse konnte erstmals ein Indikator erhaltener Orientierungsmechanismen unter Narkosebedingungen nachgewiesen werden und untermauert elektrophysiologisch vereinzelte Beschreibungen erhaltener Umgebungswahrnehmung während operativer Versorgung.