Psychother Psychosom Med Psychol 2004; 54(5): 193
DOI: 10.1055/s-2003-814942
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Psychosoziale Medizin braucht Versorgungsforschung

The Field of Psychosocial Medicine Should Increase Health Care ResearchUwe  Koch, Holger  Schulz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. April 2004 (online)

Gegenwärtig vollziehen sich in der gesundheitlichen Versorgung Deutschlands gravierende Veränderungen. Zu nennen sind hier u. a. die Verschiebung von stationärer zu ambulanter Behandlung, die Umstellung von Abrechnungssystemen (DRGs), sektorenübergreifende Versorgungsmodelle, Orientierung an Prinzipien der evidenzbasierten Medizin, Implementation von Leitlinien, gesetzliche Verpflichtung zur internen und externen Qualitätssicherung. Auch wenn viele dieser Veränderungen bisher vor allem die somatische Medizin betrafen, ist davon auszugehen, dass sie sehr bald auch den Versorgungssektor der psychosozialen Medizin erreichen werden.

Die bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung der oben genannten Umstrukturierungsmaßnahmen zeigen, dass die Entscheidungsprozesse bislang vorrangig unter ökonomischer Perspektive erfolgt sind. Ob die Bereitschaft besteht, bei der Umsetzung der gesundheitspolitisch proklamierten Zielsetzungen (mehr Bedarfsgerechtigkeit, Effektivität und Effizienz) auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückzugreifen, ist keineswegs sicher, aber immerhin eine Hoffnung. In diesem Kontext ist allerdings zu fragen, ob gegenwärtig wirklich hinreichend Ergebnisse aus einer die psychosoziale Medizin betreffenden Versorgungsforschung für eine kritische Diskussion zur Verfügung stehen. Eine Versorgungsforschung in diesem Bereich beschreibt und analysiert den Weg eines Menschen mit psychischen Problemen bzw. Störungen durch das aktuelle Versorgungssystem. Dies bezieht sich auf alle Institutionen und Leistungsbereiche, von der Prävention über ambulante und stationäre Heilbehandlung bis hin zur Rehabilitation. Darauf aufbauend werden innovative Versorgungskonzepte entwickelt, deren Umsetzung begleitend erforscht und unter Bedingungen der Versorgungsroutine evaluiert. Zentrale Themenbereiche einer Versorgungsforschung betreffen Fragen des Zugangs und des Assessments (u. a. Bedarf, Indikation, Inanspruchnahme, Zielgruppenspezifität), des Behandlungsprozesses (u. a. Leitlinien, Implementationsgrad, Dosiswirkung, Schnittstellen und Vernetzung) und des Outcomes (u. a. Effektivität, Effizienz, Kosten-Nutzen-Relationen).

Eine jüngst von uns durchgeführte Analyse der psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland lässt Zweifel aufkommen, ob die psychosoziale Medizin für die im Zusammenhang mit den oben genannten Veränderungsprozessen zu erwartenden kritischen Fragen bereits ausreichende Datengrundlagen zur Verfügung stellen kann. Naturalistische und die Versorgungsrealität repräsentativ abbildende Untersuchungen sind im Bereich der psychosozialen Medizin insgesamt eher selten. Fragen des Bedarfs an fachlich begründeten psychosozialen Interventionen werden in der Forschung zurzeit mit bemerkenswerter Schwankungsbreite diskutiert, weil verlässliche epidemiologische Grundlagen fehlen und ein Konsens über Behandlungsbedürftigkeit, vor allem bezogen auf unterschiedliche Behandlungssettings, nicht gegeben ist. Bezüglich der Prozessvariablen fehlen für zahlreiche Indikationsgruppen noch Leitlinien höherer Evidenzstufen, schon aus Mangel an ausreichenden Studien. Es fehlen weiterhin Studien zur Dosis-Wirkungs-Beziehung von in der Praxis implementierten Behandlungsansätzen. Nicht weniger defizitär, aber für die zu erwartenden Entscheidungsprozesse von besonderer Bedeutung, stellt sich die Situation für den Bereich Outcome dar. Gibt es in der stationären Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen, und hier vor allem für den Bereich medizinischer Rehabilitation, noch eine vergleichsweise umfangreiche versorgungsbezogene Ergebnisdokumentation, so fehlt diese fast vollständig für den Bereich der ambulanten Psychotherapie. Die Relevanz wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass in diesem Bereich zurzeit mehr als 15 000 psychologische und ärztliche Psychotherapeuten tätig sind, die ca. 300 000 Patienten pro Jahr behandeln. Im Sinne eines Selbstschutzes der psychosozialen Medizin sind die Verantwortlichen in Versorgung und Forschung, wie auch die Vertreter der verschiedenen Fachgesellschaften aufgerufen, Initiativen für eine Versorgungsforschung in der Psychosozialen Medizin zu unterstützen oder selbst zu ergreifen.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Uwe Koch

Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie · Universitätsklinikum Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg