Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(51/52): 2698-2706
DOI: 10.1055/s-2003-812548
Weihnachtsausgabe

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Die Poesie in Wirklichkeit verwandeln”

Antike Sagengestalten in der modernen Medizin„Transforming poetry into reality“Figures in the legends of antiquity in modern medicineA. Karenberg
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eingereicht: 29.8.2003

akzeptiert: 11.9.2003

Publication Date:
17 December 2003 (online)

Einführung: Wissenschaftliche Terminologie als kulturelles Gedächtnis?

Seit Jahrhunderten hausen die klassischen Götter nicht nur in unseren Museen und Bibliotheken, sondern auch in unserer Medizin. Ihre Namen sind in Strukturen des Organismus und von Pharmaka verewigt, die Gestalten leben weiter in körperlichen Krankheiten und seelischen Störungen. So begegnen uns ihre Spuren in der modernen Fachsprache der Heilkunde auf Schritt und Tritt [13] [18] [25]. Doch sind sie damit wirklich Teil des viel beschworenen kulturellen Gedächtnisses? Halten sie tatsächlich die Erinnerung wach an halb vergessene Legenden und Erzählungen? Zugegeben: Termini wie „Ödipus-Komplex” oder „Sectio caesarea” dürfen bezüglich ihrer Herkunft noch auf eine gewisse Bekanntheit rechnen. Doch wer wüsste auf Anhieb zu sagen, warum das „Medusenhaupt” krankhafte Veränderungen ausgerechnet an der Bauchdecke bezeichnet oder was die griechische Schicksalsmacht Atropos im Fachwort für das Pflanzen-Alkaloid „Atropin” zu suchen hat - geschweige denn, wann und vor welchem kulturellen Hintergrund diese Gestalten in die Medizinsprache eingewandert sind? Höchste Zeit also, der Kontinuität jahrtausendealter Namenselemente im Jargon einer sich rasant wandelnden Wissenschaft einmal nachzuspüren. Und zu zeigen, dass die Beschäftigung mit klassischer Mythologie und Sprachgeschichte ebenso unterhaltsam wie lehrreich sein kann!

Formal betrachtet zählen mythologisch inspirierte Ausdrücke zu den Eigennamen-Benennungen oder Eponymen. Sofern man sich auf die gebräuchlichsten, d. h. in den gängigen deutschen Medizinwörterbüchern [16] [17] gelisteten Begriffe beschränkt, weisen unter Tausenden der von Personennamen abgeleiteten Ausdrücke lediglich etwa zwei Dutzend einen solchen Hintergrund auf. Nur diese Kerngruppe soll hier im Mittelpunkt stehen. Pro Rubrik wird der literarische Hintergrund einer Figur samt ihrer terminologischen Verwendung ausführlich vorgestellt, weitere Namenspatrone finden kurz Erwähnung. Für Interessierte wird demnächst eine inhaltlich stark verbreiterte und historisch erweiterte Darstellung in Buchform zur Verfügung stehen [10].

Literatur

  • 1 Barcia Goyanes J J. Onomatologia anatomica nova. Historia del lenguaje anatómico. 8 Bde. Universidad de Valencia: Secretariado de Publicaciones 1978 - 86
  • 2 Brighetti A. Dalla belladonna all’atropina.  Policlinico/Sezione Practica. 1966;  73 1171-1174
  • 3 Ellis H H. Auto-Erotism. A psychological study.  The Alienist and Neurologist. 1898;  April 260-99
  • 4 Freud S. Gesammelte Werke. 18 Bde. Frankfurt am Main: Fischer 1972 4. Aufl
  • 5 Gruber G B. Historisches und Aktuelles über das Sirenen-Problem in der Medizin.  Nova Acta Leopoldina. 1955;  NF Band 17/Nr. 117 89-122
  • 6 Hauser G. Über Fäulnissbacterien und deren Beziehungen zur Septicämie. Ein Beitrag zur Morphologie der Spaltpilze. Leipzig: Vogel 1885
  • 7 Hyrtl J. Onomatologia anatomica. Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart. Wien: Braumüller 1880 Nachdruck Hildesheim und New York: Georg Olms; 1970.
  • 8 Jolidon C, Cordier M, Lanson Y. Le priapisme à travers les siècles.  Journal d’urologie. 1985;  91 225-226
  • 9 Karenberg A. Medizinhistorisch-sprachgeschichtliche Anmerkungen zu mythologischen Namen im modernen medizinischen Fachwortschatz.  Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. 2002;  21 18-24
  • 10 Karenberg A. Die klassische Mythologie in der modernen Medizin.  (erscheint 2004 im Schattauer Verlag, Stuttgart).
  • 11 Klibansky R, Panofsky E, Saxl F. Saturn und Melancholie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990
  • 12 Krömeke F. Friedrich Wilh. Sertürner, der Entdecker des Morphiums. Jena: Gustav Fischer 1925
  • 13 Marcovecchio E. Dizionario etimologico storico dei termini medici. Firenze: Festina Lente 1993
  • 14 Näcke P. Kritisches zum Kapitel des normalen und pathologischen Sexualität.  Arch Psychiat Nervenkr. 1899;  32 356-86
  • 15 Olry R, Haines D E. Cerebral mythology: A skull stuffed with gods.  J Hist Neurosci. 1998;  7 82-83
  • 16 Pschyrembel Klinisches Wörterbuch. Berlin und New York: de Gruyter 1998 258. Auflage
  • 17 Roche Lexikon Medizin. Neue Aufl. München u. a.: Urban & Schwarzenberg 1998
  • 18 Rodin A E, Key J D. Medicine, literature & eponyms. An encyclopedia of medical eponyms derived from literary characters. Malabar/Florida: Krieger Publishing Company 1989
  • 19 Schadewaldt H. Orthopädische Aspekte der Mythologie. Stuttgart und New York: Thieme In: Schlegel KF (Hrsg.). Der Körperbehinderte in Mythologie und Kunst 1983: 1-18
  • 20 Schatz F. Die griechischen Götter und die menschlichen Missgeburten. Wiesbaden: Bergmann 1901 Nachdruck Amsterdam: Editions Rodopi; 1969.
  • 21 Schwarz D. Die Achillesssehnenverletzung. Ein historischer Rückblick.  Beitraege zur Orthopaedie und Traumatologie. 1988;  36 226-228
  • 22 Terminologia Anatomica - International anatomical terminology. Stuttgart und New York: Thieme 1998
  • 23 Thenius E. Versteinerte Urkunden. Die Paläontologie als Wissenschaft vom Leben in der Vorzeit. 3. Aufl. Berlin u. a.: Springer-Verlag 1981
  • 24 Vollmar J F. Lebt Medusa noch? Eine medizinisch-mythologische Betrachtung.  Vasa. 1983;  12 296-300
  • 25 Vons J. Mythologie et médecine. Paris: Ellipses Edition Marketing 2000
  • 26 Vons J. Dieux, femmes et la „pharmacie” dans la mythologie grecque.  Revue d’histoire de la pharmacie. 2001;  49 501-512
  • 27 Wyss D, Laue B. Narziß. Zur anthropologischen Psychopathologie einer Kommunikationsstörung.  Zeitschr klin Psychol Psychother. 1976;  24 358-367

Prof. Dr. med. Axel Karenberg

Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln

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