Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(12): 641-645
DOI: 10.1055/s-2003-45347
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wiedergelesen: Der Babinskische Reflex

Deutsche Erstveröffentlichung 1952Babinski's ReflexRobert  WartenbergDiese Arbeit erschien erstmals 1952 in dem Band „Die Untersuchung der Reflexe” von Robert Wartenberg im Georg Thieme Verlag, herausgegeben und übersetzt von Prof. Dr. Heinz Köbcke (Tübingen).
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. Dezember 2003 (online)

Der Babinskische Reflex nach 50 Jahren

Vor 50 Jahren (1896) beschrieb der Pariser Neurologe Joseph François Felix Babinski [1], der damals 39 Jahre alt war, zum ersten Mal seinen Reflex, die Dorsalflexion der großen Zehe, bei Reizung der Fußsohle. Dieser nunmehr schon historische Bericht wurde in der Sitzung der Pariser Biologischen Gesellschaft vom 22. Februar 1896 gegeben. Daß ein Streichen der Fußsohle eine Dorsalflexion der großen Zehe bewirkt, wurde schon 1893 von E. Remak [2] berichtet. A. Strümpell [3] beobachtete schon 1880 bei der dorsolateralen Sklerose eine Erscheinung, die man heute Dauer-Babinski nennt, aber erst Babinski erkannte die diagnostische Bedeutung dieses Phänomens, das seinen Namen mit Recht trägt, wie James Russell Lowell gesagt hat: „Es ist nicht das Entdecken einer Sache, sondern das, was man daraus macht, nachdem sie gefunden ist, was folgewichtig ist.”

Der Babinskische Reflex fand nicht sofort die Anerkennung, deren er sich jetzt in aller Welt erfreut. 1900 wurde sogar einmal erklärt [3a], daß sein diagnostischer Wert „ziemlich geringfügig ist”. Oppenheim bezweifelte 1899, daß dieser Zehenreflex jemals für die Diagnose große Bedeutung erlangen würde. Später änderte er jedoch seine Meinung, als er [5] mit viel Aufhebens seine eigene ziemlich unbedeutende Modifizierung zur Auslösung des Reflexes der großen Zehe einführte.

Als ich 1926 bei Babinski arbeitete, fragte ich ihn, wie er dazugekommen war, seinen Reflex zu entdecken, ob das ein reiner Zufall oder das Resultat einer systematischen zweckvollen Forschung gewesen war. Er antwortete, daß die Neurologen sich viel mit der Differentialdiagnose zwischen organischen und hysterischen Störungen beschäftigt hatten. Er hoffte, im Verhalten der Reflexe ein Unterscheidungsmerkmal zu finden, durch das diese beiden Formen von Lähmungen voneinander unterschieden werden konnte. Daraufhin durchuntersuchte er systematisch alle Reflexe bei Patienten mit derartigen Erkrankungen und fand bei der Untersuchung des Fußsohlenreflexes, daß die Reaktion bei einer organischen Hemiplegie nicht in der normalen Plantarflexion der großen Zehe, sondern in einer Dorsalflexion bestand. Für Babinski war sein Reflex immer im Wesentlichen ein Fußsohlen-Hautreflex, sozusagen ein Ersatz für die normale plantare Reaktion.

Wir wissen jetzt, daß der dorsale Beugereflex der großen Zehe bei spastischen Lähmungen nicht eine Modifizierung des normalen Fußsohlenreflexes ist; er ist mehr als ein solcher. Er ist ein hervorragender und wesentlicher Bestandteil eines komplizierten zusammengesetzten Reflexes, der gewöhnlich Beuge-Fluchtreflex („flexor withdrawal reflex”) genannt wird. Genauer ausgedrückt, sollte er homolateraler Massen-Beugereflex genannt werden. Bei einer Pyramidenbahnstörung zeigen die Beine eine starke Neigung zur Beugung in allen Gelenken. Der Babinski-Reflex wird manchmal als eine Streckung der großen Zehe beschrieben. Dies ist nicht richtig. Diese Bewegung wird zwar durch den Extensor hallucis longus ausgeführt, sie ist jedoch - physiologisch gesprochen - natürlich eine Beugung. Wie beim Hüft- und Kniegelenk dient diese Beugung dazu, die Extremitäten zu verkürzen. Dieser Beugemechanismus und besonders sein für Reize empfänglichster Teil, die Dorsalflexion der großen Zehe, ist bereit, in Aktion zu treten, sobald ihn Reize von vielerlei Art erreichen, wie (1) exterozeptive Reize, die die Haut, besonders die des Fußes, treffen, (2) exterozeptive Reize, die die Tiefensensibilität treffen, (3) aktive Bewegungen, besonders gegen Widerstand, in irgendeinem Teil dieses Beugungsmechanismus. Diese aktiven Bewegungen bewirken assoziierte Bewegungen in jedem anderen Teil des Mechanismus, ausgesprochener jedoch in den näheren als in den entfernteren Teilen; (4) passive Bewegungen, besonders lebhafte Bewegungen auch selbst eines kleinen Anteils der an der Spastizität beteiligten Muskeln. Diese können den ganzen Flexormechanismus ins Spiel bringen oder - was noch öfter beobachtet wird - seine benachbarte Komponente. Hier besteht der affektive Reiz entweder in der Dehnung der Muskeln oder dem Rückstoß, der auf die Dehnung folgt.

Besonders deutlich und physiologisch bedeutungsvoll ist das Spiel dieses Bewegungsmechanismus, wenn es durch aktive oder passive Bewegungen der distalen Muskeln ausgelöst wird. Hier kommen die assoziierten Bewegungen, das Kardinalzeichen jeder Pyramidenbahnstörung, deutlich zum Ausdruck; bei einer solchen Erkrankung verliert der Patient die Fähigkeit, feine Einzelbewegungen auszuführen. Stattdessen führt er Massenbewegungen aus. Eine Gruppe von funktionell sich ergänzenden Muskeln wirkt hier, befreit von ihrer pyramidalen Kontrolle, zusammen als eine kompakte Einheit nach dem Grundsatz „Alle für einen”. Die benachbarten Muskeln reagieren immer leichter und stärker. Je entfernter die Muskeln aber sind, um so mehr flacht die Reaktion ab, und sie kann schließlich kaum wahrnehmbar werden. Es ist deswegen verständlich, daß der ganze gleichseitige Massen-Beugereflex nicht immer zur vollen Tätigkeit kommt, sondern nur sein empfänglichster Teil, die Dorsalflexion der Zehe. Das Gelenk der Zehe befindet sich am nächsten zur Reizstelle der Fußsohle.

Es erweist sich, daß die wahre Natur des Babinskischen Reflexes ein Teil eines größeren Beugemechanismus ist. Dieser Mechanismus nimmt eine große Fläche ein und hat viele Auslösestellen. Dies spricht a priori dafür, daß die Technik seiner Auslösung sicherlich nicht auf die Reizung der Fußsohle allein - die ursprüngliche Technik Babinskis - beschränkt sein konnte.

Der Ruhm und die Lorbeeren Babinskis, dessen Namen ein Eponym wurde, weckten die Neurologen der ganzen Welt und regten sie zur Tätigkeit an. Auf faire und unfaire Weise mußte ein „größerer und besserer” Babinski-Reflex gefunden werden! Die Zahl der Abarten des Reflexes der großen Zehe, die nachfolgten, ist eine Legion! Eine wahre Inflation entstand. Unglücklicherweise bezeichneten viele, die solche Abarten des Babinski-Reflexes angaben, ihre Modifizierungen als besondere Reflexe, Zeichen, Symptome oder Phänomene und betrachteten sie auch als etwas Neues, etwas Verschiedenes oder wenigstens als etwas Besseres als die Technik von Babinski. Einige dieser völlig unbedeutenden Modifizierungen sind von der Nachwelt unter dem Eigennamen des Beschreibenden übernommen worden. Diese Namen schmücken die Lehrbücher, das Schrifttum, die Krankenhausaufzeichnungen in immer steigender Zahl und verursachen eine unglückliche Verwirrung in den Köpfen der Studierenden.

Die phantastischen Namen und Beiworte, die diesen Reflexen zugefügt wurden, enthalten ein unergründliches Mißverstehen des beteiligten physiologischen Mechanismus. Besonders vom didaktischen Standpunkt aus muß man ihnen widersprechen. Um nur einige zu nennen: Antagonistenreflex, Schaefer [6] 1899; Bein-Phänomen, Oppenheim [5] 1902; paradoxer Beugereflex, Gordon [7] 1904; Waden-Phänomen, Trömner [8] 1911; Beingelenkreflex, Trömner [9] 1926; Widerstandsreflex, Lichtman [10] 1941, und neuer Sehnen-Dehnreflex, Gonda 1942. Der Ausspruch Platons: „Sie geben den Krankheiten wirklich sehr seltsame und neumodische Namen”, paßt in der Tat auch für diese Reflexe.

Diese Liste kann leicht erweitert werden. Manche Modifizierung ist nur eine leichte Modifizierung einer anderen Modifizierung. Einige sind mehr als einmal entdeckt worden. Erst 1945 beschrieb Lenggenhager [12] einen Fußballenreflex, der in einer Dorsalflexion der Zehe besteht, wenn man am Ballen entlangstreicht. Die meisten dieser „neuen Reflexe” brachten nur kleine und geringe technische Verbesserungen zur Auslösung des Babinski-Reflexes. Das bißchen Gute, das von ihnen kam, wird durch die völlige Verwirrung aufgewogen, die durch ihre physiologisch falsche Deutung entstanden ist.

Schon 1909 beschrieb Yoshimura [13] die Technik zur Auslösung des Babinskischen Reflexes durch Reizung der Haut der unteren Extremität: Fußsohle, Rückseite des Fußes, seitlicher Rand des Fußes, unterer Teil des Beines und des Oberschenkels. Er fand ferner, daß der Babinskische Reflex auch bei elektrischer oder thermaler Reizung auftritt. Crafts [14] empfahl 1919 die Reizung der Haut über der dorsalen Fläche des Knöchels. 1917 empfahl Throckmorton [15], die Haut über der oberen Fläche der Mittelfuß-Zehengelenke zu reizen. 1926 [16] zog er es jedoch vor, die äußere Seite der großen Zehe zu reizen. Chaddock [17] wandte 1911 die Reizung der Haut unterhalb des äußeren Knöchels an.

Von den Methoden, bei denen ein Tiefendruck angewandt wird, sind die bekanntesten: Oppenheims [5] Druck auf die Tibia (1902); Gordons [7] Druck auf die Wadenmuskeln (1904); Trömners [8] Massage der Wadenmuskeln (1911) und Austregesilos und Esposels [18] Druck auf die Oberschenkelmuskeln (1912).

De Souza und de Castro [19] berichteten 1913 über das Auftreten des Babinskischen Reflexes bei aktiver Bewegung gegen oder ohne Widerstand. Ein Dorsalflexionsreflex der großen Zehe trat ein, wenn der Patient versuchte, sich von aufrechter Körperlage aus zu erheben oder sein gelähmtes Bein gegen Widerstand zu heben. Der Babinskische Reflex kann auch auftreten, wenn der Patient seinen Kopf beugt oder gähnt.

Von großer praktischer und theoretischer Bedeutung ist die Auslösung des vollständigen gleichseitigen Massen-Beugereflexes oder des Babinskischen Reflexes, der nur einen teilweisen gleichseitigen Massen-Beugereflex darstellt, bei passiver Bewegung der Zehen des Fußes. Bechterew [20] beschrieb 1906 einen Beugereflex in allen Gelenken der unteren Extremität bei passiver langsamer Beugung der Zehen und des Fußes. Dieser Reflex wurde 1910 von Marie und Foix [21] nochmals entdeckt und wird oft Marie-Foixscher Reflex oder Bechterew-Marie-Foixscher Handgriff genannt.

Es war jedoch ein amerikanischer Neurologe, Wharton Sinkler [22] (1845-1910), aus Philadelphia, der dieses Phänomen schon 18 Jahre vor Bechterew, nämlich 1888, beschrieb. Weder Bechterew noch Marie-Foix noch irgendein anderer der zahlreichen Kritiker dieses Themas haben je den Namen Sinkler erwähnt. Sein historischer Artikel wurde weder im neurologischen Zentralblatt noch in einem Hand- oder Lehrbuch der Neurologie beschrieben oder zitiert.

Moniz [23] fand 1916, daß eine Dorsalflexion der großen Zehe bei passiver langsamer plantarer Beugung des Fußes auftreten kann, wenn alle anderen Methoden zur Auslösung einer Reaktion versagen. Grigorescu [24] fand 1940 und nach ihm Gonda [11] 1942 und Allen [25] 1945, daß eine Dorsalflexion der großen Zehe beim Beugen der anderen vier Zehen oder beim Knipsen aller dieser Zehen eintrat. „Ich glaube”, sagte Gonda, „dies (die Technik seines neuen Sehnenreflexes) führt ein neues Prinzip in die Neurologie ein, nämlich eine lang anhaltende Anwendung eines Reizes.” Schatten von Sinkler und Bechterew! Alle diese Abarten des Babinskischen Reflexes sind selbstverständlich nur Veränderungen in der Technik zur Auslösung des gleichseitigen Massen-Beugereflexes, der von diesen Männern ausgelöst wurde.

Lewandowsky sagte einst sarkastisch: „Es ist bemerkenswert, wie selten diejenigen, die ihre eigene Technik beim Babinskischen Reflex entdeckt haben, diesen Reflex bei Anwendung der Babinskischen Technik, beim Streichen der Fußsohle, finden können.” Das gilt auch für alle anderen, die nach Lewandowsky kamen. Jeder von ihnen behauptet bei der Beschreibung einer neuen Methode, daß er eine Dorsalflexion der Zehe öfter und gleichzeitig leichter bei Anwendung seiner eigenen Methode als der von Babinski finden kann. Die Folgerung hieraus ist klar: Trotz der endlosen Zahl von Modifizierungen und der bombastischen Behauptungen ihrer Entdecker und Wiederentdecker ist meiner Erfahrung nach die gute alte Methode von Babinski die bei weitem beste und zuverlässigste. Eine Methode, die ihr wirklich überlegen ist, bleibt immer noch zu entdecken, nach 50 Jahren!

Der gleichseitige Massen-Beugereflex (der Beuge-Fluchtreflex) mit seiner hervorragenden typischen Komponente, der Dorsalflexion der großen Zehe, ist nur eine Manifestierung einer Pyramidenbahnstörung; eine weitere tritt unter dem Einfluß des Reizes auf das gegenseitige Bein zutage: Während die Reizung einer Sohle eine homolaterale Dorsalflexion der großen Zehe und des Fußes bewirkt, kann sie gleichzeitig auf dem gegenseitigen Bein eine plantare Beugung der Zehen und des Fußes bewirken. Diese Wirkung am gegenseitigen Bein kann so stark sein, daß ein vollständiger Dehnreflex des gegenseitigen Beines erfolgt. Die Wirkung auf das gegenseitige Bein kann besonders bei spastischer Paralyse bei Anwendung des so genannten Marie-Foixschen Handgriffs zu sehen sein, d. h. bei einer plantaren passiven Beugung der Zehen und des Fußes. Als Folge dieses Handgriffs tritt nicht nur ein Massen-Beugereflex des gleichseitigen Beines auf, sondern es setzt noch ein Massen-Streckreflex des gegenseitigen Beines ein. Diese wechselnde Beugung und Streckung der Beine erinnert lebhaft an den Vorgang beim Klettern. Auch hier bestehen die zugrunde liegenden Bewegungen in einer Beugung des einen und Streckung des anderen Beines.

Es ist bemerkenswert, daß der gegenseitige Massen-Streckreflex zum Teil oder völlig nur bei schwachen Reizen, die auf das andere Bein gesetzt werden, ausgelöst werden kann. Wenn starke Reize angewandt werden, so wird ein beiderseitiger Babinskischer oder beiderseitiger Massen-Beugereflex ausgelöst. Diese beiderseitige Beugung beider unterer Extremitäten erinnert an die Bewegungen beim Springen.

Bei Pyramidenbahnstörungen zeigt das befallene Bein weitere eigentümliche motorische Erscheinungen (Reflexe, assoziierte Bewegungen und Stellungen), die die Annahme unterstützen, daß die Reflexbewegungen und die Stellung des Beines dem Vorgang beim Klettern ähneln, wenn der Einfluß der Pyramidenbahn beeinträchtigt ist.

Eine Adduktion und Supination des Fußes ist für den Vorgang beim Klettern sehr charakteristisch. Dies kann man deutlich auf Bildern von Primitiven beim Erklettern von Bäumen sehen. Die Technik ihres Kletterns ist verschieden von der unserer Jungens, die unter Zusammenpressen der Schienbeine bzw. Pressen der Schienbeine gegen das dazwischengeklemmte Tau einen Mast oder ein Tau hinaufklimmen.

1903 beschrieb Hirschberg [26], 1909 von Monakow [27], 1906 Marie und Meige [28] einen Reflex bei spastischer Paralyse, der in einer Adduktion mit oder ohne Supination des Fußes bei Reizung des medialen Fußsohlenrandes bestand. Dieselbe Adduktion des Fußes kommt auch bei der spastischen Paralyse als assoziierte Bewegung vor. Wenn der Patient das ausgestreckte Bein gegen Widerstand zu beugen versucht, so führt er gleichzeitig und unwiderstehlich eine unwillkürliche Adduktion des gleichseitigen Fußes aus. Dies ist das wohl bekannte Tibialisphänomen von Strümpell [29] 1887, das meiner Meinung nach neben dem Babinskischen Reflex das wertvollste und zuverlässigste aller Pyramidenzeichen ist.

Ein weiteres Charakteristikum des Vorgangs des Kletterns ist die automatische Abduktion des Oberschenkels, die die Beugung des Beines begleitet. Auch sie kann man bei der spastischen Paralyse als assoziierte Bewegung sehen. Wenn man einen Hemiplegiker auffordert, auf der Stelle zu treten, während er steht, so abduziert er gleichzeitig sein Bein, wenn er es hebt. Hieraus kann man beiläufig ersehen, daß die Circumductio des Beines bei der Hemiplegie nicht oder nicht nur eine Bewegung ist, um das Nachschleifen des ausgestreckten Beines zu vermeiden, sondern eine unwillkürliche assoziierte Bewegung, die von der Beugung des Oberschenkels abhängig ist.

Die Stellung des Beines, die für das Klettern typisch ist, kann manchmal in ausgesprochener Form bei der kindlichen spastischen Hemiplegie oder Diplegie zu sehen sein: eine leichte Beugung und Abduktion des Oberschenkels, Beugung des Knies, Abduktion und Supination des Fußes. Die Stellung beider Glieder bei der spastischen Hemiplegie kann man am besten als eine eingefrorene Phase beim Klettern betrachten: Beugung der oberen und Streckung der unteren Extremität. Bei Kindern mit zerebraler spastischer Paralyse (zerebraler Kinderlähmung vom Littleschen Typ) kann man manchmal die andere Phase des Klettervorgangs sehen: Streckung der oberen und Beugung der unteren Extremitäten.

In der Annahme, daß es der Vorgang des Kletterns ist, den die spastischen Extremitäten nachzuahmen versuchen oder auf den sie sich vorbereiten, wird man durch das Verhalten der letzten vier Zehen bestärkt, das man bei der spastischen Paralyse bei Reizung der Fußsohle beobachtet: Die Zehen spreizen sich. Dies stellt das berühmte „Fächerzeichen” Babinskis dar (1903). Ein solches Spreizen der Zehen beim Klettern dient dem äußerst zweckmäßigen und wichtigen Zweck der Vermehrung der Reibungsoberfläche der Sohle. Die Adduktion und die Supination des Fußes dienen demselben Zweck. Diese Reibungskraft ist ein wesentliches Element, das dem Kletterer beim Festhalten hilft. Je breiter die Oberfläche der Reibung, umso besser.

Aber wenn die Adduktion und Supination des Fußes und das Spreizen der Zehen zweckmäßig oder auch wesentlich beim Klettern ist, warum tritt dann die Dorsalflexion der großen Zehe ein? Sicherlich vermehrt dies die Reibungsoberfläche nicht und kann in keiner Weise beim Klettern helfen! Beim Reizen der Fußsohle ist es auffallend, daß die letzten vier Zehen sich spreizen und abduzieren, während das die große Zehe nicht tut, sondern in Dorsalflexionsstellung geht. Eins der größten Rätsel des Babinskischen Reflexes ist dies: Warum geht die große Zehe nicht wie die anderen in Abduktionsstellung? Die Antwort ist: Die Bewegung der großen Zehe sollte eine Abduktionsstellung sein und war es auch in den früheren Stadien der phylogenetischen Entwicklung. Als aber der menschliche Fuß im Verlauf dieser Entwicklung immer mehr eine Funktion beim Laufen und Stehen annahm, verlor das Mittelfuß-Zehengelenk der großen Zehe allmählich seine Fähigkeit, die die Abduktion der großen Zehe ausführte. Der Dorsalflexionsreflex der großen Zehe ist so zu einem Ersatz für die Abduktion geworden, den die große Zehe nur schwach ausführen kann. Bei Reizung der Fußsohle sollte die große Zehe gleich allen anderen abduziert werden, aber die erworbene Gestaltung des Gelenks bewahrt es vor einer leicht ausgeführten Abduktion, und die große Zehe führt die nächste bestmögliche Bewegung, nämlich die einer Dorsalflexionsbewegung aus. Bei sorgfältiger Untersuchung kann man manchmal diese ursprüngliche Neigung zu einer Abduktion beobachten, die trotz der ausgesprochenen Dorsalflexion zu erkennen ist.

Man kann diese Abduktion auch auf einigen photographischen Bildern des Babinskischen Reflexes sehen. So paßt auch die schlechte Bewegungsausführung der großen Zehe, ihre an Stelle der natürlichen Abduktion erzwungene Dorsalflexion, zu der Auffassung, daß es die komplizierte Kletterbewegung ist, die freigemacht wird und zum Vorschein kommt, wenn die Kontrolle, die von der Pyramidenbahn ausgeht, nachläßt. Alles, was bei der dadurch erfolgenden spastischen Paralyse zu sehen ist, die Reflexe, die assoziierten Bewegungen und die Kletterstellung, spricht eine klare und überzeugende Sprache.

Noch eine weitere komplexe Bewegung wird von der Kontrolle befreit, wenn die Pyramidenbahn geschädigt ist. Das ist die Bewegung des Gehens und Laufens. Bei Pyramidenbahnstörungen sind noch andere Untersuchungen ganz verschiedener Art neben dem Babinskischen Reflex und seinen zahlreichen Modifizierungen beschrieben worden. Diese Untersuchungen tragen oft Eigennamen, wie z. B. von Grasset und Gaussel [31], Bychowski [32] 1907, Hoover [33] 1908, Cacciapuoti [34] 1910 und Skoblo [35] 1928. Wenn man diese Untersuchungen physiologisch betrachtet, so kann man sie leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, da sie alle auf derselben Grundlage erklärt werden können. Diese besteht in folgendem: Wenn der Patient auf dem Rücken liegt und ein Bein - besonders gegen Widerstand - aufwärts bewegt, so hat das andere Bein die Neigung, sich nach unten zu bewegen. Dies erinnert lebhaft an den Vorgang beim Gehen und Laufen, der im Wesentlichen in Vor- und Rückwärtsbewegungen der Beine besteht.

Die wesentlichen motorischen Erscheinungen, die man bei der spastischen Paralyse beobachtet, können deswegen auf zwei Arten von Bewegungen, nämlich die des Kletterns und die des Laufens, zurückgeführt werden. Die Elemente beider sind in den komplizierten motorischen Erscheinungen der spastischen Paralyse enthalten und können durch die Reflexe in Erscheinung gebracht werden. Andererseits können Klettern und Laufen am besten als Offenbarung eines Fluchtreflexes betrachtet werden. Diese Flucht kommt in der vertikalen oder in der Horizontalebene vor.

Alle diese wesentlichen motorischen Erscheinungen bei der spastischen Paralyse (der gleichseitige Massen-Beugereflex, der gegenseitige Massen-Streckreflex, der Adduktions- und Supinationsreflex des Fußes, der Abduktionsreflex des Oberschenkels, die Neigung zu abwechselnden „automatischen” Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen der unteren Extremitäten) werden am besten als Offenbarungen eines Fluchtreflexes mit Klettern und Laufen als Elementen betrachtet.

Der gleichseitige Massen-Beugereflex, der die ganze untere Extremität in Mitleidenschaft zieht und mit der Babinskischen Reaktion zusammen ausgelöst wird als eine Reaktion auf eine Reizung der Fußsohle, wird oft Beuge-Fluchtreflex genannt. Dieser Name ist nicht ganz passend. Die Bewegung ist nicht ein einfaches passives Zurückziehen. Wie wir gesehen haben, ist es die Komponente einer größeren, komplizierten, mehr aktiven Massenbewegung. Babinski prägte den Ausdruck „Abwehrreflex”. Auch dies paßt nicht ganz aus dem einfachen Grund, weil die Reflexbewegungen mehr als nur eine passive Abwehr enthüllen. Die Flucht mittels Klettern oder Laufen kann kaum eine Abwehr genannt werden. Der Name „Reflexe des spinalen Automatismus” ist außerordentlich populär als Bezeichnung für Reflexerscheinungen bei der spastischen Paralyse. Dieser Ausdruck passt nicht, weil er zu allgemein ist und nicht die genaue Art der Bewegung beschreibt, und außerdem sind die Bewegungen gar nicht automatisch im wahren Sinne des Wortes.

Alles in einem ist der Babinskische Reflex, wenn man ihn physiologisch und phylogenetisch betrachtet, nicht nur gerade ein Hautreflex, wie Babinski annahm, sondern ein Teil, und zwar ein sehr empfänglicher und deutlicher, eines gleichseitigen Massen-Beugereflexes. Mit diesem Reflex ist ein gegenseitiger Massen-Streckreflex koordiniert. Diese beiden Bewegungen stellen rudimentäre Entscheidungen des Klettervorgangs dar. Hierzu kommt noch bei der spastischen Paralyse eine Neigung der unteren Extremitäten, sich abwechselnd vorwärts und rückwärts zu bewegen. Dies stellt die Ansätze zum Laufen und Gehen dar. Alles in allem können die Enthemmungserscheinungen, die bei einer Pyramidenbahnstörung in Erscheinung treten, als Erscheinungen eines Fluchtreflexes betrachtet werden.

Die Beobachtung, über die von Babinski 1896 berichtet wurde und die im ersten Augenblick als geringfügig und unbedeutend erscheinen könnte, hat nicht nur die neurologische Untersuchung revolutioniert, sondern sie hat sich auch in der Neurophysiologie als äußerst fruchtbar erwiesen, sie hat neue Ausblicke eröffnet. Sie hat viele Fragen in der Physiologie und der Physiopathologie der Motilität aufgeworfen, die auch heute noch, nach 50 Jahren, nur teilweise beantwortet werden können. Nur einige Probleme dieses Reflexes sind hier kurz besprochen worden. Auf den Babinskischen Reflex kann man mit Recht die Feststellung von Mark Twain anwenden: „Es ist etwas Faszinierendes um die Wissenschaft. Der Einsatz von Tatsachen ist so winzig, und der Gewinn an Mutmaßungen so gewaltig.”

Schrifttum

  • 1 Babinski J. Sur le réflexe cutané plantaire dans certaines affections organiques du système nerveux central.  Compt rend Soc de biol. 1896;  3 207
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