Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(49): 2608-2611
DOI: 10.1055/s-2003-45205
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Medizinische Soziologie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Rolle des Arztes in unserer Gesellschaft[1]

The role of the physician in our societyJ. v. Troschke
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eingereicht: 6.11.2003

akzeptiert: 17.11.2003

Publication Date:
04 December 2003 (online)

Erwartungen an die Berufsrolle Arzt

Mit dem Beruf des Arztes verbinden sich seit jeher besondere Erwartungen. In der Euphorie der Aufklärung schrieb F. Nietzsche: „Es gibt keinen Beruf, der eine so hohe Stellung zuließe, wie derjenige des Arztes ... ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunst, Vorrechte und Kunstgriffe aller anderen Berufsklassen: so ausgerüstet ist er imstande, der ganzen Gesellschaft Wohltäter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist) ... durch wohlwollende Abschneidung aller sog. Seelenqualen und Gewissensbisse: so erst wird aus einem ‘Medizinmann’ ein Heiland [6].”

Vor kurzem konstatierte der Philosoph Peter Sloterdijk [12] ein besonderes Privileg der Ärzte in der: „Definitionsmacht über die Gemüter, über das Vorliegen oder das Nichtvorliegen von Krankheiten. Ärzte haben die Macht des Befundes, sie können ein Publikum in Klienten umwandeln.”

Bezogen auf die veränderte Beziehung zwischen Ärzten und Patienten meint Sloterdijk: „Ärzte haben heute auf dem Gebiet der Körper- und Psychotechniken eine sehr viel weiter entwickelte Arbeitsteiligkeit. Früher stand der Mensch in seiner Zerbrechlichkeit und in seiner Endlichkeit vorwiegend zwei Instanzen gegenüber: der ärztlichen Zunft und der priesterlichen. Das Feld der Betreuer hat sich vom 19. Jahrhundert an radikal neu geordnet. Die Ärzteschaft hat das Priestertum weitgehend absorbiert. Beginnend mit der Psychoanalyse wird der Psychotherapeut offizieller Nachfolger des Priesters. Der Arzt für körperliche Krankheiten leistet diese psychotherapeutische Funktion teilweise mit. Der Arzt ist nicht mehr nur Partner in der Krankheit, er ist Partner in meinem Anspruch auf Selbststeigerung. Das ist etwas Neues.” Ein Charakteristikum des modernen Arztes sieht Sloterdijk darin, „dass er sich mehr und mehr für den Menschen auf dem Weg von der Gesundheit zur Hypergesundheit interessiert und weniger als der traditionelle Arzt für den Patienten auf seinem Weg von der Krankheit zur Gesundheit ...”

Ärzte werden immer noch ebenso zu „Halbgöttern in Weiß” stilisiert, wie als „Teufel” geschmäht. Man erwartet von ihnen übermenschliche Leistungen und ist gleichermaßen enttäuscht, wenn sie diese nicht zu erbringen in der Lage sind. Viele Ärzte schwanken selber ambivalent zwischen Überheblichkeit und Selbstzweifeln, zwischen der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten (wie z. B. der Operation der siamesischen Zwillinge in Singapur) und der larmoyanten Klagsamkeit über unbefriedigende Arbeitsbedingungen. So zeigen Ärztebefragungen in Deutschland über die letzten Jahre übereinstimmend ein hohes Maß an beruflicher Unzufriedenheit [8] [14].

Die ärztliche Profession und ihr Nachwuchs ist nachhaltig verunsichert. In den Diskussionen über die notwendigen Reformen im Gesundheitssystem ist man schnell bereit, Ärzten die Schuld für die aktuellen Probleme zuzuschieben, und eine stärkere Kontrolle ärztlichen Handelns einzufordern: sei es bezogen auf die ärztliche Fortbildung, die Verschreibung von Medikamenten, die Überweisung zu Fachärzten oder die Anwendung medizinischer Diagnostik. Zweifel an der Funktionalität der ärztlichen Selbstverwaltung werden geäußert und Kontrollinstanzen eingefordert.

1 Vortrag anlässlich eines Symposiums zum 80. Geburtstag von Herrn Prof. Dr. med. Dr. h.c. Walter Siegenthaler in Zürich am 11.12.2003

Literatur

  • 1 Blech J. Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten werden. Frankfurt a. M.: S.Fischer 2003
  • 2 Dörner K. Die Gesundheitsfalle. Worum unserer Medizin krankt - Zwölf Thesen zu ihrer Heilung. Econ: München 2003
  • 3 Freidson E. Profession of Medicine. New York: Dodd Mead a. Company 1975
  • 4 Imhof A. Die gewonnen Jahre. München: Beck 1981
  • 5 Kälble K, Troschke J.v. (Hrsg.) .Aus- und Weiterbildung in den Gesundheitswissenschaften . Public Health. Freiburg: DKGW 1998
  • 6 Nietzsche F. Jenseits von Gut und Böse: zur Genealogie der Moral. Stuttgart: Kröner 1964
  • 7 Parsons T. Definition of Health and Illness in the Light of American Values and Social Structure. New York: The Free Press In: E.G. Jaco et: Patients Physicians and Illness
  • 8 Rudolph H. Alarmierende Ergebnisse bei der großen Ärztebefragung der ‘Arztzeitung’.  Ärztezeitung. 2002;  197 17 ff
  • 9 Russel B. Lob des Müßiggangs und andere Essays. Zürich: Diogenes 1989
  • 10 Schipperges H. Die Medizin in der Welt von morgen. Econ-Verlag, Düsseldorf, Wien 1976
  • 11 Schipperges H, Vescovi G, Geue B, Schlemmer J. Die Regelkreise der Lebensführung. Gesundheitsbildung in Theorie und Praxis. Köln: Ärzte Verlag 1988
  • 12 Sloterdijk P. Ärzte werden immer mehr zu Fitnessbetreuern.  Ärztezeitung. 19. 9. 2003; 
  • 13 Statistisches Bundesamt (Hrsg.). Datenreport 2002 - Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. Mannheim: ZUMA 2002
  • 14 Stern K. Ende eines Traumberufes? Lebensqualität und Belastungen bei Ärztinnen und Ärzten. Münster: Waxmann 1996
  • 15 von Troschke J. Die Kunst ein guter Arzt zu werden. Bern: H. Huber 2001
  • 16 von Troschke J. Die Kunst gesund zu leben.  Wirtschaft und Wissenschaft. 2001;  26-36

1 Vortrag anlässlich eines Symposiums zum 80. Geburtstag von Herrn Prof. Dr. med. Dr. h.c. Walter Siegenthaler in Zürich am 11.12.2003

Prof. Dr. J. v. Troschke

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