PPH 2003; 9(5): 241
DOI: 10.1055/s-2003-43028
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

R. Leichtenberger
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Publication Date:
21 October 2003 (online)

Unser Gesundheitswesen ist in einem bedauernswerten Zustand. Betrogen um echte Reformen, sind die notwendigen Veränderungen dem freien Spiel der Lobbyistenkräfte durch die Bundesgesundheitsministerin rückübertragen worden. Der Kreislauf beginnt von Neuem: Kostenträger verhandeln nicht mehr über Kosten von Gesundheitsleistungen, sondern legen Budgets fest. Die Auseinandersetzung um notwendige Qualität wird auf Zertifikate reduziert. Selbstverwaltungsorgane der Mediziner bedienen im internen Verteilungskampf weiterhin die einflussreichen Spezialistengruppen und Krankenhäuser erklären im DRG-Zeitalter die „unblutige Entlassung” zum Behandlungsziel. Zur Not wird ein Patient nach zehn Tagen zu einer zweiten Operation wieder einbestellt, weil ein doppelter Leistenbruch sich in zwei Einzelleistungen gesplittet besser rechnet. Versuchte politische Einflussnahme geschieht allenfalls ersatzhalber durch junge Hinterbänkler, die medizinische Behandlungsindikationen durch willkürliche Festlegungen von Altersgrenzen ersetzen wollen.

Im Moment gehört die Definitionsmacht den Ökonomen. Dies ist die Konsequenz daraus, dass Krankenhäuser sich in den letzten Jahrzehnten wie Verwaltungen organisiert hatten. Wer einseitig an fachliche Notwendigkeiten oder gar ethische Grundsätze appelliert, macht sich in dieser Diskussion zum Außenseiter. Denn genauso wie grundsätzliche fachliche und ethische Leitlinien eine Behandlung zu bestimmen haben, so muss ein Haus wirtschaftlich gesund sein, damit Pflege und Behandlung überhaupt erbracht werden können. Um machnare Positionen zu entwickeln, müssen Prinzipien überprüft und neue fachliche Kriterien entwickelt werden.

Z. B. ist ökonomisch betrachtet die vernetzte Psychiatrie von zweifelhaftem Erfolg, weil schizophrene Patienten nach wie vor die teuersten im System sind. Der Drehtüreffekt, der der Langzeithospitalisierung folgte, hat volkswirtschaftlich betrachtet zu keinem günstigeren Ergebnis geführt. Längst liebäugeln auch Psychiater wieder mit größeren Heimen, weil sie manchmal die Hoffnung und Geduld mit den „neuen Langzeitkranken” verlieren. Auch die Befragungsergebnisse zur Lebenszufriedenheit ehemaliger dauerhospitalisierter Patienten sind widersprüchlich. Also hilft der Blick auf das Individuum selbst. Schizophrene Patienten sind mitnichten eine homogene Gruppe, weder vom Krankheitserleben und deren Bewältigungsstrategien her betrachtet noch von den daraus abzuleitenden Hilfebedarfen durch das psychiatrische System. Doch welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus für unsere Organisation und die Art der Leistungen, die wir in den Krankenhäusern anbieten? Welche Kennzahlen haben wir entwickelt, um Korrelationen zwischen der Behandlung mit Atypika, Behandlungsdauer und Wiederaufnahmen nachweisen zu können? Welche Früherkennungszeichen in einem klinischen Verlauf weisen darauf hin, ob ein junger erkrankter Mensch frühzeitig in ein komplexes und vernetztes Behandlungsprogramm integriert werden sollte, um somit präventiv drohenden Spätfolgen der Erkrankung zu begegnen, oder ob eine weiterführende nervenärztliche ambulante Behandlung alleine ausreichend ist? Ganz zu schweigen von dem Wirksamkeitsnachweis unterschiedlicher psychotherapeutischer Interventionen in der Wechselwirkung mit Bezugspflege, spezifischen Stationsmilieus und der personellen Ausstattung. Wie viel müssen wir von was vorhalten, in welcher Kombination, damit wir von evidenzbasierten und damit Erfolg versprechenden Behandlungssettings ausgehen können? Zu solchen Fragen hat zwar jeder eine Meinung, aber kaum jemand Nachweise.

Solange wir diese nicht entwickeln, argumentieren wir immer mit Überzeugungen, mit denen in Pflegesatzverhandlungen und internen Verteilungskämpfen kein Blumentopf zu gewinnen ist. Dabei geht es nicht darum, die Sprache und Methoden von Betriebswirtschaftlern zu imitieren, sondern vielmehr anzuerkennen, dass nur eine Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe zu einem realistischen Ergebnis führt, bei dem der Erfolg durch die Expertise aller Beteiligten garantiert wird.

Rainer Leichtenberger

Fritz-Reuter-Straße 9B

13156 Berlin

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