Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(41): 2118
DOI: 10.1055/s-2003-42860
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über dentogene Herde und naive Sanierungsmaßnahmen

About dental foci and non-evidence based preoperative extraction of teethE. Erdmann
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Publication Date:
09 October 2003 (online)

Anläßlich einer unglücklich verlaufenden Chefvisite sah ich in einem Zweibettzimmer einen mich traurig anschauenden 56-jährigen schwerst herzinsuffizienten Patienten mit einem blutigen Mund und ohne Zähne. Im Nebenbett lag ein 76-Jähriger, dem am Morgen ebenfalls viele Zähne gezogen worden waren, vor geplanter Aortenklappenersatzoperation. Der andere Patient sollte Herz-transplantiert werden. Auf Wunsch der Kardiochirurgen hatte der Stationsarzt beide Patienten in die Universitätszahnklinik zur „Gebisssanierung” geschickt. Dort hatte man ohne viel Federlesens alle nicht völlig gesunden Zähne als potenzielle Foci bezeichnet und praktischerweise auch gleich extrahiert. Beide Patienten hatten vorher ohne Schmerzen kauen können und gaben an, dass ihre Zähne fest gesessen hätten. Die noch recht jungen Stationsärzte unserer Klinik kommentierten die zahnärztlichen Untaten mehr oder weniger lustig und waren über meinen Unmut und Ärger überrascht. Mein Anruf bei den zahnärztlichen Kollegen und deren Chef stieß auf eine unwissenschaftliche Abwehrhaltung und die Meinung: „kranke Zähne könnten Ausgangspunkt für postoperativ auftretende Prothesenendokarditiden oder Entzündungen am transplantierten Herzen sein.” Ich meine, wer Menschen ihrer gebrauchsfähigen Zähne beraubt, muss sehr gute Gründe dafür haben. Die Focus-Theorie und die vermeintliche Fernwirkung von Zahngranulomen hatte ich bisher immer in das weite Gebiet der ungesicherten medizinischen Ansichten lokalisiert.

Eine Literaturrecherche zu diesem Thema war nicht gerade ergiebig. Die üblichen kardiologischen Lehrbücher, selbst der Braunwald, aber auch gute Werke über die präoperative Vorbereitung von Patienten enthalten dazu keinerlei Hinweise. In vielen Kardiochirurgischen Kliniken wird eine „Focus-Sanierung” des Gebisses als Teil eines präoperativen Routineprogrammes beschrieben, „um postoperative Komplikationen zu vermeiden” [1]. Dabei werden altersabhängig in 50-70 % aller Patienten Indikationen zur Zahnextraktion, Wurzelspitzenresektion und anderen zahnärztlichen Eingriffen gesehen [2]. Einige besonders aktive Autoren empfehlen sogar, grundsätzlich radikal vorzugehen und alle devitalen Zähne zu extrahieren. Am grausamsten kamen mir Bottomley und Mitarbeiter [3] vor, die sogar vorschlugen, bei mangelnder Mundhygiene präoperativ alle Zähne zu entfernen. Ein weites Feld von Meinungen reflektiert in der Regel mangelnde Evidenz. Tatsächlich war ich außerordentlich erstaunt, keine prospektiven Publikationen zu diesem doch so wichtigen Thema zu finden. Krennmair und Mitarbeiter [2] haben bei 46 Patienten die Inzidenz von „potenziellen oder fakultativen dentogenen Infektionsquellen bei Patienten mit bevorstehender Herzklappenoperation” evaluiert. Bei 33 Patienten mit geplantem Aortenklappenersatz und 13 mit geplantem Mitralklappenersatz fand man in 58 % potenzielle dentogene Infektionsquellen und führte 81 oralchirurgische Maßnahmen durch. 41-mal wurden ein Zahn oder ein Wurzelrest und 8-mal ein retinierter Zahn entfernt. In 29 Fällen wurde eine Wurzelspitzenresektion und dreimal eine Kieferhöhlenendoskopie durchgeführt. Stolz wird vermerkt, dass alle Interventionen präoperativ komplikationslos verliefen. Meyer und Mitarbeiter [4] haben retrospektiv bei 74 Herztransplantationspatienten festgestellt, dass 73 präoperativ dentale Foci hatten. 43 Patienten wurden entsprechend, vorwiegend durch Extraktion, behandelt. Bei 31 Patienten beließ man die Foci aus verschiedenen Gründen. Innerhalb von 4 Jahren wurden keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich Abstoßung, Infektion oder Überlebensrate festgestellt.

Die Literatur ist voll von mehr oder weniger heroischen präoperativen zahnsanierenden Eingriffen, deren Indikationen aber zumeist lediglich auf ungesicherten Annahmen beruhen. Der Mythos dentogener Foci [5] ist weit verbreitet. Die präoperative Zahnextraktion führt zweifellos zu einer relativ großen Wundfläche im Mund, die für sich allein schon ein erhebliches perioperatives Infektionsrisiko darstellt. Deshalb wird eine notwendige herzchirurgische Operation in der Regel dadurch um Wochen verzögert. Für den Patienten sind die Auswirkungen der Zahnextraktion im psychosozialen Verhalten und in der Ästhetik erheblich. Ehe Zahnprothesen angepasst sind, vergehen weitere Wochen. Man sollte sich gut überlegen, ob derartige Eingriffe in die Lebensqualität eines Menschen wirklich gerechtfertigt sind. Seit wir unsere Patienten zu ihrem „Hauszahnarzt” schicken mit der Bitte um eventuell notwendige zahnerhaltende präoperative Behandlung, werden in Köln keine Zähne mehr extrahiert. Seit wir dieses zahnerhaltende Minimalprogramm durchführen, ist noch keine Häufung von Endokarditiden postoperativ zu bemerken. Ihre Meinung zu diesem wirklich praktisch wichtigen medizinischen Thema würde mich sehr interessieren.

Literatur

  • 1 Bossert T. et al . Should patients undergoing cardiac surgery be evaluated for dental pathology as a potential source of infection?.  horac Cardiovasc Surg. 2002;  50 (Suppl I) 84
  • 2 Krennmair G. et al . Dentogene Infektionsquellen von Patienten mit bevorstehendem Herzklappenersatz.  Wien Klin Wochenschr. 1996;  108 289-292
  • 3 Bottomly W K. et al . Dental management of the patient treated by renal transplantation: preoperative and postoperative considerations.  JADA. 1972;  85 1330-1335
  • 4 Meyer U. et al . Heart transplants - assessment of dental procedures.  Clin Oral Invest. 1999;  3 79-83
  • 5 Wahl M. Myths of dental-induced endocarditis.  Arch Intern Med. 1994;  154 137-144

Prof. Dr. med. E. Erdmann

Klinik III für Innere Medizin, Universitätsklinikum

Joseph-Stelzmann-Str. 9

50924 Köln