Balint Journal 2003; 4(3): 78-81
DOI: 10.1055/s-2003-42528
Grenzsituation
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eindrücke aus Afghanistan

F. Schmitz1
  • 1Hattingen
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Publication Date:
24 September 2003 (online)

In der Arzt-Patient-Beziehung erfordert das Verstehen des anderen auf der ärztlichen Seite die Bereitschaft sich einzulassen, einzufühlen ohne sich zu identifizieren, aber auf der Seite des Patienten auch die Bereitschaft, sich zu öffnen. Dieses stößt unter Umständen dann an nicht oder nur schwer zu überwindende Grenzen, wenn es sich um die Begegnung mit Angehörigen einer fremden Kultur handelt.

Mit den Erfahrungen aus einer 24-jährigen internistischen Praxistätigkeit, die ich im April 01 beendet hatte, und der langjährigen Teilnahme an Balint-Gruppen fuhr ich Anfang Dez. 01 nach Afghanistan, um unbelastet von Auflagen und Einschränkungen durch Ärztekammer und kassenärztliche Vereinigung noch einmal tätig zu werden, ausgerüstet lediglich mit Stethoskop, Lampe, Reflexhammer und meinen noch funktionierenden Sinnen. Im Juni 02 bin ich von dort zurückgekehrt, nachdem ich 6 Monate unter der Ägide von Cap Anamur an 3 verschiedenen Standorten mit mehreren Kollegen allgemeinärztlich tätig war. Ich habe dort Männer, Frauen und Kinder behandelt.

Cap Anamur ist eine Organisation, die „radikale Humanität” auf ihre Fahnen geschrieben hat und seit mehr als 20 Jahren in verschiedenen Kulturen bzw. Zivilisationen, besonders in Gebieten ethnischer Konflikte tätig geworden ist. Sie arbeitet ausschließlich mit Spendengeldern unabhängig von jeglicher politischer und administrativer Kontrolle.

Die sprachliche Verständigung vor Ort war ziemlich kompliziert. Es wurden fast ausschließlich 2 Sprachen mit unterschiedlichen Anteilen an allen drei Standorten gesprochen: Farsi, dem Persischen verwandt, und Usbekisch, eine Turksprache. Selten gab es dort Übersetzer, die beide Sprachen gleich gut beherrschen, sodass ich manchmal 2 Übersetzer brauchte. Dass die Antwort des Patienten auf eine Frage zur Krankheitsvorgeschichte oder der familiären Situation manchmal nichts mehr mit der Ausgangsfrage zu tun hatte, ist leicht vorstellbar. Erschwerend für den angestrebten Informationsgewinn war aber auch die Weise unseres Fragens und Nachfragens, insbesondere Fragen nach zeitlichen und kausalen Zusammenhängen, z. B. in welcher Reihenfolge welche Symptome aufgetreten waren. Die Zeit ist dort vornehmlich die gelebte und erlebte Zeit, die durch Ereignisse, die mit starken Affekten besetzt sind , wie z. B. Tod, Geburt, gegliedert ist, und nicht abstrakt mit Kalenderzahlen gemessen wird. Daher gingen unsere Fragen, z. B. nach dem Lebensalter, oft ins Leere. So kam es vor, dass Männer auf die Frage: „Wie alt bist du”? meinem jungen Übersetzer antworteten: „ Ich bin viel älter als du”, was als reine Information überflüssig erschien, wenn der Altersunterschied evident war , aber dennoch einen verborgenen Sinn hatte, der sich erst erschloss, wenn man die hohe Wertschätzung des Alters und die damit verbundenen Rechte (der Männer) kannte.

Ferdinand Schmitz

Internist

Neustr. 1 A

45525 Hattingen

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