Handchir Mikrochir Plast Chir 2003; 35(2): 69-71
DOI: 10.1055/s-2003-40771
Editorial

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Themenheft Plexus brachialis

Focus on Brachial PlexusH. Fansa 1 , W. Schneider 1
  • 1Klinik für Plastische, Wiederherstellungs- und Handchirurgie, Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg
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Eingang des Manuskriptes: 3. März 2003

Angenommen: 3. März 2003

Publication Date:
22 July 2003 (online)

Noch heute haftet der Chirurgie peripherer Nerven etwas Mystisch-Suspektes an. Viele fachfremde Kollegen sind der Überzeugung, dass eine Rekonstruktion nach komplexen Nervenverletzungen gar nicht möglich oder sinnvoll ist. Das Vorurteil, die Nervenrekonstruktion sei sehr aufwändig, langwierig und die Ergebnisse durchweg schlecht, wird aber auch in unserem Fachgebiet mit Sorgfalt gehegt.

Tatsächlich ist die Chirurgie des verletzten Plexus brachialis aufwändig, aber wir können heute in vielen Fällen hervorragende Ergebnisse erreichen. Um dorthin zu gelangen, bedarf es allerdings der Überwindung einer Reihe von Hindernissen.

Ein wesentliches Problem ist die korrekte präoperative Diagnose. Zwar lassen sich die Ausfälle bereits klinisch dezidiert feststellen, aber Höhe und Art der Läsion sind nicht immer eindeutig feststellbar - was natürlich eine entscheidende Auswirkung auf die Form der Therapie hat. Naturgemäß ist das Patientengut sehr heterogen - nicht nur die Plexusläsionen an sich sind verschieden, sondern auch die Begleitverletzungen -, so dass viele Entscheidungen individuell intraoperativ getroffen werden müssen, fernab von algorithmierten Leitlinien. Häufig sind die Fälle also nicht unmittelbar miteinander vergleichbar. Hinzu kommt die ohnedies komplexe Anatomie (Abb. [1]), die durch die Verletzung schwieriger wird, was wiederum die Präparation erschwert und verlängert. Aus diesen Gründen hat die sorgfältige (auch zeichnerische) Dokumentation der Operation eine herausragende Bedeutung. Denn wer erinnert sich zwei Jahre nach dem Eingriff noch an den Operationssitus und die Nuancen der Rekonstruktion? Anders als bei den meisten Operationen können erst lange Zeit nach dem Eingriff die Ergebnisse evaluiert und analysiert werden, ob diese Operation oder Teile davon erfolgreich waren. Genau das aber ist notwendig, um eigenes Handeln zu überprüfen. Wir kämpfen also gleichsam mit einer überdurchschnittlich langen Latenzphase. Zudem verbleiben nicht alle Patienten in der Behandlung, und die Erfassung der Funktionalität in Schemata und Scores bleibt schwierig. Häufig schließt sich dann die Phase der Ersatzoperationen an. Ein Kapitel, das nicht weniger kompliziert ist und die bereits überstrapazierte Compliance des Patienten noch mal ausreizt.

Abb. 1 Der Plexus brachialis und seine anatomischen Beziehungen zum Skelett (Erklärungen s.u.) (Aus: Mumenthaler, M., Schliack, H., Stöhr, M.: Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. 7. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme Verlag 1998, S. 206, 207).

1Nn. pectorales (med./lat.) C5-Th1

Mm. pect. major + minor

2Fasciculus lateralis

3Fasciculus dorsalis

4Fasciculus medialis

5N. axillaris C5, 6

M. deltoideus C5, 6

M. teres minor C5, 6

6N. musculocutaneus C5-7

M. biceps brachii C5, 6

M. coracobrachialis C6, 7

M. brachialis C5, 6

7N. radialis C5-Th1

M. triceps brach, C7-Th1

M. anconeus C7, 8

M. brachioradialis C5, 6

Mm. ext. carpi rad. long./brev. C6-8

M. ext. digit C7, 8

M. ext. indicis C7, 8

M. ext. digiti minimi C7, 8

Mm. ext. poll. long./brev. C7, 8

M. abd. poll. long. C7, 8

8N. medianus C5-Th1

M. pronator teres, C6, 7

M. flexor carpi rad. C6-8

M. palmaris long. C7, 8

M. flex. digit. superf. C7-Th1

M. flex. digit. prof. (radiale Seite, II/III) C7-Th1

M. pronator quadratus C7-Th1

M. opponens poll. C7, 8

M. abductor poll. brev. C7, 8

Caput superfic. m. flex. poll. brev. C6-8

Mm. lumbricales I + II C8-Th1

9N. ulnaris (C7) C8-Th1

M. flexor carpi uln. C8-Th1

M. flexor digit. prof. (ulnare Seite, IV/V) C8-Th1

Mm. interossei palm. + dors. C8-Th1

M. lumbric. III + IV C8-Th1

M. add. poll. C8-Th1

Caput prof. m. fl. poll. brev. C8-Th1

M. palmaris brevis C8-Th1

10N. cutaneus brachii medialis C8-Th1

11N. cutaneus antebrachii medialis C8-Th1

12N. thoracodorsalis C6-8

M. latissimus dorsi

13Nn. subscapulares C5-8

M. subscapularis C5-7

M. teres major C5-6

14N. thoracicus longus C5-7

M. serratus anterior

15N. subclavius C5, 6

M. subclavius

16N. suprascapularis C4-6

M. supraspinatus C4-6

M. infraspinatus C4-6

17N. dorsalis scapulae C3-5

M. levator scapulae C4-6

Mm. rhomboidei C4-6

18N. phrenicus C3, 4

Aus all diesen Tatsachen ergibt sich die Notwendigkeit, unser Handeln zu optimieren, und zwar in Diagnose, Therapie und Evaluation.

Zunächst gilt es, die präoperative Diagnose zu verbessern. Die sorgfältige klinische Untersuchung ist dabei aber noch immer unser Leitfaden. Die präoperativen elektrophysiologischen Untersuchungen (vom erfahrenen Arzt) vervollständigen das Mosaik. Aber hier gibt es immer wieder Verbesserungen und Versuche, präoperativ erhobene Befunde mit den intraoperativen zu korrelieren und so Spezifität und Sensitivität zu ermitteln (siehe Kao und Mitarb., Seite 106). Auch die radiologischen Verfahren versuchen, ihre Treffsicherheit unter Beweis zu stellen (siehe Penkert, Seite 117). In den Anfängen steckt die hochauflösende Sonographie, die aber das Potenzial hat, in der Hand des Geübten ein Standarddiagnostikum zu werden, nicht nur in der Primärdiagnostik, sondern - viel wichtiger - in der Beurteilung des postoperativen Verlaufs. In jedem Fall ist aber für solche Korrelationen die Kommunikation zwischen den Befunderhebenden und den Operateuren von größter Wichtigkeit.

Sowohl elektrophysiologische Untersuchungen wie auch intraoperative radiologische Diagnostik (beispielsweise das offene Kernspin) werden in Zukunft auch in der Therapie ihren Stellenwert finden. Die Verbesserung der Therapie lässt sich unterteilen in die Optimierung der chirurgischen und adjuvanten Verfahren. Die Mikrochirurgie selbst wird kontinuierlich weiterentwickelt - genannt sei hier nur der endoskopische Einsatz, der sogar dreidimensionale Bilder ermöglicht. Viel wichtiger sind aber neuere Verfahren der intraoperativen Diagnose, beispielsweise diagnostische Endoskopien des Spinalkanals oder die intraoperative (Schnellschnitt-)Histologie (siehe Becker und Mitarb., Seite 112). Auch Einsatz und Art der rekonstruktiven Verfahren ändern sich. So gewinnt die Operation der geburtstraumatischen Plexusparese aufgrund ihrer guten Ergebnisse immer mehr an Bedeutung (siehe Bahm, Seite 83, und Antoniadis und Mitarb., Seite 98). Es zeigen sich hier zwar Unterschiede in der Herangehensweise, die Indikationen zu den Operationen werden aber nicht mehr in Frage gestellt. Die dauernde Suche nach Axonspendern bringt immer neue operative Methoden hervor. So hat sich vor allem im asiatischen Raum der komplette oder teilweise (nach oder vor dem Abgang zum posterioren Faszikel) C7-Transfer der Gegenseite etabliert. Auch die sog. Oberlin-Technik (Anteile des N. ulnaris für den N. musculocutaneus zu verwenden) und die Verwendung eines Astes des N. accessorius, vornehmlich für den N. suprascapularis, gehören inzwischen zum Armamentarium der Operationstechnik. Die wiederentdeckte End-zu-Seit-Koaptation hat in speziellen Fällen auch gute Ergebnisse zeigen können, die Bewertung an einem größeren Patientengut steht aber noch aus.

Die operative Rekonstruktion muskelnaher Nervenläsionen durch intramuskuläre Neurotisation ist bisher verhältnismäßig sparsam eingesetzt worden, sollte aber als Teil der wiederherstellenden Verfahren gelten (siehe Lassner und Mitarb., Seite 127). Auch die operativen Verfahren bei „simplen“ Kompressionen des Plexus brachialis unterliegen ständigen Verbesserungen. Neben der Frage, ob diese Kompressionsneuropathien auf Plexusniveau wirklich existieren, gibt es auch hier Ansätze, minimalinvasiv vorzugehen. Eine seltene Form der Kompression wird auf Seite 122 beschrieben.

Adjuvante Verfahren stecken noch in den Anfängen. So wäre es beispielsweise wünschenswert, ein Medikament zu entwickeln, das die axonale Regeneration beschleunigt. Am besten wäre dann eine systemische Applikation. Auch andere Ansätze wären denkbar: Reduktion des Narbengewebes, Aufrechterhaltung der Innervierbarkeit der Effektororgane (Haut und Muskel) oder Erhaltung der Neurone im Rückenmark etc. Derzeit sind wir aber noch weit davon entfernt, die „Pille“ zur Nervenrekonstruktion zu besitzen. Wie kompliziert und verzweigt die Regeneration an sich ist, versuchen wir auf Seite 72 darzustellen. Auch die Entwicklung alternativer Nerventransplantate mit Schwannschen Zellen, Wachstumsfaktoren oder eine Kombination aus beidem, benötigt noch einige Zeit bis zum Einsatz beim Menschen.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Reduktion der chronischen Schmerzen; hier gibt es inzwischen neben den klassischen pharmakologischen Ansätzen (beispielsweise Carbamazepin oder Gabapentin) auch operative Verfahren, wie beispielsweise die DREZotomie (die mikrochirurgische Verödung der dorsal root entry zone im Rückenmark).

Um unsere Ergebnisse zu evaluieren, ist es nötig, zunächst sorgfältig zu dokumentieren und schließlich einheitliche Kriterien der Bewertung (Scores) aufzustellen, was infolge der Heterogenität der Verletzungen und Verfahren nicht immer möglich ist. Die klassische Einteilung nach BMRC ist längst nicht mehr ausreichend, da sie nur Einzelfunktionen erfasst und nicht das Zusammenspiel. Auch die Klassifikationen nach Gilbert und Raimondi oder Mallet bleiben rudimentär. Vielleicht wird es die digitale Videotechnik ermöglichen, hier Funktionsabläufe besser zu erfassen und sie leichter zu bewerten.

Zuletzt sei erwähnt, dass auch die Ersatzplastiken, inklusive der freien, funktionellen Muskeltransplantationen, stetig verbessert werden und damit dem Patienten den Alltag erleichtern können.

Die Chirurgie der peripheren Nerven, speziell des Plexus brachialis, ist also lange noch nicht ausgereizt, sondern bedarf stetiger Verbesserung und vor allem der niveauvollen Popularisierung.

PD Dr. med. Hisham Fansa

Klinik für Plastische, Wiederherstellungs- und Handchirurgie
Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Email: h@fansa.de