PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(2): 105-106
DOI: 10.1055/s-2003-39532
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sucht

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Publication Date:
27 May 2003 (online)

Über 7 Mio. Menschen in der Bundesrepublik konsumieren Alkohol in riskanter Weise, noch einmal 2,4 Mio. betreiben einen behandlungsbedürftigen Alkoholmissbrauch, weitere 1,5 Mio. Menschen sind alkoholabhängig. Stellt man die negativen Folgen als Todesfälle und Folgekosten zusammen, so ergeben sich hinsichtlich des Alkohols allein 42 000 Todesfälle pro Jahr und 40 Milliarden DM Folgekosten. 1,4 Mio. Menschen sind von einer Abhängigkeit psychotroper Medikamente betroffen. Dabei stehen Hypnotika und Sedativa an der Spitze. Etwa 290 000 Menschen sind abhängig von illegalen Drogen, die Statistiken verzeichnen davon in der Folge über 1 800 Todesfälle (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2001). Diese dürren Zahlen sprechen für sich und belegen die enorme gesellschaftliche Bedeutung, die der Suchttherapie zukommt.

Dem Selbstverständnis der Zeitschrift PiD entsprechend haben wir auch diesmal wieder exponierte VertreterInnen der Verhaltenstherapie, Familientherapie und Psychoanalyse zu Wort kommen lassen. Für die vor allem in Suchtberatungsstellen und in Suchtfachkliniken Tätigen ist die problembezogene Zusammenarbeit zwischen TherapeutInnen, die in den Paradigmata bzw. Schulen von Psychoanalyse, Systemischer Therapie und Verhaltenstherapie ihre Ausbildung erfahren haben, längst gewohnter Alltag. Insofern ist das Thema dieses Heftes besonders gut für eine Betrachtung über die Grenzen unserer Therapieschulen hinaus geeignet.

Die grundsätzlichen Fragen einer Integration der therapeutischen Grundansätze wird, dies sei im Sinne einer Realitätsprüfung vorausgeschickt, das vorliegende Themenheft Sucht auch nicht leisten können. Doch wo gegenseitiger Austausch und Erfahrungen miteinander fehlen, wo aus mangelnder Begegnung mit dem anderen Vermutungen und Vorurteile genährt werden, müssen die entstehenden Lücken, das zeigen nicht nur die Psychopathologie und Individualgeschichte jedes Suchtpatienten, sondern auch die Geschichte politischer Entwicklungen sozialer und kultureller Gruppen, durch Ersatzbildungen gefüllt werden, u. a. durch Vermutungen, Vorurteile und im äußersten Fall sogar durch Hassbildung. Integration, so haben wir gelernt und so dürfen wir hoffen, gelingt nicht aus bedrohter, sondern aus gesicherter Identität!

Der vorliegende Band will den Blick über den Tellerrand des therapeutischen Paradigmas erleichtern und soll neugierig machen auf den anderen Ansatz. Lassen wir uns nicht irritieren durch die zum Teil sehr unterschiedliche Sprache, durch andere Gebräuche wissenschaftlicher Darstellung oder durch das, was von den hier versammelten Vertretern ihrer Disziplin als wichtiges Thema angesehen wird! Denn im Schnittpunkt aller Artikel steht die Behandlung von Suchtkranken.

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht wird der Blick auf die Sucht heute bestimmt von der funktionalen Analyse des Suchtverhaltens, d. h. der Analyse der individuellen, zumeist verdeckt wirkenden, dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglichen Wirkungsabsicht, mit der ein Suchtmittel konsumiert wird, den auslösenden Faktoren, z. B. Partnerschafts- oder Arbeitsplatzproblemen, und den nachfolgenden, das Suchtverhalten aufrechterhaltenden Bedingungen, wie etwa Spannungslösung oder Leistungssteigerung. Diese Betrachtung wird eingebunden in lebensgeschichtliche Zusammenhänge, die das aktuelle Verhalten prägen. Besondere Bedeutung haben kognitiv-emotionale Prozesse gewonnen, die in der „klassischen” Verhaltenstherapie eine noch untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Bedeutung, die der Transparenz des Vorgehens in der Therapie für den Patienten zugemessen wird, die Methoden, die zur Vermittlung plausibler Modelle entwickelt wurden, haben dort ihre Wurzeln. Als unverzichtbares Element ist darüber hinaus die Beziehungsgestaltung zwischen TherapeutIn und PatientIn zu nennen, die spezifische Methoden überhaupt erst wirksam werden lassen kann.

Die psychoanalytische Erforschung der Sucht unterscheidet zwischen einer zugrunde liegenden primären seelischen Störung und einer durch symptomatisches süchtiges Verhalten in Erscheinung tretende sekundäre Erkrankung. „Der Blick hinter die Kulissen des Symptoms . . .” (Wolf-Detlef Rost) spiegelt auch die Weiterentwicklung der analytischen Theorien in hundert Jahren wider. Anfänglich verstand die klassische Psychoanalyse Sucht als eine psychische Bildung überwiegend im Dienste der Luststeigerung, bald wurde erkannt, dass das Suchtmittel aber auch zur Unlustvermeidung gebraucht wird. Mit dem Aufkommen der analytischen Ich-Psychologie wurden die strukturellen Ich-Störungen erforscht, Sucht stellt danach einen pathologischen Selbstheilungsversuch dar, nicht genügend entwickelte Ich-Funktionen durch künstliche zu ersetzen. Die modernen Objektbeziehungstheorien schließlich erlaubten einen noch differenzierteren Blick auf die Entwicklungspathologien und deren Behandlung mit modifizierten analytischen Methoden; Sucht begründet sich in einer nicht ausgereiften seelischen Struktur, wie wir sie von Persönlichkeitsstörungen kennen.

Die psychoanalytischen Artikel geben einen Überblick zum Stand der analytischen Diagnostik und therapeutischen Technik in stationärer Entwöhnung und ambulanter therapeutischer Nachsorge: Psychopathologie der Ich- und Über-Ich-Störungen bei Suchtkranken; Sucht als Traumafolgestörung; differenzielle individualisierte Diagnostik und Behandlungsansatz in der ambulanten Suchttherapie; psychoanalytisch-interaktionelle Psychotherapie und therapeutischen Methode der Großgruppenarbeit in der stationären Suchtbehandlung; Therapie von suchtkranken Straftätern im Maßregelvollzug.

Das weitere Themenspektrum reicht von der Entwicklungsgeschichte der Suchttherapie, über entwicklungspsychologische Fragen und Probleme der Prävention bis hin zur empirischen Suchtforschung und den Beiträgen verhaltenstherapeutischer Provenienz im engeren Sinn. Diese beschäftigen sich mit der geschlechtstypischen Differenzierung in der Suchttherapie, mit der Differenzierung zwischen Missbrauch und Abhängigkeit in Diagnose, Therapieziel und Therapiemethode, mit der Frage der komorbiden Persönlichkeitsstörung bei Abhängigkeitserkrankungen und mit der Anwendung der Exposition bei Suchtkranken, einer Methode, die an der Wiege der Verhaltenstherapie stand.

Besonderen Stellenwert hat der Beitrag, der familientherapeutische Aspekte erörtert, die bei der Behandlung und in der Prävention von Suchterkrankungen immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Dennoch mussten wir uns beschränken: Es fehlt beispielsweise eine Erörterung des enormen Problems der Nikotinsucht und auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Therapie der Abhängigkeit von illegalen Drogen. Zudem konnten wir uns nicht beschäftigen mit den nicht-stoffgebundenen Formen süchtigen Verhaltens, etwa dem pathologischen Glücksspiel oder mit neueren Süchten, etwa der Telefonsexsucht oder der so genannten Internetsucht. Die meisten Beiträge in diesem Heft beziehen sich auf Alkoholabhängigkeit, die bis zur stärker drängenden Drogenproblematik der letzten Jahrzehnte im Mittelpunkt der Suchttherapie und Forschung stand und bis heute noch steht.

Die Arbeiten, die sich in diesem Heft zusammenfinden, laden ein, den Dialog zu wagen. Dazu eignet sich die „Sucht” in besonderer Weise. Wir glauben, es ist gelungen, sehr direkt und nachvollziehbar aus der Praxis die Frage zu beantworten, wie gegenwärtig in den Therapieschulen die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen gediehen ist und was die verschiedenen Richtungen gegenseitig voneinander lernen können.

Bedenkenswert für den Dialog zwischen den therapeutischen Schulen erscheinen die Worte von LÅon Wurmser aus dem nachfolgenden Interview: „Die Bildung hat in der ganzen Welt heute eine so starke Gewichtung zugunsten des Technischen und weg von den humanistischen Fächern, vor allem von Geschichte und Literatur, dass wir es uns schwer machen, mit Menschen umzugehen. Das Technologische steht leider zu sehr in einer Art Gegensatz zur Geschichte und Psychoanalyse und Psychotherapie sind nun mal eben Individualgeschichte.”

Klaus Walter Bilitza
Petra Schuhler