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DOI: 10.1055/s-2003-39497
Schöne neue Welt: Cannabis für alle?
Anmerkungen aus psychiatrischer SichtBrave New World: Cannabis for All?Some Psychiatric RemarksPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
27. Mai 2003 (online)
Ist Cannabis harmlos? Sollten Haschisch und Marihuana legalisiert werden? Im Bundestagswahlkampf 2002 machten die Grünen die Freigabe von Cannabis zum Thema, konnten sich damit aber bei den Koalitionsverhandlungen nicht durchsetzen. Die Popkultur trivialisiert nun diese Diskussion. Stefan Raab zitiert den Grünen-MdB Hans-Christian Stroebele mit seinem Lied „Gebt den Hanf frei!” Der Blödelbarde Helge Schneider antwortet „Marihuana ist nicht gut”, und die Kids summen es auf der Straße.
Die Wirklichkeit hat diese Diskussion bereits überholt: Drei bis vier Millionen Bundesbürger sollen mehr oder weniger regelmäßig Cannabis konsumieren. Der Besitz kleiner Mengen zum Eigengebrauch wird strafrechtlich nicht verfolgt. Dutzende von Zeitschriften, Hunderte von Internetseiten und ein großer, allerdings heftig diskutierter Beitrag im Deutschen Ärzteblatt [1] propagieren den Konsum ohne Reue.
Wäre es nicht ehrlicher, der normativen Kraft des Faktischen zu folgen und gesetzlich festzuschreiben, was längst schon passiert? Wäre es nicht ethischer, Cannabis gesetzlich dem Alkohol gleichzustellen, dem jährlich mindestens 40 000 Menschen direkt zum Opfer fallen? Wäre es nicht lukrativer, wenn an diesem Markt nicht Kriminelle, sondern der Staat verdienen würde? Wäre es nicht medizinisch verantwortungsvoll, ein wirksames Medikament gegen Kachexie, Tumorschmerz etc. frei verfügbar zu machen?
Diese und weitere Argumente werden für eine Legalisierung von Cannabis ins Feld geführt. Früher als „Rauschgift” mit anderen Substanzen in einen Topf geworfen, unterscheidet der gebildete Laie nun zwischen „harten” und „weichen” Drogen, deren Harmlosigkeit mit dieser Wortwahl belegt scheint. Über die Risiken von Cannabis dringt hingegen nur noch wenig an die Öffentlichkeit.
Wenn heute jeder dritte junge Patient unserer Klinik Cannabiskonsument ist und sich dadurch sein Krankheitsverlauf eindeutig verschlechtert, dann ist es höchste Zeit, an die pharmakologischen, psychiatrischen, internistischen, neuropsychologischen und sozialen Komplikationen zu erinnern.
Pharmakologisch relevant ist, dass seit den 70er-Jahren durch Züchtung der Gehalt von Haschisch an Tetrahydrocannabinol (THC), dem wirksamsten Bestandteil von Cannabis, auf das 10 - 20fache erhöht wurde. Studien aus den 60er- und 70er-Jahren zur angeblichen Harmlosigkeit von Cannabis sind daher wertlos [2].
Pharmakodynamisch und pharmakokinetisch ist beim lipophilen THC vor allem von Bedeutung, dass großes Verteilungsvolumen, aktive Metaboliten und Rückresorption aus dem Darm zu sehr langsamer Ausscheidung und verzögertem Wirkverlust führen [3]. Erst nach 30 Tagen ist der Körper wieder „clean”. Bei wiederholter Einnahme kommt es zu Akkumulation.
Die akuten körperlichen Folgen von Cannabiskonsum werden am Herz-Kreislauf-System mit Tachykardie und Gefäßerweiterung (einschließlich der geröteten Konjunktiven, den sog. „rabbit eyes”) als harmlos eingeschätzt. Es fehlen allerdings systematische Studien über den Zusammenhang von plötzlichem Herztod und Cannabis. Ferner kommt es zu Appetitsteigerung, was möglicherweise Essstörungen fördert. Die körperlichen Langzeitfolgen von Cannabisabhängigkeit betreffen verschiedene Organsysteme, insbesondere Lunge und Fortpflanzungsorgane. Abgesehen von Nikotin enthält ein Joint die gleichen Bestandteile wie Tabak, dabei jedoch höhere Konzentrationen der kanzerogenen Stoffe [4]. Chronische Cannabisinhalation fördert Bronchitis und Emphysem. Cannabis führt zu einem Absinken des Testosteronspiegels und zu mehr Fällen von Infertilität. Immunsuppression und teratogene Schäden durch Cannabis wurden beschrieben [3].
Negative psychische bzw. emotionale Folgen sind auch unter solchen Cannabiskonsumenten weit verbreitet, die nie psychiatrisch auffällig werden. Mehrere, z. T. große Studien [5] [6] [7] [8] konvergieren dahingehend, dass Angst bzw. Panikattacken bei ca. einem Viertel der Konsumenten auftreten. Jeder sechste Konsument gibt depressive Verstimmungen nach THC-Konsum an. Das Suizidrisiko ist bei Cannabiskonsumenten um ein Vielfaches erhöht. Ein Fünftel der Konsumenten berichtet Erschöpfung und Motivationsverlust, wobei das „Amotivationssyndrom” als unmittelbarer Effekt fortgesetzter Einnahme gilt [9], als eigenständiges Krankheitsbild jedoch umstritten ist [10] [11].
Der fehlende Nachweis einer nosologisch abgrenzbaren „Cannabispsychose” nahm Nedelmann [1] als Beleg für die Harmlosigkeit der Substanz. Diese unlautere Argumentation lenkt davon ab, dass THC durchaus zu psychotischen Symptomen führt, die sich nicht von anderen substanzinduzierten, organischen oder auch funktionellen Psychosen unterscheiden und damit ebenso wenig harmlos ist. Psychoseartige Zustände ereignen sich bei 10 - 20 % der regelmäßigen Cannabiskonsumenten [6] [10]. 5 - 10 % schizophrener Psychosen werden durch Cannabis zumindest ausgelöst [12]. Zahlreiche Studien belegen eine massive Erhöhung der Rezidivrate für Schizophrenie bei Cannabiskonsumenten [13] [14]. Keine andere psychotrope Substanz hat für Rezidive schizophrener Erkrankungen eine ähnlich große Bedeutung.
Die neuropsychologischen Auswirkungen von Cannabiskonsum sind erheblich und vor allem dadurch gefährlich, dass sie von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden [15] [16]. Cannabis ist nach Alkohol die häufigste Droge, die an Autounfällen beteiligt ist [17]. Unter dem Einfluss von THC sind Aufmerksamkeit, Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen nachweisbar reduziert, geistige und psychomotorische Fähigkeiten verschlechtern sich. Verlängerte Reaktionszeiten, schlechtere Koordinations-, Gedächtnis- und Konzentrationsleistungen werden schon nach niedrigen Dosen von 5 - 10 mg THC gemessen [3]. Noch 12 Stunden nach Inhalation eines einzigen Joints sind die Reaktionszeiten in neuropsychologischen Experimenten signifikant verlängert. Noch 4 Wochen nach dem letzten Joint werden verminderte Intelligenz- und Gedächtnisleistungen gemessen. Ob Cannabis auch bei Abstinenz bleibende kognitive Defizite nach sich zieht, ist umstritten.
Die Cannabiswirkung am Gehirn wird durch die Stimulation der Cannabinoidrezeptoren vermittelt. Es kommt zu einer Aktivierung des mesolimbischen Belohnungssystems und zu einer Dopaminausschüttung im ventralen Striatum und Stirnhirn [16]. Die beteiligten Regionen und biochemischen Prozesse entsprechen jenen bei Opiaten. Die Stimulation des mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystems erzeugt das subjektive Gefühl, gerade etwas Schönes und Wichtiges zu erleben. Eine Dauerstimulation führt zu Gewöhnung und so zum Bedürfnis nach einer Dosissteigerung. Ferner kommt es zu einer Gegenregulation im Motivations- und Lernsystem, die negative Auswirkungen auf Motivation, Lernvermögen, Aufmerksamkeit, Hedonie und Stimmung hat.
Verschiedene Interessengruppen bestreiten hingegen ein cannabisassoziiertes Suchtproblem. Mehrere psychiatrische und epidemiologische Studien belegen aber, dass Abhängigkeit und Entzug von Cannabis zu Recht diagnostiziert werden [18]. Wird Cannabis mehr als einmal wöchentlich konsumiert, droht ein psychisches, aber auch körperliches Entzugssyndrom mit Unruhe, Insomnie, Aggressivität, Appetitlosigkeit, Zittern, Schwitzen (z. B. [19]). Der Konsum wird deshalb häufig fortgesetzt. Es entsteht Abhängigkeit. Von allen, die je Cannabis konsumiert haben, gaben 35 % an, nicht aufhören zu können, obwohl sie es wollten. 13 % meinten, ihren Konsum nicht kontrollieren zu können [6]. Deutlich über 10 % der Konsumenten müssen demnach als cannabisabhängig gelten, in Deutschland mithin mindestens 300 000 Personen.
Der neurobiologische Wirkmechanismus erklärt das Abhängigkeitspotenzial, das Psychoserisiko und auch die Bahnung späterer Opiatabhängigkeit durch Cannabis: Durch Stimulation der Cannabinoidrezeptoren aktiviert Cannabis das mesolimbische Belohnungssystem sehr ähnlich dem Wirkmechanismus von Opiaten, es bewirkt genauso eine Dopaminausschüttung im ventralen (vorderen) Striatum und Stirnhirn und wirkt damit sowohl von den beteiligten Hirnstrukturen als auch von den biochemischen Prozessen (Hemmung des cAMP-Systems, Aktivierung von c-fos in den gleichen Regionen) her exakt wie Opiate [20] [21]. Wie bei Opiaten entfaltet sich die Wirkung über den µl-Opioidrezeptor.
Längerer Cannabiskonsum führt zu einer Veränderung der Rezeptoreigenschaften, die empfänglicher für die Opiatwirkung werden. Cannabiskonsum ist also auch aufgrund dieser neurobiologischen Mechanismen ein wesentlicher Risikofaktor für den Konsum härterer Drogen. Diese Untersuchungen sind relativ neu und deshalb in den Stellungnahmen aus der Mitte der 90er-Jahre noch nicht berücksichtigt. Ein Naturgesetz für einen zwingenden Übergang von Cannabis zu Opiaten gibt es selbstverständlich nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist aber nicht nur aus psychologischen, sozialen und (sub-)kulturellen Gründen, sondern auch aufgrund der neurobiologischen Bahnung hierfür erhöht.
Alle Risiken von Cannabis können an dieser Stelle nicht abschließend aufgelistet werden. Es wird jedoch schon beim bisherigen Kenntnisstand deutlich, dass THC keineswegs ein harmloses Genussmittel ist, sondern erhebliche psychische, körperliche und Abhängigkeitsrisiken mit sich bringt. Diese Problematik ist umso gravierender, als die Hauptgruppe der Konsumenten heute die 15 - 25-Jährigen darstellt. Befürworter einer Legalisierung von Cannabis führen immer wieder die hohe Gefährlichkeit der legalen Drogen Alkohol und Nikotin ins Feld. Alkohol und Tabak fordern ihren Tribut jedoch im mittleren und höheren Lebensalter. Es werden also Folgen und Risiken der Genuss- und Suchtstoffe bei ganz verschiedenen Populationen verglichen.
Das holländische Modell der „Coffee Shops” wird von Befürwortern einer Legalisierung von Cannabis verzerrt dargestellt. Zum einen besteht auch in den Niederlanden keine allgemeine Freigabe von Cannabis, sondern lediglich eine Duldung unter relativ strengen Auflagen. Zum anderen ist das holländische Modell insofern gescheitert, als Drogenszene, Drogenkriminalität und vor allem Heroinabhängigkeit dadurch nicht eingedämmt werden konnten. Trotz Verbotes wird auch in Holland Cannabis an Jugendliche verkauft.
Verschiedene Arzneimittelkommissionen haben festgestellt, dass es keine medizinischen Gründe für eine Cannabisfreigabe gibt [22]. Für die Behandlung von Schmerzen, Spastik, Appetitlosigkeit etc. sind nicht nur andere Medikamente verfügbar, auch Cannabinoide stehen in pharmazeutischer Zubereitung bereit und können (ggf. btm-pflichtig) eingesetzt werden.
Aus psychiatrischer Sicht haben die Argumente der Legalisierungsbefürworter somit keinen Bestand. Eine Legalisierung wäre das falsche Signal. Mögen erwachsene Bundestagsabgeordnete wie Stroebele abstinent von Alkohol und Cannabis leben, weil sie „einen klaren Kopf behalten wollen” (Originalzitat) - von der Hauptrisikogruppe der 14 - 18-Jährigen kann man nicht erwarten, dass sie „mit THC umgehen kann”. Gerade in dieser Altersgruppe würde eine Freigabe falsch verstanden werden. Auch wenn vielleicht nur 10 % der Konsumenten von Abhängigkeit, fehlgeschlagener Persönlichkeitsentwicklung, Schulabbruch oder Abrutschen in eine weitere Drogenkarriere betroffen sind - wären dies dann immer noch Hunderttausende. Und jeder einzelne Betroffene wäre ein verlorenes Leben zuviel.
Über Cannabinoide und ihre Folgen, einschließlich der internistischen und genetischen Risiken ist noch zu wenig bekannt. Wie hier dargestellt wurde, bleiben noch zahlreiche Fragen unbeantwortet und Forschung und Forschungsförderung zu mehr Anstrengungen auf diesem Gebiet aufgerufen [17]. Nur mit einer ehrlichen, von Fakten und Sachkenntnis getragenen Diskussion werden Politik und Gesetzgebung diese für viele Patienten und für viele Familien wichtige Problematik angemessen bewerten.
Literatur
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Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH
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