Geburtshilfe Frauenheilkd 2003; 63(4): 366-372
DOI: 10.1055/s-2003-39247
Fallbericht

Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Artifizielle Störungen im Bereich der Gynäkologie - eine interdisziplinäre Herausforderung

Facticious Disorders in Gynecology - An Interdisciplinary ChallengeR. A. Kurth 1 , S. Holthausen-Markou 1 , F. Leweke 1 , W. Milch 1 , C. Reimer 1
  • 1Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Justus-Liebig-Universität Gießen
Further Information

Publication History

Eingang Manuskript: 25. Februar 2002 Eingang revidiertes Manuskript: 6. März 2003

Akzeptiert: 11. März 2003

Publication Date:
20 May 2003 (online)

Zusammenfassung

Fragestellung

Artifizielle Störungen stellen eine der größten klinischen Herausforderungen dar. Da es sich um Einzelfälle handelt, sind viele Ärzte mit dieser Störung wenig vertraut. Der typische, oft komplikationsreiche Krankheitsverlauf ist jedoch oftmals darauf zurückzuführen, dass eine Selbstmanipulation gar nicht oder erst nach jahrelangem Krankheitsverlauf in Erwägung gezogen wird. Eine spezifische pathologische Patienten-Arzt-Interaktion unterhält die Störung und macht den Umgang mit Artefaktpatienten zu einem schwierigen Unterfangen. In dieser Studie wird deshalb exemplarisch der Behandlungsverlauf einer Patientin mit artifizieller Mastitis, die zuerst nur gynäkologisch, später jedoch in Zusammenarbeit mit der Frauenklinik stationär psychosomatisch behandelt wurde, untersucht. Möglichkeiten eines konstruktiven Umgangs mit diesen Patienten werden diskutiert und über die psychodynamische Bedeutung der weiblichen Brust als Ort der Selbstverletzung reflektiert.

Methodik

Die stationäre Psychotherapie wurde durch Prä-post-Vergleiche mit Hilfe standardisierter Fragebogendaten evaluiert. Außerdem wurden die somatischen Befunde sowie die Inanspruchnahme von Bedarfsarznei und Notfallgesprächen ausgewertet.

Ergebnisse

Zu Beginn der Behandlung gab die Patientin einen geringen Leidensdruck, jedoch interpersonelle Probleme an. Zum Ende zeigte sich ein gegenläufiges Bild: Eine verringerte interpersonelle Problembelastung sowie eine rückläufige Tendenz zur Selbstverletzung gingen mit einer erhöhten psychosozialen Belastung einher. Auch die somatischen Befunde und das Inanspruchnahmeverhalten unterstützender Angebote standen in einem umgekehrten Verhältnis: Eine Verschlechterung des Lokalbefundes war mit geringem und eine Verbesserung mit hohem Inanspruchnahmeverhalten verbunden.

Schlussfolgerung

Die stationäre Behandlung führte zwar zur Bewusstwerdung der der Selbstmanipulation zugrunde liegenden psychischen Probleme, eine ausreichende Bearbeitung dieser wird aber einer längerfristigen Psychotherapie vorbehalten sein. Deshalb ist bei Artefaktpatienten eine durchgängige, oft über Jahre bestehende Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fachgebieten erforderlich.

Abstract

Purpose

Factitious disorders are a clinical challenge. Because these are individual cases, physicians are often not familiar with the problem. The clinical course is often protracted and complicated. Typically the possibility of a fictitious disorder is considered only after a considerable delay. A specific, abnormal patient-physician interaction maintains the disorder. We describe a woman with factitious mastitis who at first was treated only for the presumed clinical condition and later psychosomatically on an inpatient basis. We discuss the possibilities for constructive interaction with these patients and the psychodynamic implications of self-injury of the breast.

Methods

Inpatient psychotherapy was evaluated with standardized questionnaires pre and post treatment. Somatic findings, medication requirements, and the use of emergency services were noted.

Results

Initially the patient reported little distress but admitted interpersonal problems. After treatment she reported fewer interpersonal problems and a reduced tendency to self-inflicted injury but increased psychosocial strain. Similarly, worse local findings were associated with less use of support services and improved local findings with more use of these services.

Conclusion

Inpatient treatment led to increased awareness of the psychologic problems leading to self-injury but adequate control will require long-term psychotherapy and interdisciplinary cooperation.

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Dr. biol. hum. Regina A. Kurth

Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Justus-Liebig-Universität

Paul-Meimberg-Straße 5

35385 Gießen

Email: regina.a.kurth@psycho.med.uni-giessen.de

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