Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(15): 815-819
DOI: 10.1055/s-2003-38584
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Juristische Implikationen von Leitlinien

Legal implications of guidelinesC. Dierks1
  • 1Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin, Berlin
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eingereicht: 20.1.2003

akzeptiert: 11.3.2003

Publication Date:
10 April 2003 (online)

Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft, die zunehmende Komplexität des Behandlungsgeschehens und die wirtschaftliche Notwendigkeit, Ressourcen im Gesundheitswesen effizient zu allozieren, haben die Entwicklung von Leitlinien in den vergangenen Jahren vorangetrieben. Die Zahl der Leitlinien und ihre Differenziertheit, die Zahl der behandelten medizinischen Topoi, der Gremien und Methoden zur Aufstellung der Leitlinien haben zugenommen. In der Fülle der Publikationen zu diesem Thema stellen die Untersuchungen zu den rechtlichen Auswirkungen von Leitlinien nur einen geringen Anteil. Wenn auch in der juristischen Literatur die qualitätssteigernden Ziele der Leitlinien grundsätzlich begrüßt werden, überwiegen doch mahnende Stimmen, die die Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit, die haftungsrechtlichen Risiken und die sozialrechtlichen Beschränkungen kritisieren [5] [8] [20] [21]. Die Rechtsprechung zu den haftungsrechtlichen Auswirkungen von Leitlinien war bislang rar [12] [13]. Ende des Jahres 2002 wurden nun zwei weitere Urteile zu dieser Thematik veröffentlicht. Sowohl nach der Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart [15] als auch des Oberlandesgerichts Naumburg [14] ist in einem Verstoß gegen Leitlinien nicht zwingend ein Behandlungsfehler zu erkennen. Im Kontrast zu diesen Gerichtsentscheidungen stehen die am 1.1.2000 in Kraft getretenen Vorgaben des Sozialgesetzbuches, 5. Buch. Die vom Koordinierungsausschuss auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien beschlossenen Kriterien bzgl. medizinischer Leistungen sollen für Krankenhäuser und Vertragsärzte unmittelbar verbindlich sein. Die ärztliche Selbstverwaltung, die Krankenkassen u. a. werden verpflichtet, eine Arbeitsgemeinschaft zu bilden, die die Einheitlichkeit der Qualifikations- und Qualitätssicherungsanforderungen sichern soll (§ 137b SGB V). Die aktuelle Rechtsprechung und die neue Rechtslage in der gesetzlichen Krankenversicherung geben Anlass, die juristischen Implikationen von Leitlinien, das Zusammenspiel der rechtlichen Aspekte sowie die Auswirkungen auf die rechtliche Praxis zu untersuchen und Entwicklungsnotwendigkeiten darzustellen. Im Folgenden sind die Ergebnisse dieser Recherchen wiedergegeben.

Literatur

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  • 2 BSG vom 16.09.1997 - 1 RK 17/95. Medizinrecht 1998 230: 237
  • 3 BSG vom 30.09.1999 - B 8 KN 9/98 KR/R. SozR 3 - 2500, § 27 Nr. 11 1999
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  • 5 DGMR .Die ärztliche Berufsausübung in den Grenzen der Qualitätssicherung, Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR e. V.),. Medizinrecht 1997: 570 ; Siehe auch: Wienke A, Lippert HD, Eisenmenger W, editors. Die ärztliche Berufsausübung in den Grenzen der Qualitätssicherung. Berlin: Springer; 1998.
  • 6 Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Rechtssache Geraets-Smits/Peerbooms,. Az. 157 - 99, Rz. 94
  • 7 Hart D. Anmerkung zum Urteil des OLG Naumburg,. Medizinrecht 2002: 471
  • 8 Hart D. Ärztliche Leitlinien - Definitionen, Funktionen, Rechtliche Bewertungen,. Medizinrecht 1998: 8-16
  • 9 Hess R. Kommentierung zu § 137e SGB V, Rn. 8,. München: Beck In: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht 2001
  • 10 Laufs A. Delikt und Gefährdung. Berlin: Springer In: Die Entwicklung der Arzthaftung, Laufs A, Dierks C, Wienke A, Graf-Baumann T, Hirsch G, editors. Die Entwicklung der Arzthaftung 2000: 9
  • 11 Laufs A. Die Rechtsquellen. München: Beck In: Laufs A, Uhlenbruck W, editors. Handbuch des Arztrechts 2nd ed 1999: 54
  • 12 OLG .Düsseldorf vom 15.06.2000 - 8 U 99/99,. Versicherungsrecht 2000: 1019-1021
  • 13 OLG .Hamm vom 11.01.1999 - 3 U 131/98,. Versicherungsrecht 2000: 1173-1174
  • 14 OLG Naumburg .Urteil vom 19.12.2001 - 1 U 46/01,. Medizinrecht 2002: 471-472
  • 15 OLG Stuttgart .Urteil vom 22.02.2001 - 14 U 62/2000,. Medizinrecht 2002: 650-654
  • 16 Ollenschläger G, Kirschner H, Fiene M. Leitlinien in der Medizin - Scheitern Sie an der praktischen Umsetzung?.  Internist. 2001; 42;  473-483
  • 17 Orlowski U. Kommentierung zu § 137e SGB V, Rn. 11. Heidelberg: Decker In: Maaßen HJ, Schermer J, Wiegand D, Zipperer M, editors. SGB V-Kommentar 2000
  • 18 Sefrin P. Leitlinien und Algorithmen - Hilfen oder Grenzen der Notfallmedizin?.  Intensivmedizin und Notfallmedizin. 2002; 37;  617-621
  • 19 Steffen E, Dressler W -D. Arzthaftungsrecht - Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung. 9th ed. Cologne: RWS 2002: 264
  • 20 Ulsenheimer K. „Leitlinien, Richtlinien, Standards” Risiko oder Chance für Arzt und Patient.  Anästhesist. 47;  87-92
  • 21 Wienke A. Leitlinien als Mittel der Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung.  Medizinrecht. 1998;  172-174

Priv.-Doz. Dr. iur. Dr. med. Christian Dierks

Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Berliner Hochschulmedizin

Walter-Benjamin-Platz 6

10629 Berlin

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