Viszeralchirurgie 2002; 37(6): 438-442
DOI: 10.1055/s-2002-36067
Der akademische Vortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Chirurgie im Wandel

Einsichten und AussichtenSurgery in FluxInsights and PerspectivesA.  S.  Böhle1
  • 1Klinik für Allgemeine Chirurgie und Thoraxchirurgie, Christian-Albrechts-Uiversität zu Kiel
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. Dezember 2002 (online)

Spektabilität,
sehr verehrter Herr Professor Kremer,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kollegen,

im Jahre 1540 gründeten die Barbiere und Chirurgen Englands eine gemeinsame Berufsvereinigung. Grundlage dieser Berufsvereinigung war die verbindliche Absprache, dass die Chirurgen sich in Zukunft auf die Durchführung chirurgischer Eingriffe beschränkten, im Gegenzug dazu sich die Barbiere verpflichteten, neben Rasuren und Haarschnitten ihr chirurgisches Engagement auf die Durchführung von Zahnbehandlungen zu beschränken. Nach knapp 200 Jahren beruflicher Eintracht trennte sich diese Gesellschaft dann wieder. Um 1800 verbriefte König George III. die Rechte des Royal College of Surgeons of London, aus dem 50 Jahre später das Royal College of Surgeons of England hervor gehen sollte. Um diese Zeit wurden auch die ersten Äthernarkosen erfolgreich durchgeführt, was der Chirurgie einen bisher ungeahnten Aufschwung ermöglichte, war doch erstmalig zumindest temporär eines der Haupthindernisse, nämlich der Schmerz, als Hemmschuh größerer Eingriffe überwunden.

Nach Jahren stürmischen Fortschritts konstatierte im Jahre 1873 der damals 55-jährige britische Arzt und Chirurg Sir John Eric Erichsen, Mitglied des Royal College of Surgeons of England „there must be portions of the human frame that will ever remain sacred from intrusion, at least in the surgeons hands. That we have nearly, if not quite, reached these final limits, there can be little question”. Diese Einschätzung, dass die Chirurgie ihre Grenzen, gleichwohl aber auch ihren Zenit erreichte habe, teilte 15 Jahre später auch Rudolf Matas, Professor für Chirurgie an der Tulane University in Louisiana, als er feststellte „the head, the chest and the abdomen are sanctuaries not to be opened, unless by accident”. Diese Einschätzung wird zur Gewissheit, als Alexis Boyer, ein hochgeachteter Chirurg seiner Zeit, formulierte „surgery seems to have attained the highest degree of perfection of which is capable”. Dies, zu Ihrer Erinnerung, zu einer Zeit, als die Narkoseführung aus einer Baumwollmaske bestand, die dem Patienten über das Gesicht gelegt und nach Gutdünken mit Äther beträufelt wurde.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den vorgenannten Zitaten ableiten? Alle drei zitierten Autoren, chirurgische Lehrer und geachtete Meinungsbildner ihrer Zeit, kommen zu dem Schluss, die Grenzen des chirurgisch Machbaren, mithin der Grad höchstmöglicher Perfektion, seien erreicht. Das vermeintliche Erreichen dieser Grenzen erfüllt die zitierten Kollegen aber nicht mit Unzufriedenheit über die Beschränkung ihres Faches, sondern mit der Zufriedenheit über das bisher Erreichte. Und genau hier beginnt der Trugschluss. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Chirurgie verlangt nicht die Aufstellung von Dogmen im Sinne einer unumstößlichen Lehrmeinung, sondern das ständige Hinterfragen des erreichten Wissensstandes und die wiederholte kritische Überprüfung bestehender Hypothesen.

Wie die spätere Entwicklung des chirurgischen Fachs zeigen sollte, war die Einschätzung der zitierten Kollegen nicht komplett richtig, denn die Blütezeit der modernen Chirurgie stand noch bevor. Die vorangestellten Zitate belegen auch, dass auch wenn ein allgemeiner Konsens in Bezug auf eine Sachfrage besteht, dieses nicht zwangsläufig dessen Richtigkeit belegen muss. Anders ausgedrückt: Auch wenn über Jahrhunderte unter den Gelehrten ein breiter Konsens in dieser Frage bestand, so war die Erde doch nie eine Scheibe.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vertrat das Royal College of Surgeons die Lehrmeinung, dass eine chirurgische Behandlung von Lungenerkrankungen für immer unmöglich bleiben würde. Ursächlich für diese Einschätzung war die schmerzliche Erfahrung, dass die chirurgische Eröffnung der Pleurahöhle beim spontan atmenden Patienten zum sofortigen Pneumothorax, d.h. dem Kollaps der betreffenden Lunge führte, was zumeist den Tod des Patienten zur Folge hatte. Diese wiederholt gemachte Erfahrung zog einen auf Jahre währenden Fatalismus in Bezug auf die chirurgische Behandlung der Lunge nach sich und erlaubte chirurgische Manipulationen am Brustkorb nur außerhalb der Pleurahöhle.

Zu den thoraxchirurgischen Pionieren seiner Zeit gehörte der italienische Arzt Carlo Forlanini, der 1882 den Lungenkollaps durch extrapleurale Insufflation von Luft zur Behandlung der Tuberkulose inaugurierte. Grundlage dieser Behandlung war die Annahme, dass durch die Anlage eines dauerhaften Lungenkollapses eine stabile Narbe induziert würde, die die Tuberkuloseerkrankung förmlich einschlösse und somit heile, oder zumindest dauerhaft begrenze. Indem die Pleura parietalis verschlossen blieb, konnte der gefürchtete Pneumothorax vermieden werden. Zwar hatte im gleichen Jahr Robert Koch das Mycobakterium tuberkulosis als kausale Ursache der Tuberkuloseerkrankung identifiziert, aber die Einführung potenter Antibiotika sollte noch fast 60 Jahre auf sich warten lassen.

Das von Forlanini beschriebene Verfahren war aber nicht von dauerhaftem Erfolg gekennzeichnet, da die extrapleural platzierte Luft rasch resorbiert wurde und die Lunge reexpandierte.

Unter Beibehaltung der pathophysiologischen Annahme einer Begrenzung der Tuberkulose durch Induktion einer stabilen Narbe wurde dieses Verfahren daher durch Theodore Tuffier modifiziert, der 1891 die extrapleurale Platzierung von Lipomen zur Induktion eines dauerhaften Lungenkollapses beschrieb. Damit legte er den Grundstein für das bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geübte Verfahren der Thoraxplombierung.

Da diese Methoden nicht ohne Komplikationen bleiben, kamen in den 20er-Jahren die zervikale Phrenikolyse, d. h. die Durchtrennung des N. phrenicus zur Lähmung des Zwerchfells und die Anlage eines Pneumoperitoneums zur Induktion des therapeutischen Lungenkollaps zur Anwendung. Erfreulicherweise konnten sich diese Verfahren nicht lange im chirurgischen Repertoire der Tuberkulosebehandlung behaupten.

In den 40er-Jahren wurde die Thoraxplombierung dann durch Walkup und Murphy als extrafasziale Plombierung modifiziert. Nicht weniger als 29 Materialien fanden damals Verwendung, darunter Baumwollkompressen, Seide, Wachs, Öle, Gelatine, Gummiballons, Malkreide, Bleikugeln, Kunststoffkugeln und Nylongewebe.

Als Pionier der modernen Lungenchirurgie des 20. Jahrhunderts ist Ernst Ferdinand Sauerbruch zu benennen. Als sich dieser um 1900 auf Betreiben seines Lehrers Mikulicz anschickte, eine Unterdruckkammer zur Vermeidung des tödlichen Pneumothorax zu konstruieren, wurde dieses alsbald als die Geburtsstunde der modernen Thoraxchirurgie apostophiert. Inzwischen wurde jedoch genau dieses als einer der bestdokumentierten Irrwege der Chirurgie des 20. Jahrhunderts enttarnt.

1902 führte Sauerbruch die Sektion eines Landarbeiters durch, der infolge einer Durchspießung der Brustwand verstorben war. Sauerbruch erkannte den Pneumothorax als Todesursache und folgerte, dass ein negativer intrapleuraler Druek notwendig sein musste, um der physiologischen Retrakion der Lunge entgegenzuwirken. Daraus folgerte er, dass ein negativer atmosphärischer Druck gleich dem negativen intrapleuralen Druck die Eröffnung der Brusthöhle unter Vermeidung eines Pneumothorax ermöglichen würde. Diese Hypothese überprüfte er an einem Hund, dessen Brustkorb er in einer eigens dafür konzipierten Kammer eröffnete, während der Kopf des Tieres aus dieser Kammer herausragte. Sauerbruch perfektionierte diesen experimentellen Ansatz und nachdem es ihm gelungen war, 78 Tiere ohne Mortalität zu thorakotomieren, demonstrierten Sauerbruch und Mikulicz 1904 auf dem 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin erstmals erfolgreich den Einsatz der Unterdruckkammer.

Für die Anwendung am Menschen wurde dann eine Druckkammer konstruiert, die neben dem Patienten auch den Chirurgen aufnahm. So gelang es Mikulicz, erstmals erfolgreich einen Tumor aus dem vorderen Mediastinum zu extirpieren und Sauerbruch gelang noch im gleichen Jahr die erfolgreiche Entfernung einer Rippenmetastase.

Wenngleich physikalisch korrekt, so war dieses Verfahren aufwändig, störungsanfällig und im klinischen Routinebetrieb kaum praktikabel.

Dass andererseits aber die damalige Zeit reif für die richtige Lösung war, zeigt die fast zeitgleiche Erfindung Franz Kuhns und Samuel Melzers, die einen Trachealtubus zur Überdruckbeatmung konstruierten und damit Operationen am offenen Thorax mit weit geringerem Aufwand ermöglichten.

Doch wie so oft galt der Prophet nichts im eigenen Lande. So lange, bis Kuhn und Melzer an die eben erst gegründete Rockefeller-Universität nach New York auswichen. Diese wurde unter ihrer Mitwirkung alsbald zum ersten thoraxchirurgischen Zentrum Nordamerikas, Melzer erster Präsident der noch heute hoch angesehenen American Association of Thoracic Surgeons.

Als Sauerbruch 1908 per Schiff mit seiner Unterdruckkammer in New York eintraf, vernahm man aus seinem Mund höflich, was man selbst schon besser wusste und erfolgreich praktizierte. Über eine kurze Zwischenstation im Lenox Hill Hospital Museum landete die Unterdruckkammer alsbald auf einem Schrottplatz in der Lower East Side in New York.

Sauerbruch aber hielt noch Jahre an seiner Methode fest. Grund hierfür war nicht technisches Unvermögen sondern politisches Dogma: Die Intubationsnarkose würde alsbald einen eigenen Mann zu Ihrer Durchführung benötigen. Dieser gefürchteten Aufsplitterung der Chirurgie galt es eisern zu begegnen. So hatte Sauerbruch Entscheidendes auf den Weg gebracht, sich selbst aber den weiteren Erfolg durch die beharrliche Weigerung, die Methode Kuhns und Melzers überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, verwehrt.

Mit dem Ende der Ära Sauerbruch wandelte sich das Spektrum der Thoraxchirurgie grundlegend. War die Lungenchirurgie bis in die 50er-Jahre dominiert von den septischen Komplikationen der Tuberkulose, so verlor diese durch die Einführung potenter Tuberkulostatika Ende der 40er-Jahre zunehmend an Bedeutung. Zeitgleich kam es aber zu einer explosionsartigen Zunahme der bösartigen Lungenerkrankungen, die den Schwerpunkt der Thoraxchirurgie von einem ehemals septischen zu ihrem bis heute aktuellen onkologischen Schwerpunkt wandelten. Ursache hierfür war vor allem die massive Verbreitung des Rauchens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Inzidenz des Bronchialkarzinoms reflektiert den kulturellen Siegeszug des Rauchens in eindrucksvoller Weise.

Erstmals beschrieben, aber nicht als Bronchialkarzinom erkannt wurde das Bronchialkarzinom von Paracelsus als „Bergkrankheit” Schneeberger Minenarbeiter. Ursächlich für das gehäufte Auftreten des Bronchialkarzinoms waren hier die ausnehmend hohen Radonkonzentrationen unter Tage. 1805 erfolgt die Erstbeschreibung eines Bronchialkarzinoms durch Laennec und 1879 wird die Bergkrankheit der Schneeberger Minenarbeiter als Schneeberger Lungenkrebs identifiziert. 1890 beschreibt Virchow einen kasuistischen Beitrag eines Bronchialkarzinoms in seinem Handbuch der Pathologie. In einer viel beachteten Arbeit gelingt es Adler, 1912 eine Übersicht über 374 Fälle des Bronchialkarzinoms aus der Weltliteratur zusammenzustellen. Zum Vergleich: Derzeit versterben allein in Deutschland etwa 40 000 Patienten an den Folgen eines Bronchialkarzinoms pro Jahr.

Die chirurgische Resektion hat sich rasch als Mittel der Wahl zur Behandlung des Bronchialkarzinoms etabliert. Wegbereitend auf dem Wege zu den heute durchgeführten onkologischen Resektionen war dabei Hermann Kümmel, der 1911 als erster Chirurg die Durchführung einer Pneumonektomie durch Massenligatur des Lungenhilus wagte. Damit demonstrierte er zwar die technische Durchführbarkeit dieses Eingriffes, jedoch verstarb der Patient infolge dieser Operation.

Rudolf Nissen, einem Schüler Sauerbruchs, gelang erst 20 Jahre später die erste Pneumonektomie, die überlebt wurde. Dazu führte er eine Massenligatur des Lungenhilus durch und resezierte die nekrotische Lunge zweizeitig.

Diese Methode wurde im folgenden Jahr durch Evarts Graham optimiert, der im folgenden Jahr die erste Pneumonektomie mit selektiver Versorgung der hilären Strukturen durchführte. Der Patient, seines Zeichen selber Arzt, überlebte den Eingriff um 30 Jahre und verstarb im Alter von 78 Jahren.

Parallel zur Entwicklung der chirurgischen Technik der Pneumonektomie gab es auch Überlegungen zum Parenchymerhalt. Bereits 1912 führte Morriston Davies die Resektion eines rechten Unterlappens aufgrund eines Bronchialkarzinoms mit selektiver Versorgung hilärer Strukturen durch. Tragischerweise entwickelte der Patient am 8. postoperativen Tag ein Pleuraempyem, in dessen Folge er verstarb. Obwohl die Autopsie einen suffizienten Bronchusstumpf ergab, wurde der Ruhm der Pioniertat ihm erst viel später durch die Historiker zuerkannt. Der frühe Tod des Patienten brachte die Methode der selektiven Ligatur hilärer Strukturen in Misskredit.

1918 erfolgte die erste erfolgreiche Lobektomie durch Harold Brunn. Dieser resezierte einen Lungenlappen über Wertheim-Klemmen, ligierte die eröffneten Gefäße und nähte den Stumpf der resezierten Lunge über den Bronchusstumpf.

1931 besann sich Edward Churchill, Boston, auf das von Davies erdachte Konzept der selektiven Ligatur hilärer Strukturen und führte in diesem Jahr die erste erfolgreiche Lobektomie mit selektiver Ligatur der hilären Gefäße und Übernähung des Bronchusstumpfes mit Catgut durch. Damit begründete Churchill die bis heute praktizierte Technik der chirurgischen Lobektomie.

1954 belegte dann Robinson den Wert der Lobektomie als onkologisch gleichwertig radikale Methode zur Operation eines Bronchialkarzinoms im Vergleich zur Pneumonektomie.

Das chirurgische Repertoire parenchymsparender Resektionen wurde erweitert durch die Arbeiten von Price, der 1947 die erste Manschettenresektion durchführte. Dabei wurden zusätzlich zum tumortragenden Lungenlappen Anteile des zentralen Bronchialsystems reseziert und das verbleibende Bronchialsystem anastomosiert. Der große Vorteil dieser Methode liegt in dem Erhalt gesunden Lungengewebes, was die Resektion von Tumoren in kurativer Zielsetzung bei Patienten möglich macht, die andernfalls als funktionell inoperabel anzusehen waren.

Eine weitere Modifikation fand diese Technik durch die Arbeit von Vogt-Moykopf, der die Transpositionslobektomie etablierte, bei der Ober- und Mittellappen der rechten Lunge reseziert wurden, der Unterlappen dann nach Segmentresektion der Pulmonalarterie an Hauptbronchus und den Stumpf der oberen Lungenvene anastomosiert wurde.

Weitere Fortschritte auf dem Weg zu den heute etablierten Standards der onkologischen Thoraxchirurgie waren die

Verbesserung der bildgebenden Diagnostik, die eine Präzisierung der präoperativen Therapieplanung erlaubte und die Rate der Probethorakotomien von initial 60 % Ende der 50er-Jahre auf heute unter 5 % senkte. Die Einführung der flexiblen Fiberbronchoskopie durch Ikeda 1968 Die Etablierung der Mediastinoskopie zur Präzisierung des nodalen Stagings Die Vernetzung von Chirurgie, Radio- und Chemotherapie zu einem stadienadaptierten Konzept zur Behandlung des Bronchialkarzinoms.

So verfügen wir heute über international evaluierte und etablierte Behandlungskonzepte zur Behandlung des Bronchialkarzinoms, und es scheint nahe zu liegen, zu fragen, ob die von Alexis Boyer aufgestellte Behauptung, die Chirurgie habe ihren erreichbaren Grad an Perfektion erreicht, nun knapp 100 Jahre später Gültigkeit erhalten hat?

Ich denke, sich dieser Verlockung hinzugeben und in Selbstgefälligkeit zu verharren, hieße einmal mehr, in der Geschichte der Chirurgie einem Irrtum aufzusitzen.

So ist ein wesentlicher Impuls für die Zukunft der chirurgischen Onkologie aus dem Bereich der molekularbiologischen Forschung zu erwarten. Diese hat in den letzten Jahren zu einem zunehmenden Verständnis von Tumorerkrankungen auf molekularer Ebene geführt.

Seit Jahren ist bekannt, dass zumeist nicht der Primärtumor, sondern das Auftreten von Metastasen für den fatalen Verlauf einer Tumorerkrankung ursächlich ist. Lange Zeit glaubte man dabei, dass das Auftreten von Metastasen das zufällige Ereignis einer abgeschilferten Tumorzelle vom Primärtumor ist, die dann vom Blutstrom fortgespült wird. Heute zeigen die Erkenntnisse der molekularbiologischen Forschung, dass dies beileibe kein zufälliges Ereignis ist, sondern die Tumorzelle vielmehr eine Reihe von Einzelleistungen auf dem Weg zur Metastase vollbringen muss.

Der erste Schritt besteht dabei in der Lösung interzellulärer Verbindungen, die die Tumorzelle in ihrem Zellverband fixiert. Diese interzellulären Verbindungen werden u. a. gebildet durch den E-Cadherin/Catenin-Komplex. Die Cadherine binden im interzellulären Spalt mit ihrem extrazellulären Anteil aneinander und sind verantwortlich für die interzelluläre Adhäsion. Der intrazelluläre Anteil des E-Cadherin bindet an das sog. β-Catenin, das seinerseits über ein α- oder γ-Catenin an das Zytoskelett bindet.

Weitere wesentliche Moleküle der Zell-Zell Adhäsion sind die interzellulären Adhäsionsmoleküle ICAM-1 und ICAM-2 und das Protein des DCC Gens. Eine Dysregulation dieser Proteine durch Verlust oder Mutation der sie kodierenden Gene führt zu einer Reduktion der interzellulären Adhäsion und erlaubt die Ablösung der Tumorzelle aus dem Zellverband.

Im nächsten Schritt der Metastasierung muss die Tumorzelle der Anoikis entgehen. Der Begriff Anoikis umschreibt die Beobachtung, dass epitheliale und endotheliale Zellen in dem Moment, wo sie sich aus dem zellulären Verband lösen, der Apoptose, d. h. dem programmierten Zelltod anheim fallen. Im intakten Zellverband schützt die Bindung membranständiger Integrine an die extrazelluläre Matrix oder die Basalmembran die Zelle vor der Anoikis. Wird dieser Kontakt unterbrochen, so wird eine Signaltransduktionskette aktiviert, die zur Auslösung des programmierten Zelltodes führt. Durch diesen physiologischen Mechanismus schützt sich der Organsimus vor abgeschilferten epithelialen Zellen, die sonst andernorts ektop, zum Beispiel in Form eines Adenoms, wieder angehen können.

Im folgenden Schritt muss die Tumorzelle eine Proteolyse der extrazellulären Matrix (EZM) durchführen. Die extrazelluläre Matrix stellt ein dichtes Netzwerk aus Kollagen und Elastin dar, eingebettet in eine viskoelastische Grundsubstanz aus Proteoglycanen und Glycoproteinen. Diese Matrix fungiert unter physiologischen Bedingungen als ein selektives makromolekulares Filter und trägt zudem zur Mitogenese und Zelldifferenzierung bei. Für die Migration der Zelle in der EZM muss diese von der Tumorzelle proteolytisch degradiert werden. Dieses erfolgt zum einen durch die Aktivierung von Plasminogen, zum anderen durch die Aktivierung von membranständigen Matrixmetalloproteinasen (MMP). Dabei handelt es sich um Enzyme zur Proteolyse von EZM-Proteinen wie Kollagen Elastin, Laminin, Proteoglycan und Fibronectin. Mit diesen membranständigen MMPs kann sich die Tumorzelle förmlich wie mit einem Bohrkopf ihren Weg durch die EZM bahnen.

Im nächsten Schritt zur erfolgreichen Invasion von Blut- oder Lymphgefäßen auf dem Weg zur Tumormetastase ist eine gezielte Bewegung, die so genannte Locomotion der Tumorzelle in der lysierten EZM, notwendig. Der autocrine motility factor fungiert dabei als stimulierendes Zytokin. Es wird durch Tumorzellen überexprimiert und stimuliert die Zellmigration autokrin durch Bindung an den membranständigen AMF-Rezeptor. Die Locomotion von Tumorzellen kann ebenso auf dem Wege der parakrinen Stimulation durch Zytokine normaler Zellen stimuliert werden. So sezernieren Fibroblasten den hepatocyte growth factor/scatter factor, der auf dem Wege der parakrinen Stimulation die Locomotion epithelialer und maligner Zellen stimuliert. Weitere parakrin wirksame Zytokine zur Stimulation der Zellmotilität sind Insulin like growth factor I + II, Interleukin 6 und der platelet derived growth factor.

Das Ablösen der Tumorzelle aus dem soliden Zellverband durch Auflösen der interzellulären Konnektionen, die Proteolyse der EZM und der Basalmembran und die Locomotion ermöglicht der Tumorzelle die Invasion von Blut- und Lymphgefäßen. Die Intravasation von Tumorzellen und Blutgefäßen wird dabei durch die Sekretion angiogener Faktoren begünstigt, die zusammen mit den MMPs und anderen proteolytisch wirkenden Substanzen zu einer strukturellen Auflockerung der Basalmembran und des Gefäßendothels führen.

Wenn die Tumorzelle einmal die Zirkulation erreicht hat, so ist sie gefährdet, von immunkompetenten Zellen erkannt und eliminiert zu werden. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass zirkulierende Tumorzellen nicht zwangsläufig zur Entwicklung von Fernmetastasen führen. Zur erfolgreichen Metastasierung muss die Tumorzelle bestimmte Strategien entwickeln, um in der Zirkulation unerkannt zu bleiben. Dazu gehört die gesteigerte Sialysation und Fucosylation von Kohlenhydraten auf der Zelloberfläche, wodurch Oberflächenantigene maskiert werden, was die Tumorzelle vor ihrer Entdeckung durch zytotoxische T-Lymphozyten schützt. Des Weiteren schützt sich die Tumorzelle vor der Entdeckung in der Zirkulation durch eine reduzierte Expression von MHC-I-Antigenen. Diese Antigene werden normalerweise auf der Oberfläche fast aller Gewebe exprimiert und wirken bei der Erkennung von tumorassoziierten Antigenen mit. Durch die fehlende Expression des MHC-Antigens kann die Tumorzelle in der Zirkulation von immunkompetenten Zellen nicht detektiert werden. Ebenso wie bei der Ablösung aus dem soliden Zellverband spielt auch hier die verminderte Expression der ICAM-1-Proteine eine Rolle. Fehlt dieses Protein, können immunkompetente Zellen nicht an die Tumorzelle andocken.

Hat die Tumorzelle in der peripheren Zirkulation unerkannt überlebt, so besteht der nächste Schritt der Metastasierung in einer Adhäsion der Tumorzelle am Endothel der Gefäßwand. Hierzu tritt die Tumorzelle zunächst in losen Kontakt mit dem Endothel des Blutgefäßes in der kapillären Strombahn des Zielorgans, was zu einer Verlangsamung und einem Taumeln der Zelle in der Kapillare führt, ein Prozess der als „rolling” beschrieben wird. Dabei wird ein lockerer Kontakt durch Selektine hergestellt. Selektine sind Transmembranproteine endothelialer Zellen. Ihre Liganden sind Oligosaccharide auf der Oberfläche von Tumorzellen wie sie auch bei der beschriebenen Maskierung membranständiger Antigene beobachtet werden.

Um anschließend das Blutgefäß verlassen zu können, muss die Tumorzelle die strukturelle Integrität der endothelialen Auskleidung der Kapillare unterbrechen. Die Integrität der endothelialen Auskleidung wird erreicht durch eine enge Vernetzung der Gefäßendothelzellen durch die vorbeschriebenen interzellulären Adhäsionsmoleküle. Tumorzellen sind in der Lage, auf diese interendothelialen Adhäsionen einzuwirken, um so der Zelle ein Verlassen des Gefäßes zu ermöglichen. Die vorbeschriebenen proteolytischen Phänomene erlauben der Zelle, zusätzlich die Basalmembran zu durchdringen, die EZM zu lysieren und sich so am Ort der Metastasierung zu etablieren.

Die Proliferation der Tumorzelle führt zur Entwicklung einer Mikrometastase. Diese Mikrometasase kann zu einer maximalen Größe von etwa 1 mm3 heranwachsen. Bis zu diesem Volumen ist eine nutritive Versorgung der wachsenden Metastase aus dem umliegenden Gewebe auf dem Wege der Diffusion gewährleistet, ein Wachstum über dieses Volumen hinaus ist unabdingbar an die Neubildung von Blutgefäßen geknüpft. Diese wird erreicht durch die Sekretion angiogener Zytokine durch die Tumorzellen. Dadurch wird die Proliferation ruhender Gefäßendothelzellen induziert, welche zunächst chemotaktisch dem Konzentrationsgradienten der angiogenen Zytokine folgend auf die Tumorzellen zuwachsen und dabei eine Art endothelialen Strang ausformen, der im Laufe der weiteren Entwicklung ein Lumen entwickelt und Anschluss an das Gefäßsystem findet. Dieser Mechanismus beginnt sich selbst zu unterhalten, da proliferiernende Endothelzellen ihrerseits Wachstumsfaktoren sezernieren, die in parakriner Weise die Proliferation der Tumorzellen stimulieren.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Metastasierung kein zufälliges Ereignis ist, sondern die Aneinanderreihung einer Zahl komplexer Einzelleistungen der Tumorzelle. Zu betonen ist dabei, dass die Unterbrechung eines Einzelschrittes zur Unterbrechung der gesamten Metastasierungskaskade führt, und hier liegen ernorme therapeutische Implikationen für die Zukunft. Diesen Optionen muss die moderne Chirurgie in Zukunft aufgeschlossen gegenüberstehen, um innovative Behandlungskonzepte in etablierte onkologische Konzepte implementieren zu können.

Verehrte Damen und Herren, das medizinische Wissen hat in den letzten Jahren eine exponentielle Zunahme erfahren. Diese Tatsache zwingt, in Zukunft immer häufiger das eigene Tun und dessen wissenschaftliche Grundlagen kritisch zu hinterfragen und zu aktualisieren, um der ethischen Verantwortung, der in uns gesetzten Erwartung der Patienten auf eine kompetente Beratung auf dem aktuellen Stand medizinischen Wissens zu entsprechen.

Die klinische Medizin muss sich ihrer zunehmenden Verantwortung gegenüber der Gesellschaft aufgrund des zunehmenden Spannungsfeldes zwischen dem medizinisch Machbaren auf der einen Seite, und den verfügbaren finanziellen Ressourcen auf der anderen Seite, bewusst sein. Diese Verantwortung impliziert einen maßvollen und überlegten Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln.

Erlaubten die begrenzten Möglichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts gerade dem Chirurgen die vergleichsweise ethisch einfache Haltung, alles für jeden zu versuchen, so wird es in wachsendem Maße die Herausforderung des beginnenden 21. Jahrhunderts sein, die zunehmenden technischen und operativen Möglichkeiten mit Überlegung und Bedacht zum Wohle des Patienten einzusetzen und auch technisch Mögliches dort zu begrenzen, wo dieses zwar möglich, aber nicht mehr zum Wohle des Patienten erfolgt. Dass auch Patienten diese Problematik längst erkannt haben, illustriert die zunehmende Verbreitung von Patientenverfügungen, in denen Patienten sehr klar ihren Willen dokumentieren, nicht von der Rolle eines mündigen Patienten in die eines Objektes einer unreflektierten High-Tech-Medizin zu geraten.

Es obliegt der Verantwortung der klinisch tätigen Ärzte, einer solchen Entgleisung der modernen Medizin entgegenzusteuern und ihre Fähigkeit zu einem angemessenen Umgang mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln täglich aufs Neue zu belegen.

Lassen Sie mich daher mit einem Zitat von Benjamin Franklin enden, der die vorbeschriebene Problematik in gewisser Weise bereits vorweg genommen hatte: „Beware of the young doctor and the old barber”.

PD Dr. med. Arnd Steffen Böhle

Oberarzt der Klinik für Allgemeine Chirurgie und Thoraxchirurgie
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Arnold-Heller Straße 7

24105 Kiel

    >