Balint Journal 2002; 3(4): 123-124
DOI: 10.1055/s-2002-36052
Tagungseindrücke
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Von außen nach innen - um (wieder) von innen nach außen zu gehen

(oder: erste Balint-Studientagung in Potsdam vom 26. - 28.04.02)S. Waldeck1
  • 1Potsdam
Further Information

Publication History

Publication Date:
10 December 2002 (online)

Wenn jemand aus dem sozialen Kontext, sprich Streetwork (Straßensozialarbeit), an einer Balint-Gruppe teilnimmt, ist man/frau vielleicht etwas außen vor? Doch nur formell. Ein „komischer” anderer Helfer unter „komischen” anderen Helfern.

Was macht die Helfer-Patient-/Klient-/AdressatIn-Beziehung aus? Wie ist der Umgang zueinander? Wohin geht die Reise? Was sind die Nahtstellen für eine sachorientierte und beziehungstragende Arbeit im gegenseitigen Austausch?

Warum immer so viele Fragen? Weil es auch immer so viele Antworten geben kann. Ich erlebe in der kleinen Arbeitsgruppe viele Augenblicke von Antwortversuchen - diese jedoch nicht um den Preis des Rechthabens und der Diskussion. Sondern in diesem Falle bestand die Arbeit darin, in einer (für mich) neuen, sachlich zielgerichteten und beziehungsmäßig aufmerksamen, mittragenden Art und Weise, die Fallbesprechung in jeweils 90 Minuten aufzuarbeiten, soweit wie möglich.

Nun, wenn ich in einem Helferberuf, draußen auf der Straße, es mit jungen Menschen zu tun habe und ab und an in einer Räumlichkeit, dann entstehen auch hier Nahtstellen oder „Knackpunkte”. Manchmal sogar „harte Nüsse”, die irgendwie geknackt werden wollen. Es bleibt (so) oft ein Rest an Fragen, Gefühlsverletzungen oder auch ein Nichtverstehen bei dem Helfenden.

Ich erlebte zuerst ein „von außen nach innen” (in den Fall hinein-) gehen. Meine und andere freie Assoziationen, Analogien, Empfindungen, Vorstellungen und Rationalisierungen etc. waren nach der Fallvorstellung und in einem kurzen „nach innen gehen” (7 min) gefragt. Jeder Teilnehmende (konnte) selbst in seiner „Rolle” in dem jeweiligen Fall arbeiten, ohne je das Erlebnis gehabt zu haben, selbst (ab-)gewertet, bewertet oder beurteilt zu werden.

Mit meinen Beiträgen konnte ich vergleichen, neu erschaffen und mich an anderen Äußerungen mitorientieren. D.h. etwas von anderen mitaufnehmen und erweitern, wenn es mir gefällt, oder ablehnen, wenn unangenehm. Aber immer wissend, dass es in meiner „Rolle” geschieht, dieser speziellen „Fall-Rolle”. Dadurch blieb mein Inneres geschützt einerseits und konnte die Selbsterfahrung andererseits langsam nebenher sich nähren lassen.

Derjenige, der diese Vorgehensweise etwa aus der Supervision kennt, ahnt vielleicht, worum es hier gehen könnte. Ohne Supervisionserfahrung ist Balint-Arbeit dennoch zu empfehlen, weil hier eine indirekte und gesundende Fallklärung miteinsetzt bzw. einsetzen kann. Was der Einzelne (der Fallerzähler) daraus macht, ist ihm überlassen. Er/Sie erzählt ja aus freien Stücken.

Die Veränderung innerhalb von 90 Minuten ist für einen Neuling verblüffend. Denn es ist etwas in die Sprache gekommen, was vorher im Chaos oder in dem Unbewussten schlummerte. Und damit ist etwas Neues realitätsbezogen aufgetaucht.

Harte innere Arbeit ist es schon, wenn man/frau intensiv zuhören soll und will. Die mehr oder weniger korrigierende bzw. klärende Funktion der zwei Leiter innerhalb der Gruppe ist gut hinnehmbar und auch sehr wichtig, die Relation (Verhältnismäßigkeiten) zu verdeutlichen. Der Erzähler vom Anfang bleibt ja dann „draußen”. Und die Leitenden sind nur ab und an sprachlich mit dabei, um immer wieder zurückkommen zu können zu dem Fall. Auch mal lachen und im Ansatz mitzuweinen, wenn unglaubliche Geschichten so glaubhaft daherkommen, ist eine Kunst, die mancher Helfer dadurch lernen kann auszuhalten - ohne gleich Wertungen und Schubladenzuordnungen zu treffen.

Für mich ist es schwer gewesen, die Warte-Spannung auszuhalten, bis denn (endlich) jemand etwas erzählt. Doch warum nicht lernen, auch zu warten? Weniger auf „Godot” (absurdes Theater), als vielmehr auf den Fall. Jeder Fall ist etwas Fremdes und im Nahen angesiedelt. Etwas Fragendes, Unverstandenes, im Ähnlichen vorkommend. Und das Ausgesprochene ist immer bemüht, sich deutlicher darzustellen. Davor hatte ich zum Beispiel (noch) etwas Angst. Erst in der Überwindung dieser Angst erlebte ich (die Weite und) den erleichternden Augenblick. Es kann dann einen anderen Zugang zurück geben. Wohl nicht immer gleich umsetzbar oder übernehmbar, doch das Echo des miteinander Redens, ist mir noch in Erinnerung, dass ich um die möglichen Phänomene weiß.

Kurzum: Eine kontinuierliche Gruppenerfahrung mit Balint kann ich mir vorstellen. Es tat gut, neue Menschen mit anderen An- und Einsichten kennen zu lernen. Und die Aufwertung von gesprochenen Mitteilungen - gegenseitig - ist eine andere Art, die Sinnfrage von erlebten und zu erlebenden zu stellen. Und damit wird das „große Leben” (Gott) befragt. Weniger in Ritualen - es sei denn, man zählt die Spiel- bzw. Gesprächsregeln von Balint dazu - als vielmehr die Kompetenz des miteinander Teilens.

Wo immer wir Menschen uns treffen und miteinander (ehrlich) teilen, etwas aus unserem (Er)Leben, da ist das „große Leben” (in uns) herausgefordert und nach einer Weile des Austausches, wird das „große Leben” (da draußen) plötzlich wieder neu und spannend. So wird eine Angst zu einem Beobachter und unser Miteinander und unsere jeweilige Kreativität übernimmt die Leitung. Im Ausfüllen unserer jeweiligen Rolle, in der Balint-Gruppe (oder auch anderswo), kann es uns (nach einer Weile) leichter fallen, auftauchende Schwierigkeiten anzusehen, anzuhören und mitzuempfinden - ohne die innere Fassung zu verlieren, auszurasten oder zu verstummen.

In diesem Sinne mein Dank an den Einladenden und alle Teilnehmer.

Siegfried Waldeck

Kastanienallee 34

14471 Potsdam

    >