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DOI: 10.1055/s-2002-33889
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Der Kaiserschnitt zwischen Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, Mangel an gesichertem Wissen und ärztlicher Entscheidung
Caesarean Section Between the Right to Self-Determination by the Pregnant Woman, the Lack of Definite Knowledge, and the Physician's DecisionPublication History
Publication Date:
06 September 2002 (online)
Mit der Thematisierung der „Sektio auf Wunsch“ bzw. erweiterter Indikationen wurde für „gediente“ Geburtshelfer ein Sakrileg gebrochen, galt es doch über Jahrzehnte als geburtshilfliche Tradition, Kunst und Verpflichtung der Schwangeren gegenüber, einen Kaiserschnitt sowie damit verbundene Risiken und Komplikationen zu vermeiden. Gleichzeitig wurden mögliche Komplikationen und Folgen einer vaginalen Geburt im Allgemeinen mit der Schwangeren nicht diskutiert und aufgrund fehlender Informationen und Rechtsverbindlichkeit wurde darüber auch nicht aufgeklärt.
Niedrige Sektioraten wurden als Gütesiegel geburtshilflicher Leistungen einer Klinik, Sektiosparprogramme als unabdingbare interne und externe Qualitätskontrollen propagiert, ohne dass jemals allerdings die „ideale“ Sektiofrequenz definiert wurde, geschweige denn, dass der weltweit unübersehbare Trend zu steigenden Kaiserschnittraten aufgehalten wurde. Eine Diskussion über die Höhe von Sektiofrequenzen erscheint anachronistisch zu sein, eine Diskussion über großzügige Indikationen für eine Sektio, quasi auf Wunsch, die von der FIGO 1998 als ethisch nicht gerechtfertigt bezeichnet wurde, ist hochaktuell! Sie geben in beispielhafter Weise die von Selbstbestimmung und Freiheit des Individuums, von Erhalt der körperlichen und sexuellen Integrität und Lebensqualität geprägten Wertmaßstäbe unserer heutigen Gesellschaft wieder, die durch die Geburt eines Kindes nicht beeinträchtigt werden sollen. Sie charakterisieren aber auch die stetig steigenden Ansprüche unserer Patientinnen an ein Gesundheitssystem, das darauf nicht eingerichtet ist.
Diese Entwicklung ist nicht denkbar ohne die durch rapide Fortschritte in der Geburtsmedizin geschaffenen Rahmenbedingungen wie die Verminderung der mütterlichen Mortalität und Morbidität nach Sektio, dem zunehmenden Bewusstsein um Probleme bei der vaginalen Geburt und die erhebliche Zunahme forensischen Drucks. Bereits 1988 gab jeder dritte befragte Geburtshelfer offen zu, die Indikation zur Sektio aufgrund der Angst vor Kunstfehlerprozessen großzügiger zu stellen, als es seiner Überzeugung und seinem fachlichen Wissen entsprach.
Im Mittelpunkt der Argumentation steht allerdings die zunehmende Bedeutung des Selbstbestimmungsrechtes der Schwangeren.
In einer Zeit abnehmender geburtshilflich-klinischer Erfahrung bei abnehmenden Geburtenzahlen und einem ständig ansteigenden Wissen der Schwangeren werden der Wille der Schwangeren und ihr Selbstbestimmungsrecht zum dominierenden Regulativ, der Geburtshelfer zum „Kundenbetreuer“: Seine Angebotspalette reicht von der „sanften“ „natürlichen“ Ambientegeburt mit unvergesslichem Geburtserlebnis bis zur optimal geplanten und terminierten „Techno-Geburt“ mittels elektiver Sektio in Regionalanästhesie. Diese Angebote dienen dem Ziel, den Vorstellungen und Wünschen von Frau und Partner gerecht zu werden und sie damit vielleicht auch für die nächste Entbindung zu gewinnen. Die Ablehnung des Wunsches der Schwangeren impliziert das Problem des Geburtshelfer-Hoppings nach dem Motto, wenn Du nicht auf meinen Wunsch eingehst, dann tut es eben der Geburtshelfer im Krankenhaus nebenan. Es mag ein für den Geburtshelfer unwürdiges Dilemma entstehen, in dem ärztliches Gewissen und ärztliche Entscheidungsfreiheit auf die Probe gestellt werden, was im Spannungsfeld einer heute höchst kompetitiven Geburtshilfe die Sorge vor Verlust der Schwangeren sowie vor finanziellen und Imageeinbußen nachvollziehbar macht. Immerhin gaben bei einer letztjährigen Umfrage von Fisk 70 % der Geburtshelfer an, sie würden den Wunsch der Schwangeren nach Kaiserschnitt bei unkomplizierter Einlingsschwangerschaft am Termin erfüllen. Diese Rate könnte derzeit in Deutschland noch wesentlich höher liegen.
Auch schon früher verbargen sich hinter so genannten Sammelindikationen oder subjektiv formulierten Indikationen wie „mangelnder Geburtsfortschritt“ eine Ausweitung der ursprünglichen strengen medizinischen Indikationen, die häufig dem Wunsch der Frau und/oder ihres Geburtshelfers entsprachen. Der Geburtshelfer, der auf diese Weise verschleiert auch schon früher das Selbstbestimmungsrecht seiner mündigen Patientin respektierte, darf sich heute offen zum Caesarismus bekennen, ohne dass ihm klassisch geburtshilfliche Fähigkeiten abgesprochen werden.
Ins Rollen brachte den Stein eine im Lancet 1996 von Al-Mufti und Mitarb. veröffentlichte Umfrage bei 282 weiblichen und männlichen Geburtshelfern in London, bei der sich 31 % der weiblichen für einen Kaiserschnitt als bevorzugten Geburtsmodus bei unkomplizierter Einlingsschwangerschaft in Schädellage und Erstparität am Termin aussprachen. Die Gründe waren in 80 % Angst vor Verletzungen des Beckenbodens mit Inkontinenzfolgen, Langzeitauswirkungen auf die Sexualität in 58 % der Fälle sowie Sorge um eine Verletzung oder Schädigung des Kindes und der Wunsch nach zeitlicher Terminierung der Geburt. Diese Umfrage von Al-Mufti hat ebensolche in anderen Regionen und Ländern provoziert. Eine andere - ebenfalls aus England stammend - ergab bei gleichen Ausgangsfragen einen Wunsch nach Sektio bei 14,6 % der weiblichen und 16,4 % der männlichen Geburtshelfer. Diese Zahlen lagen bei ähnlichen Befragungen in Irland mit 7 % und in Italien mit 4 % weitaus niedriger. Durch ihre Erfahrungen mit Schwangeren nach Kaiserschnitt geprägt, bevorzugen Hebammen in Deutschland zu 100 % unmissverständlich die vaginale Geburt, in England sind es 95,6 % und in Holland 98,6 %. Die Wahl des natürlichen physiologischen Geburtsweges, aktives Geburtserleben und die Sorge vor Risiken bei und nach Kaiserschnitt wiegen mehr als die Furcht vor Beckenbodenverletzungen oder eingeschränktem sexuellen Erleben.
Die Untersuchung von Al-Mufti hat aber auch die kürzlich erschienenen Definitionen zur „Wunsch-Sektio“ der Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht deutlich geprägt. Danach ist die Sektio auf Wunsch, also ohne ersichtliche medizinisch begründete Indikation, von der Sektio aus Furcht der Frau vor Gefährdung des Kindes, Schmerzen oder organischen Spätschäden zu trennen. Dabei wird interessanterweise auch das Betreiben des Arztes aus Sorge vor Schäden und haftungsrechtlicher Verantwortung im Sinne einer weichen, relativen allgemeinen Sektioindikation anerkannt.
Paterson-Brown und andere namhafte Protagonisten der modernen Geburtshilfe empfehlen, eine Sektio auf Wunsch durchzuführen, sofern die Schwangere in vollem Umfang aufgeklärt ist: „informed decision“. Die anschließende kritische Diskussion dieser Empfehlung im British Medical Journal [1999; 318: 120] ist lesenswert, charakterisiert sie doch alle Facetten der Sektio auf Wunsch im Spannungsfeld zwischen ärztlicher Ethik, Entscheidungsfreiheit und Glaubwürdigkeit einerseits und dem Recht der Schwangeren auf Selbstbestimmung und gezielter Unversehrtheit andererseits. Eine adäquate Beratung der Schwangeren ist nur möglich, wenn die Risiken der vaginalen Geburt gewissenhaft, kundig und nicht tendenziös den Risiken der Sektio gegenübergestellt werden. Der Zeitaufwand an Beratung dürfte im Allgemeinen denjenigen für die Durchführung des gesamten Eingriffs überschreiten, er wird aber erheblich schlechter honoriert.
Prof. Dr. med., Direktor der Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe W. Rath
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
Email: wrath@ukaachen.de
Prof. Dr. med. K. Vetter
Klinik für Geburtsmedizin, Vivantes Klinikum Neukölln
Mariendorfer Weg 28
12051 Berlin
Email: vetter@knk-berlin.de