Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(34/35): 1741
DOI: 10.1055/s-2002-33551
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Mangelnde ärztliche Sorgfalt?

Missing medical care?E. Erdmann
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Publication Date:
03 September 2002 (online)

Prof. Dr. E. Erdmann

Jede Zeit hat Ihre eigenen Modeströmungen. Unter anderem reden wir jetzt alle über Evidence-based Medicine, die sich mehr oder weniger verbindlich für Diagnostik und Therapie in den nationalen und internationalen Leitlinien niederschlagen soll. Schaut man bei der AWMF [1] nach, so findet man inzwischen um die 1000 verschiedene Leitlinien für die meisten Gebiete der Medizin. Ein naiver Beobachter der Szene würde daraus folgern, dass gut ausgebildete und belesene Ärzte ihre Patienten nach neuestem Standard und kostengünstig, also optimal untersuchen und behandeln. Nicht mehr die mit vielen Jahren Verzögerung erscheinenden dicken Lehrbücher berühmter Professoren, die, fern der praktischen Erfahrung auf ihren Steckenpferden herumreiten, sind aktuell, sondern die jederzeit und überall im Internet verfügbaren aktuellen „Guidelines”. Das gilt für Indikationen zur Koronarographie [2] ebenso wie für die Therapie des Reizdarms oder die Abklärung der Prostatahypertrophie [1]. Leider sieht die Praxis ganz anders, viel ernüchternder aus. Kaum die Hälfte der Patienten wird medikamentös korrekt behandelt, obskure Medikamente, meist viel zu geringe Dosierungen und gelegentlich ungewöhnliche Indikationen beherrschen überraschend häufig den medizinischen Alltag. Der klinischen Pharmakologie sind diese, für unseren Berufsstand höchst peinlichen Probleme schon längst bekannt. Herr Kollege Böger beschreibt in seinem aufrüttelnden Beitrag in diesem Heft (Seite 1764) am Beispiel der medikamentösen Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz, wie schlimm der medizinische Alltag aussieht. Wenn die eindeutig lebensverlängernd wirksamen ACE-Hemmer und Betarezeptorenblocker bei chronischer Herzinsuffizienz nur bei 40-60 % der Patienten eingesetzt werden, und selbst nach Myokardinfarkt noch nicht einmal in der Hälfte der Fälle diese inzwischen recht preiswert gewordenen und eindeutig prognoseverbessernden Medikamente gegeben werden, dann ist etwas faul in unserem Berufsstand.

Es wird spekuliert, dass Ärzte nicht mehr in der Lage sind, die Leitlinien oder Lehrbuchartikel zu verstehen. Natürlich lesen sich bunt gedruckte Werbeprospekte auch leichter, da sie zum großen Teil aus Bildern bestehen. Besorgniserregend wird das nicht-leitlinienkonforme Verhalten so vieler Kollegen in unserem Lande auch dann, wenn es mit hohen und möglicherweise nicht gerechtfertigten Geldausgaben verbunden ist. Kürzlich veröffentlichte die hochangesehene medizinische Zeitschrift Lancet einen speziell auf Deutschland gemünzten Artikel, in dem wir deutschen Kardiologen richtig vorgeführt werden [3]. „Höchster Ressourcenverbrauch und geringste Effizienz” ist das verkürzte Fazit dieses langen Artikels, in dem wir darauf hingewiesen wurden, dass wir in Europa die bei weitem höchsten Herzkatheterzahlen pro 1000 Einwohner aufweisen aber gleichzeitig die schlechteste medikamentöse Therapie zur Sekundärprävention nach Myokardinfarkt und praktisch keine effektive Diätberatung oder medikamentöse Therapie der Hypercholesterinämie. Uns wurde ironisch vorgehalten, dass Kranke nach Infarkt in unserem Lande 3-4 Wochen in einer Reha-Klinik verbringen, nach der Entlassung nur 69 % der Patienten Statine einnehmen und schon 12 Monate später nur 35 % einen Cholesterinspiegel im Normbereich aufweisen. Zwischen den Zeilen wurde uns vorgehalten, dass wir unsere Patienten lieber extrem lange im Krankenhaus halten, sie für Wochen in Reha-Kliniken schicken, komplizierte und teure technische Untersuchungen durchführen, aber die weitaus billigere und effizientere medikamentöse Therapie vergessen.

Wir sollten uns nichts vormachen. Wenn Krankenkassen heute mehr und mehr beginnen, uns Ärzten vorzuschreiben, wie wir unsere Patienten behandeln sollen, dann hängt das auch damit zusammen, dass nicht immer nur der Patient unwillig ist, seine Medikamente regelmäßig und in korrekter Dosierung einzunehmen. Am Beispiel der chronischen Herzinsuffizienz lässt sich allzu leicht nachweisen, dass ein autistisch undiszipliniertes therapeutisches ärztliches Verhalten zu Lasten unserer Patienten geht. Herr Böger zeigt in seinem Artikel das Problem mit aller Klarheit. Wenn man außerdem noch an die vielen umstrittenen Medikamente mit fraglicher Wirkung und ohne „Evidenz” denkt, die in Deutschland so gerne zu Lasten der Krankenversicherungen verschrieben werden und über die unsere europäischen Kollegen nur den Kopf schütteln, dann zweifelt man an der ärztlichen Sorgfalt. Unsere Patienten haben ein Recht darauf, nach neuestem wissenschaftlichen Stand beraten und behandelt zu werden. Möglicherweise geht es nicht ohne effektive Qualitätskontrolle.

Literatur

  • 1 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften .http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/
  • 2 .http://www.dgkardio.de/leitlinien/index.php
  • 3 Dissmann W, de Ridder M. The soft science of german cardiology.  Lancet. 2002;  359 2027-2029

Prof. Dr. med. Erland Erdmann

Klinik III für Innere Medizin (Kardiologie, Angiologie, Pneumologie und Internistische Intensivmedizin)

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