PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(1): 1
DOI: 10.1055/s-2002-25010
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Chronische körperliche
Erkrankungen

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Publication Date:
11 April 2002 (online)

Für manche Leserinnen und Leser von PiD mag das vorliegende Heft etwas ungewöhnlich sein, beschäftigt es sich ja mit einer Problemstellung, die zum einen nicht zu den klassischen Aufgaben von Psychotherapie zu gehören scheint, zum anderen so komplex wirkt, dass die fundierte Auseinandersetzung damit im Rahmen eines Themenheftes eine Überforderung sein könnte. Deswegen haben wir uns als Heftherausgeber entschlossen, für diese Ausgabe ein Experiment zu wagen.

Zunächst einigten wir uns darauf, das Heft nicht nach Krankheitsbildern zu gliedern. Zwar entstanden in den letzten Jahrzehnten in allen maßgeblichen Versorgungsbereichen chronisch kranker Patienten auch psychotherapeutische Arbeitsgruppen, wie die Psychoonkologie, die Psychokardiologie oder auch die Psychonephrologie zeigen, die übergreifenden Problemstellungen in der Arbeit mit chronisch körperlich Kranken scheinen uns jedoch so prominent zu sein, dass wir uns in diesem Heft mit einigen konkreten Beispielen aus der Versorgungspraxis begnügen wollen.

Abweichen wollen wir auch von der gewohnten Gegenüberstellung verschiedener therapeutischer Ansätze. Es macht keinen Sinn, einen psychoanalytischen Zugang zum Apoplexpatienten, verhaltenstherapeutische Strategien bei Multipler Sklerose oder systemische Ansätze beim Asthma bronchiale isoliert zu betrachten. Wenn sich ein Störungsgebiet für die schulenübergreifende Betrachtungsweise eignet, dann sicherlich das große Gebiet der chronischen körperlichen Erkrankungen.

Deswegen haben wir auch auf die Darstellung eines einzigen Standpunkte-Beitrags verzichtet und die Fragestellung in Aspekte der Krankheitsverarbeitung (Filipp und Ferring), der Kooperationsstrukturen (Kröger und Hendrischke) sowie des Sozialrechts (Begher) und der Leitprinzipien in der Betreuung chronisch kranker Kinder (Noeker) aufgegliedert. All diese Bereiche scheinen uns essenziell bei der Arbeit mit chronisch körperlich Kranken zu sein.

Die praktischen fallorientierten Berichte beginnen ebenfalls mit einem Experiment: Wir haben Expertinnen und Experten eingeladen und sie gebeten, sich am runden Tisch miteinander Gedanken über die psychotherapeutische Versorgung von chronisch körperlich Kranken zu machen. Eine Hausärztin, eine Psychotherapeutin und eine Gutachterin für die Pflegeversicherung diskutierten zusammen mit einem Chefarzt einer Inneren Abteilung eines großen Versorgungskrankenhauses Fragestellungen der besseren Vernetzung, der gegenseitigen Erwartungen und der möglichen Kooperationsperspektiven. Diese Diskussion haben wir im Heft abgedruckt. Danach folgen Vignetten psychotherapeutischer Arbeit mit chronisch Kranken: Arbeit mit asthmatischen Kindern, auf einer Kinderkrebsstation sowie die ambulante Behandlung von erwachsenen Tumorpatienten werden durch einen Beitrag zur Bedeutung der Berufstätigkeit von chronisch kranken Patientinnen und Patienten ergänzt.

In unserer Rubrik „Forschung aus der Praxis” sind Arbeiten zusammengestellt, die die familiäre Interaktion bzw. die Paarinteraktion in Bezug auf Krankheit untersuchen. Dazu wird in Ergänzung zu der Familienperspektive ein innovatives Versorgungsmodell aus der Praxis vorgestellt.

Aus den Rückmeldungen unserer Leserinnen und Leser wissen wir, dass die Interviews in den bisherigen Heften sehr positiv aufgenommen wurden. Deshalb räumen wir dieser Art von Positionsvermittlung in diesem Heft mehr Raum als üblich ein: Susan McDaniel, die als eine der Ersten die Familientherapie in das Feld der Medizin einführte, berichtet über die collaborative family health care coalition. Frau Heinl wird als Fachvertreterin und gleichzeitig selbst Betroffene zum Erleben ihres Apoplex befragt. Herr Fürstenau äußert sich dezidiert zu Fragen der Psychotherapieschulen und der Zukunft der Psychotherapie, ebenfalls mit einem Blick auf unsere Thematik.

Die immer bessere apparative und medikamentöse Versorgung der betroffenen Patientinnen und Patienten hat in den letzten Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung deutlich ansteigen lassen. Die Entwicklung der Lebensqualität der Betroffenen hat damit jedoch nicht Schritt halten können. Zwar überleben jetzt Menschen mit z. T. mehreren chronischen Erkrankungen, von denen jede einzelne vor Jahren noch zum Tode geführt hätte, die Bewältigungskompetenzen der Einzelnen und der Familien werden dadurch jedoch mehr denn je gefordert und stoßen häufig an Grenzen. Genauso wie bei Patientinnen und Patienten die Verdrängung ein weit verbreiteter Bewältigungsmechanismus ist, finden sich auch bei den Beteiligten an der Versorgung zu viele, die die demografischen Veränderungen bezüglich der Alterspyramide nicht in veränderte Konzepte zur psychotherapeutischen Betreuung übersetzen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Psychotherapieklientel der nächsten Jahre sich immer weiter in Richtung von Multimorbidität und chronischer Krankheit entwickeln wird. Damit stellen sich für inhaltliche psychotherapeutische Prozesse und Therapieziele ebenso neue Herausforderungen wie auch für die Praxisorganisation und die Psychotherapierichtlinien.

Michael Broda
Arist v. Schlippe
Wolfgang Senf