PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(1): 82-86
DOI: 10.1055/s-2002-25009
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

An Beziehungsarbeit darf nicht gespart werden

Susan  McDaniel , Friedebert  Kröger, Arist  von Schlippe[1]
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Publication Date:
11 April 2002 (online)

PiD: Susan, Ihr Name verbindet sich mit Begriffen wie „Familientherapie in der Medizin”, aber auch mit „Systemischer Familienmedizin” (family systems medicine) und mit dem fast nicht ins Deutsche zu übersetzenden Begriff „collaborative family health care coalition”. Wie würden Sie zwischen diesen Begriffen unterscheiden?

S. McDaniel: Es gibt tatsächlich viele Begriffe, die im Rahmen dieser Arbeit entstanden sind, jeder von ihnen beinhaltet eine etwas andere Akzentuierung. Systemische Familienmedizin ist dabei wohl der umfassendste Begriff, er bezieht sich auf jede Anwendung der Familiensystemtheorie und der daraus abgeleiteten Praxis in der Medizin. Das muss dabei überhaupt nicht Familientherapie im engeren Sinn sein! Möglicherweise kennen Sie Doherty und Baird’s: „Levels of Involvement of Physicians with Families”, in der die unterschiedlich intensive Einbeziehung der Familie in die medizinische Versorgung beschrieben wird[2]. Stufe 2 beschreibt beispielsweise eine Praxis, bei der in einer Klinik der Familie medizinische Informationen gegeben werden. Stufe 3 bezieht dann die Gefühle mit ein, die sowohl der Patient als auch die Familienmitglieder in Bezug auf die Krankheit und die Behandlung haben. Stufe 4 bedeutet eine komplexere Einschätzung des familiären Behandlungsbedarfs, z. B. ob die Familie einbezogen werden muss, wenn es darum geht, ein Pflegeproblem zu verstehen und zu lösen oder darum, in einer kardiologischen Behandlung einen Plan für die Rehabilitation nach der Klinikentlassung zu erstellen. Nur die Stufe 5 betrifft die Familientherapie im engeren Sinne, also Psychotherapie mit Patienten und ihren Familien. Der Begriff „Systemische Familienmedizin” beinhaltet also die familienorientierte medizinische Grundversorgung, Interventionen auf den verschiedenen Ebenen des Modells und auch eben „medizinische Familientherapie”, um noch einen neuen Begriff einzuführen.

PiD: Verbinden sich mit diesen Begriffen auch Entwicklungsstufen in Ihrer eigenen persönlichen Entwicklung?

S. McDaniel: Allerdings - ich begann 1982 familienmedizinisch mit Patienten zu arbeiten, das war in einer Abteilung für Familienmedizin an der Universität von Rochester. Ich war als Klinische Psychologin ausgebildet, dann als Familientherapeutin, und ich war eingestellt worden, weil die Fakultät interessiert daran war, Familientherapie in der unmittelbaren medizinischen Versorgung einzusetzen und dieses Vorgehen zu evaluieren. Ich entdeckte, dass es sehr viel zu tun gab, aber die direkte Anwendung von Familientherapie (Stufe 5) machte für die praktizierenden Hausärzte in der Regel keinen Sinn. 1983 begann ich dann mit Tom Campbell zusammenzuarbeiten. Es ging uns darum, aus der Familiensystemtheorie einen praktikablen Ansatz für die medizinische Grundversorgung zu entwickeln. Das Buch „Family-Oriented Primary Care”[2] berichtet über unser Curriculum für Studenten, die Hausärzte werden wollten. Dieses Buch ist auf englisch und spanisch erschienen. Tom Campbell, Jeri Hepworth, Alan Lorenz und ich sind gerade dabei, dieses Buch zu überarbeiten, 2002 wird es auch auf koreanisch erscheinen.
Gegen Ende der 80er Jahre hatte ich nach sechs intensiven Arbeitsjahren, in denen wir daran gearbeitet hatten, Familiensystemtheorie in die Versorgung einzubringen, das Gefühl, eine Ahnung davon zu haben, was Ärzte über psychosoziale Themen wissen müssten und vor allem, wie sie ihr Wissen umsetzen sollten. Gleichzeitig wurde mir klar, dass, während wir an der Implementierung eines biopsychosozialen familienorientierten Ansatzes in der Medizin gearbeitet hatten, die große Mehrheit meiner Psychotherapeuten-KollegInnen überhaupt nicht aus einer biopsychosozialen Perspektive heraus handelte. Sie waren eher „psychosozial fixiert”, sie (be)handelten, als ob Menschen wohl Geist und Seele, aber keine Körper hätten. Ich begann, mich dafür zu interessieren, „auf der anderen Seite der Straße” zu arbeiten, d. h. ich brachte das „biopsychosoziale Evangelium” zu meinen Kollegen aus den psychosozialen Berufen. Im Gespräch mit Jeri Hepworth und Bill Doherty auf einer Family Process Konferenz in Costa Rica wurde deutlich, dass wir viele ähnliche Ideen hatten. Aus dieser anfänglichen Diskussion entstand unser Buch „Medical Family Therapy: a Biopsychosocial Approach to Families With Health Problems”. Es hat uns sehr gefreut, dass dieses Buch einige Zeit später ins Deutsche übertragen wurde[3].
Noch eine Bemerkung zum Thema Begriffe: Unsere interdisziplinäre Zeitschrift hieß anfangs „Family Systems Medicine”. Dieser Titel kam gut an bei Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern in den USA, aber die Pflegekräfte waren verärgert. Sie hatten das Gefühl, dass „Medizin” etwas ist, das Ärzte tun, und dass dieser Begriff sie ausschloss, trotz ihrer großen Beiträge zur Praxis und Forschung familiensystemisch orientierter Medizin. Aus diesem Grund, also um die Multidisziplinarität dieses Konzeptes hervorzuheben, wurde der Titel der Zeitschrift 1996 geändert in „Families, Systems & Health”. Zu der Zeit übernahmen Tom Campbell und ich von Don Bloch die Aufgabe, die Zeitschrift herauszugeben. Möglicherweise ist dies nun mehr über all diese Begriffe, als Sie überhaupt wissen wollten.

PiD: Was würden Sie als zentrale Aufgaben und Fähigkeiten ansehen, die Psychotherapeuten brauchen, wenn sie im Feld der chronischen Krankheiten tätig werden?

S. McDaniel: Das ist eine große Frage. Ich werde versuchen, eine kleine, vorläufige Antwort zu geben, und würde auf das schon erwähnte Buch „Familientherapie in der Medizin” für eine komplette Antwort verweisen. In der medizinischen Familientherapie versuchen wir, eine Art Metakonzept bereitzustellen, das in jeder Art von Familientherapie oder auch Psychotherapie genutzt werden kann, also einen generellen Zugang, der die Rolle physischer Krankheit oder auch eines physischen Traumas auf emotionale und interpersonale Prozesse reflektiert und umgekehrt. Zuerst gilt es also, einen biopsychosozialen Ansatz grundsätzlich zu akzeptieren. Ich bin darüber erstaunt, dass auch Ärzte die biologische Grundlage solcher Prozesse mitunter ignorieren. Ich möchte, unabhängig davon, was das präsentierte Problem eines Patienten, eines Paares oder einer Familie ist, die gesamte Geschichte kennen lernen: Körperliche Krankheiten müssen ebenso wie psychosoziale Entwicklung und Krisen einbezogen werden, und ich finde es sehr wichtig, der Frage nachzugehen, wie das eine auf das andere gewirkt hat. Psychotherapeuten sollten eine genau Anamnese der körperlichen Erkrankungen erheben, nicht um Differentialdiagnosen zu stellen, sondern um die Krankheitsgeschichte zu verstehen, die jeder Patient und jede Familie hat: ihre eigenen Health Beliefs[4], ihre eigenen Diagnosen, die Frage, ob sie einig sind oder sich darüber streiten, wie man mit der Krankheit umgehen soll, und auch die Frage, wie sie mit Ärzten und dem Gesundheitssystem in Kontakt sind. Zweitens beinhaltet die Kunst der medizinischen Familientherapie, Interventionen mit Patient und Familie zu entwickeln (manchmal mit dem gesamten Behandlungsteam), die sowohl unter biologischen als auch unter psychosozialen Gesichtspunkten sinnvoll sind. Drittens: Da wir glauben, dass jedes Problem oder jede Krankheit am besten im Kontext verstanden werden kann, im Kontext der bedeutsamen Bezugspersonen[5] des Patienten, glauben wir auch, dass Psychotherapeuten dann am besten arbeiten, wenn sie mit den anderen Professionellen zusammenarbeiten, die an der Behandlung des Patienten beteiligt sind. Dieses „Multi-Systems Work” ist komplex, konzeptuell ist es manchmal kaum zu leisten (ganz zu schweigen von dem logistischen Aufwand, der damit verbunden ist), aber es ist äußerst wirkungsvoll. Ein guter medizinischer Familientherapeut sollte also in der Lage sein, zu konzeptualisieren und zu intervenieren

auf der Ebene der intrapsychischen Prozesse des Patienten, auf der Ebene der interpersonalen Systeme (Familie, Freunde, Arbeitsplatz) und auf der Ebene der an der Behandlung beteiligten Spezialisten.

In Bezug auf jedes Problem kann die Intervention auf einer dieser Ebenen im Vordergrund stehen, aber die Diagnostik bezieht all diese Systemebenen mit ein. Und die Behandlung kann durch die verschiedenen Systemebenen verfolgt werden, wenn nötig, außer man hat das Glück und schafft es, eine einfache und elegante Intervention zu entwickeln, die auf allen Ebenen gleichzeitig positiv wirkt. Wenn das - selten genug - passiert, ist es, als hätte man für den Patienten und den Psychotherapeuten eine Goldmedaille gefunden.

PiD: Sie sagen, dass Sie als Klinische Psychologin mit chronisch kranken Menschen und ihren Verwandten genauso zu tun haben wie mit anderen Berufsgruppen. Würden Sie einen Unterschied sehen, was Psychologen lernen müssten, um im Vergleich zu anderen Berufen in diesem Feld effektiv zu arbeiten?

S. McDaniel: So wie Ärzte lernen müssen, wie psychosoziale und interpersonale Themen physische Krankheit und Störung beeinflussen, so müssen Psychologen lernen, wie physische Krankheit und Behinderung intrapsychische und interpersonale Prozesse beeinflussen können. Das Ziel ist für beide das gleiche, nämlich biopsychosoziale Kliniker zu werden, mit unterschiedlichen Bereichen von Expertise und Fokus. So wie Ärzte dazu tendieren könnten, in ihrer Einschätzung und Behandlung eines komplexen Problems somatisch fixiert zu bleiben, so könnten Psychologen dazu tendieren, psychosozial fixiert zu bleiben. Beides kann für Familie und Patient gefährlich sein. Ich habe gerade mit der American Psychological Association ein Projekt abgeschlossen, ein psychologisches Curriculum für die medizinische Grundversorgung zu entwickeln. Das spezifische Feld der Allgemeinmedizin beispielsweise beschreibt 13 zentrale Bereiche von Wissen und Fähigkeiten für Psychologen, die in dem Feld tätig sind:

Biologische Aspekte von Gesundheit und Krankheit Kognitive Aspekte von Gesundheit und Krankheit Affektive Aspekte von Gesundheit und Krankheit Verhaltensbezogene und entwicklungsbezogene Aspekte von Gesundheit und Krankheit Soziokulturelle Aspekte von Gesundheit und Krankheit Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgungssysteme Allgemeine Probleme in der medizinischen Grundversorgung Die klinische Einschätzung von allgemeinen Bedingungen der medizinischen Grundversorgung Klinische Interventionen in der medizinischen Grundversorgung Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Allgemeinmedizin Ethische Themen in der Allgemeinmedizin Juristische Fragen in der Allgemeinmedizin Professionelle Fragen in der Allgemeinmedizin

Sie können sehen, dass wir meinen, dass der Psychologe etwas über Biologie und Psychophysiologie wissen sollte, aber ich würde mehr Gewicht auf die Notwendigkeit legen, dass physische Erfahrungen in die Analyse und Intervention von emotionalen und interpersonalen Problemen einbezogen werden, genauso wie der Einfluss psychosozialer Faktoren auf den Verlauf und die Behandlung physischer Krankheit (um einmal diese Erfahrungen künstlich voneinander zu trennen).
Die andere wichtige Komponente des Trainings, die ich für Psychologen betonen würde, ist, zu lernen, wie sie mit anderen Professionellen im medizinischen Bereich und mit Teams zusammenarbeiten könnten. Psychologen haben genau wie Ärzte gelernt, unabhängige Praktiker zu sein. Sie lernen nicht, wie man kooperiert, und es gelingt ihnen oft schlecht, wenn sie es versuchen. Ärzte und Psychologen werden in den USA mit einem guten Stück professionellen Chauvinismus und mit einer Konkurrenzorientierung versehen, die nicht produktiv ist, wenn der Patient ihre Zusammenarbeit braucht. Das müssen wir überwinden in unseren psychologischen und medizinischen Programmen, wir müssen es mit Dozenten und Praktikern versuchen zu überwinden, die noch in der „alten” Weise ausgebildet worden sind.

PiD: In einer Ihrer Publikationen[6] berichten Sie über die Arbeit mit einer älteren Frau und ihrem Sohn: Die über 80-jährige Patientin leidet an einem ausbehandelten Morbus Crohn. Wenn man dieses Beispiel liest, werden sehr viele der Prinzipien Ihrer Arbeit deutlich: Sie sind von dem Hausarzt als Familientherapeutin hinzugezogen worden. Im ersten Schritt haben Sie alle Professionellen, die mit dem Fall zu tun hatten, an einen Tisch gebracht, und Sie sind auch während der gesamten Behandlung in engem Kontakt mit ihnen geblieben. Unser Eindruck ist, dass dies eine Menge Energie und Zeit kostet. Ist das eher ein typisches Beispiel oder eine Ausnahme in Ihrer Arbeit?

S. McDaniel: Sie beziehen sich auf etwas, was den meisten Menschen, die „kollaborative Arbeit” machen, sehr gegenwärtig ist: Sie braucht in der Tat Zeit und Energie! Meine Antwort ist, dass in einigen einfachen Fällen Kollaboration[7] in der von uns gemeinten Weise nur in geringem Ausmaß erforderlich ist. Dann gibt es Behandlungen, bei denen wir Professionellen einander schlicht „tolerieren” sollten. Fälle einer mittleren Komplexität brauchen das, was wir „Kooperation” nennen, d. h. dass man sich mit dem Behandlungsplan des anderen Spezialisten vertraut macht und gelegentlich mit ihm darüber kommuniziert. Aber die wirklich schwierigen Patienten, wie in dem Fall, den Sie erwähnt haben, brauchen volle „Kollaboration”. Ich denke, dass alles, was an der „Beziehungsarbeit” gespart wird, letztlich länger braucht, weil es einfach nicht funktioniert. Wir können natürlich das „Rad” schnell drehen, aber wir kommen dann nicht vorwärts. Der Patient braucht in einem solchen Fall intensive und integrierte Pflege. Das heißt, man entwickelt einen gemeinsamen Behandlungsplan und ist häufig in Kontakt. Alles andere wäre so, als würde man eine schwere Migräne mit ein bisschen Aspirin behandeln oder einen Elefanten mit einer Wasserpistole beschießen. Dieser Grad von Kollaboration braucht enorm viel Zeit; gleichzeitig kann auf diese Weise ein schrecklicher, Besorgnis erregender Fall häufig in etwas verwandelt werden, was intellektuell stimulierend und kreativ ist und manchmal sogar Spaß machen kann.

PiD: Die Frau in dem Fallbeispiel war sehr zurückhaltend, sich überhaupt auf einen psychotherapeutischen Kontakt einzulassen. Was würden Sie sagen, ist die zentrale Aufgabe, die ein medizinischer Familientherapeut hat, wenn er das Ziel verfolgt, solche „widerständigen” Patienten in den Prozess der Kollaboration einzubinden?

S. McDaniel: Ihre Fragen treffen genau den Kern der Sache. Ja, viele „medizinische” Patienten haben Widerstände gegen Psychotherapie. Sie wollen zu ihrem körperlichen nicht auch noch ein psychisches Problem haben. Das „Joining”[8] mit diesen Patienten ist eine wirkliche Herausforderung. Was ich mit dieser Patientin begonnen habe, ist relativ typisch für das, was ich in solchen Fällen tue:

In der ersten Sitzung sollten nach Möglichkeit sowohl der Patient als auch die Familie und der somatisch behandelnde Arzt anwesend sein. Es ist sehr nützlich, wenn dieser in der Lage ist, die körperliche Situation des Patienten zu beschreiben und psychotherapeutische Zugänge wertzuschätzen. Bereits da kann ein wenig Vertrauen aufgebaut werden. Ich nutze die Sprache, in der der Patient über das Problem spricht, ich verwende also keine psychologische Sprache (in diesem Fall auch keine medizinische Sprache), es sei denn, der Patient verwendet sie. Ich achte darauf, was der Patient als aktuelles Problem schildert; darüber nehme ich Kontakt auf. Frau C., die Frau mit dem Morbus Crohn im Beispiel, war sehr ängstlich und verweigerte notwendige Untersuchungen. Ich sagte zu ihr, dass ich mich mit ihr ein paarmal treffen würde, um über die Untersuchung zu sprechen. Da mir ihr Hausarzt bekannt war (der in diesem Fall auch mit im Erstgespräch saß) und der Facharzt darauf drängte, dass die notwendigen Untersuchungen gemacht würden, war das der Ansatzpunkt9. Ich schlug ihr vor, dass ich ein paarmal mit ihr und auch mit ihrem Sohn sprechen würde und dass wir danach gemeinsam sehen würden, ob sie der Untersuchung zustimmen könnte. Ich sprach zu dem Zeitpunkt noch nicht über das, was ich auch da schon wusste, nämlich dass die Patientin suizidal war, dass sie bedrohliche Halluzinationen hatte und dass die Beziehung zwischen ihr und ihrem erwachsenen Sohn sehr eng und symbiotisch war. Dies waren nicht die Probleme, die sie angesprochen hatte. Wir gelangten dahin, aber das Joining musste zuerst stattfinden. Ich schlage eher zwei bis drei Konsultationssitzungen vor als eine Psychotherapie. Die Patienten brauchen Zeit und Raum, um sich mit mir vertraut zu machen und zu sehen, ob sie das Risiko auf sich nehmen mögen, das Gespräch zu vertiefen. Ich mache deutlich, dass das ein ganz normaler Vorgang ist.

PiD: Zurück zur Kooperation der Professionellen. Was uns sehr beeindruckt hatte, war der Einsatz von E-Mail. Sie haben sich gegenseitig kontinuierlich informiert, indem Sie sich E-Mails geschickt haben, und auch die Patientin (bzw. der Sohn) beteiligte sich daran. E-Mail ist eine recht neue Technologie, Sie scheinen sie sehr selbstverständlich zu nutzen. Ist das bereits eine Art von „Gold-Standard” in der Kollaborationsarbeit?

S. McDaniel: Ich war sehr zurückhaltend, als ich zum ersten Mal eine E-Mail von dem erwachsenen Sohn von Frau C. erhielt. Zu diesem Zeitpunkt, ungefähr vor sechs Jahren, hatte ich noch nie E-Mails in der Behandlung eingesetzt. Irgendwie hatte der Sohn, er war Ingenieur, meine E-Mail-Adresse herausbekommen und nutzte sie. Zu meinem Schreck hatte er auch - ohne darüber ein Wort zu verlieren - die Adresse des Hausarztes mit meiner Adresse verknüpft, sodass jede Nachricht auch an ihn ging und umgekehrt. Dann verstand ich: Er wollte Kollaboration und er erleichterte sie! Ich hatte Sorge, dass er diese Technik missbrauchen könnte, aber er tat es nicht. Genau genommen nutze ich seit dieser Zeit E-Mail in der Arbeit mit Patienten, sie berichten mir mitunter ihre Träume und vieles andere mehr. Ich habe es bis jetzt noch nicht erlebt, dass dies missbraucht wurde, obwohl auch der Tag sicher einmal kommen wird.

PiD: ;Noch eine letzte Frage zu dem Beispiel. Sie und Ihre familientherapeutische Kollegin Jennifer Harkness arbeiteten gemeinsam mit Mutter und Sohn. Sie arbeiteten aber auch getrennt, eine von Ihnen arbeitete mit der Mutter, die andere mit dem Sohn. Ist auch das typisch für Ihre Arbeit. Und wie gehen Sie mit dem Problem um, wenn der eine mehr Vertrauen in den einen, der andere mehr Vertrauen in den anderen entwickelt, einfach weil er oder sie sich vom jeweiligen Einzeltherapeuten mehr wahrgenommen oder vielleicht auch mehr wertgeschätzt fühlt als vom anderen?

S. McDaniel: Das ist nicht die Regel. Eigentlich führe ich Einzel-, Paar- oder Familiengespräche allein. Aber es gibt diese Fälle, die sich ganz offensichtlich von Anfang an sehr schwierig gestalten und die deshalb einen Teamansatz brauchen. Ich habe, glaube ich, schon erwähnt, dass ich Therapie vor allem in einem Lehrsetting durchführe, d. h. unter Teilnahme verschiedener fortgeschrittener Ausbildungskandidaten; eine von diesen war Jennifer Harkness. Sie hatte mich gefragt, ob sie eine Therapie mit mir zusammen durchführen könnte, und ich dachte, dass der geschilderte Fall ausgezeichnet dazu geeignet wäre, etwas zu lernen. Ja - und wie haben wir entschieden, wer was tun sollte? Es war eine ganz natürliche Aufteilung: Jennifer hatte mir erzählt, dass ihre Großeltern aus Tschechien eingewandert waren, und Frau C. stammte von dort. Ich wusste, dass die Migration ein wichtiges Thema sein würde und dass die Information über Jennifers Herkunft Frau C. helfen würde, mit ihr in Kontakt zu kommen. Ich hatte auch intuitiv das Gefühl, dass die Jugend von Jennifer hier von Vorteil sein könnte, weniger bedrohlich für Frau C. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich die Dynamik des Sohnes relativ schnell verstand und dass es einfach und interessant sein würde, mit ihm zu arbeiten. Den Rest, wusste ich, könnten wir gemeinsam schaffen. Da es ein Lehrfall war, trug ich die Gesamtverantwortung für die Behandlung, aber Jennifer und ich arbeiteten durchgängig als Team mit einem gemeinsamen Ziel.

PiD: Zum Abschluss unseres Interviews möchten wir noch einmal auf die Unterschiede zwischen unseren Ländern schauen. Die biopsychosoziale Orientierung in der Medizin hat eine lange Tradition, in den USA mit dem Namen George Engel, bei uns eher mit Viktor von Weizsäcker und Thure von Uexküll verbunden. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie früh eine Art von Denken propagiert haben, die wir heute als „systemisch” bezeichnen würden, und integrative Modelle entwickelt haben - und doch sind wir heute von Integration noch weit entfernt.
Wie sehen Sie die Situation hier im Vergleich zu den USA? Sie waren verschiedentlich in Deutschland zu Vorträgen, Workshops und Arbeitsaufenthalten und wissen, wie sehr die Unterschiede zwischen den Therapieschulen hier betont werden.

S. McDaniel: Natürlich gibt es auch in den Vereinigten Staaten verschiedene therapeutische Richtungen, die wichtigsten sind die verschiedenen Formen von Verhaltenstherapie, die systemische Therapie, die humanistischen Ansätze und die psychodynamischen Therapien. Ähnlich wie in Deutschland stehen sie zueinander in Konkurrenz; zur Zeit sind insbesondere die Verhaltenstherapieansätze im Kommen, weil es ihnen am leichtesten fällt, ihre Effektivität nachzuweisen, also „evidence based” zu sein. Natürlich spielen auch psychodynamisch/psychoanalytische Ansätze weiterhin eine Rolle, aber sie sind nicht annähernd so verbreitet wie in Deutschland.

PiD: Was sind aus Ihrer Sicht die praktischen Konsequenzen, die sich aus der Konkurrenzorientierung der Schulen in Deutschland ergeben?

S. McDaniel: Ich weiß nicht, ob ich diese Frage richtig verstanden habe. Wenn Sie wissen wollen, was ich über die Differenzierungen und den Wettbewerb zwischen den Psychotherapieformen in Deutschland denke, muss ich gestehen, dass ich das psychotherapeutische Feld in allen seinen Differenzierungen und den Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen nicht wirklich überschaue. Ich vermute jedoch, dass es mehr um Einfluss als um Inhalte geht; jedenfalls ist dies in den Vereinigten Staaten der Fall - also dass jede Gruppe meint, dass sie einen besseren Weg eingeschlagen hat als die anderen. Das verhindert natürlich, dass die unterschiedlichen Richtungen voneinander lernen, und das verhindert auch, differenzielle Indikationen zu stellen und zu verstehen, welches Vorgehen für welches Problem das angemessene ist.

PiD: Letzte Frage: Gesetzt den Fall, Sie wären heute die Interviewerin gewesen? Welche Frage hätten Sie gestellt, die wir vielleicht vergessen haben zu stellen?

S. McDaniel: Oh, ich würde sagen, Sie waren nahezu perfekt![10] Mir fällt nichts ein, was Sie vergessen haben könnten - oder doch, vielleicht eines: Ich glaube, es ist eine wichtige Frage, ob man als „ganzheitlicher” Mediziner alles allein machen oder ob man versuchen will, das biopsychosoziale Modell durch Kooperation mit anderen im Gesundheitssystem Tätigen umzusetzen. Ich glaube, Engel und vielleicht auch von Uexküll tendierten zum individuellen Modell, in dem der psychosomatisch-biopsychosozial ausgerichtete Arzt alle diese Aspekte verkörpert und umsetzt. Ich glaube auch, dass dies möglich ist, wenn das Problem nicht zu komplex und zu schwerwiegend ist. Wenn es dies aber sein sollte, dann genügt das individuelle Modell nicht mehr, und die Kollaboration im Behandlerteam wird notwendig, ganz genauso wie Familientherapie an die Stelle von Einzeltherapie tritt, wenn Beziehungsprobleme im Vordergrund stehen. Am Ende seines Lebens hatte George Engel das familiensystemische, kollaborative Modell unterstützt, so wie er es in der Zusammenarbeit mit z. B. Lyman Wynne, mir und anderen kennen gelernt hatte. Über diese Anerkennung haben wir uns besonders gefreut, weil er uns mit seinem biopsychosozialen Modell entscheidende Impulse gegeben hatte. Was wir hinzufügen konnten, ist, glaube ich, ein größeres Verständnis dafür, wie die unterschiedlichen Ebenen miteinander interagieren, wie man das biopsychosoziale Modell in die Praxis umsetzen kann (z. B. in „Family-Oriented Primary Care”) und wie man es in der Arbeit mit komplexen Problemfällen dadurch erweitern kann, dass man Konzepte dafür hat, wie die unterschiedlichen, an der Behandlung beteiligten Spezialisten optimal miteinander kooperieren können.
So, das ist alles, was ich zu sagen habe. Vielen Dank, dass Sie mich um dieses Interview gebeten haben.

PiD: Wir bedanken uns bei Ihnen, Susan. Alles Gute für Ihre weitere Arbeit!

1 Übersetzung: F. Kröger und A. v. Schlippe

2 McDaniel, S., Campbell, T., Seaburn, D. (1990). Family-Oriented Primary Care. New York: Springer. Im Original 1992 in New York bei Basic Books erschienen. Deutsche Version (übersetzt von Friedebert Kröger und Askan Hendrischke): (1997). Familientherapie in der Medizin. Heidelberg: Carl Auer.

3 Baird, M., Doherty, W. (1986). Family resources in coping with serious illness. In: Karpel, M. (Ed.), Family resources: the hidden partner in family therapy. New York: Guilford, 327-358; das Schema ist auf S. 362f.

4 Mehr als nur „Krankheitsvorstellungen”: Alltagstheorien über das Krankheitsgeschehen, die Pathophysiologie und vor allem über die Verursachung von Krankheit, siehe z.B.: Filipp, S.-H. (1990). Subjektive Theorien als Forschungsgegenstand. In: Schwarzer, R. (Hrsg.). Gesundheitspsychologie. Göttingen: Hogrefe, 247-262.

5 „Significant others”: ein Begriff aus der Theorie des Symbolischen Interaktionismus.

6 McDaniel, S., Harkness, J., Epstein, R. (2001). Differentiation before death: Medical family therapy for a woman with end-stage crohn’s disease and her son. In: McDaniel, S., Lusterman, D., Philpot, C. (Hrsg.), Casebook for Integrating Family Therapy. Washington: American Psychological Association.

7 Das "American Heritage Dictionary" definiert den Begriff "Collaboration" als „miteinander arbeiten”, weniger geläufig ist im Amerikanischen die Bedeutung „verräterische Zusammenarbeit mit dem Feind”. Der Gebrauch des Begriffes impliziert für S. McDaniel „respektvolle Partnerschaft” und „geteilte Verantwortung”, ausführlicher hierzu: McDaniel, S. (1996). Kooperative familienorientierte Gesundheitsfürsorge. Psychotherapeut 41, 45-50.

8 In der Familientherapie bezeichnet „Joining” den Prozess, in dem sich der Patient auf die einzelnen Familienmitglieder und die Familie als Ganzes einstimmt und mit ihnen eine gemeinsame Ebene findet.

9 Die erforderlichen Untersuchungen bestanden in einer Darmspiegelung.

10 Unsere freie Übersetzung der Originalaussage, die lautete: „ Geez, you German men are so smart!” (Anm. von Kröger und v. Schlippe)