PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(1): 98-99
DOI: 10.1055/s-2002-25006
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychotherapie und
chronische Krankheit -
die Psychotherapie muss
„Beine bekommen”

Arist  von Schlippe, Wolfgang  Senf , Michael  Broda
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Publication Date:
11 April 2002 (online)

Eingangs im Editorial hatten wir gesagt, dass dieses Heft ein Experiment sein würde, bei dem sich erst am Ende herausstellen kann, was daraus geworden ist. Eines dürfte ganz klar geworden sein: Es gibt nur wenige Bereiche psychotherapeutischer Tätigkeit, in denen es so sehr darum geht, das Wissen zusammenzuführen, über das wir auf verschiedenen Ebenen verfügen, wie die Arbeit im Kontext chronischer Krankheit. Wie in einem Mikroskop werden in diesem Arbeitsbereich nicht nur die Grenzen und Kuriositäten der herkömmlichen Orientierung an therapeutischen „Schulen” deutlich, die Grenzen von Modellen, die jeweils beanspruchen, über ein „richtigeres” Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Seele zu verfügen. Hier sind wir mit einer Komplexität konfrontiert, in der nicht nur die Perspektiven einzelner Schulen zwangsläufig zu kurz greifen, sondern es wird Wissen, Kompetenz und Erfahrung über die in diesem Bereich eher enge Perspektive der Psychotherapie hinaus verlangt. Zudem steht eines ganz im Vordergrund: Eine angemessene Versorgung kann es nur dadurch geben, dass die Psychotherapie auch mit allen anderen Beteiligten im Versorgungsnetz in den Dialog tritt.

Was ist das Besondere an dem Bereich der Arbeit mit chronisch Kranken? Es ist, wie bereits angedeutet, die Komplexität der Aufgabenstellung. Bei einer entsprechenden Anfrage sieht sich ein Psychotherapeut/eine Psychotherapeutin zwangsläufig in ein Geflecht unterschiedlicher, teils konkurrierender Auftragskonstellationen und Perspektiven gestellt. Ist es bei einer klassischen Anfrage nach Psychotherapie im Allgemeinen doch relativ oft möglich, zu einem Kontrakt zu gelangen, der sich ausschließlich auf die Kooperation zwischen TherapeutIn und PatientIn/KlientIn bezieht, ist dies bei chronischer Krankheit von Anfang an anders. Denn in jedem Fall ist damit zu rechnen, dass der/die Ratsuchende, der/die einem gegenüber sitzt, noch in andere Versorgungsbezüge eingebunden ist, und es ist von essenzieller Wichtigkeit, dass diese verschiedenen Bezüge zumindest nicht gegeneinander, besser noch explizit aufeinander zuarbeiten. Es ist also in ganz anderem Maße erforderlich, über Strategien zur Kooperationsgestaltung zwischen Disziplinen und Institutionen zu verfügen.

Dazu kommt noch, dass psychotherapeutische Schulen nicht unbedingt ein klares Modell dafür bieten, wie die Prozesse des Umgehens mit Krankheit zu beschreiben sind. Dass es um die Verarbeitung der Krankheit geht, mehr noch, gerade bei schweren Krankheiten auch um das Umgehen mit der Erfahrung, „aus der Welt gefallen” zu sein[1], ist mittlerweile unstrittig. Vorstellungen, die seelische Entwicklungsgeschichte einer Person oder die Dynamik einer Familie sei für die chronische Krankheit ursächlich verantwortlich, lassen sich nicht halten, ja eine Psychopathologisierung chronischer Krankheit ist aus heutiger Sicht unverantwortlich zu nennen. Doch durchdringen sich biologische, psychische und seelische Komponenten im zeitlichen Verlauf in einer solch enormen Komplexität, dass es keine der herkömmlichen Perspektiven schafft, diese Komplexität angemessen wiederzugeben. Daher haben wir uns ja auch entschieden, in der Rubrik „Standpunkte” mehrere Grundlagenartikel nebeneinander zu stellen, und nicht einen einzigen, ordnenden Überblick über den „Stand der Kunst” zu bieten, wie es PiD-LeserInnen mittlerweile gewohnt sind.

In unterschiedlich starker Akzentsetzung fokussieren die Grundlagentexte, aber auch die Praxisartikel, die Forschungsberichte und die Interviews dieses Heftes einen oder mehrere der folgenden sechs Bereiche von Wissen. Alle Beiträge können dabei nur ausschnittsweise gezielte Aspekte aus der Komplexität herausgreifen und prägnant machen:

Wissen über die somatischen Aspekte der jeweiligen chronischen Krankheit Es ist notwendig zu wissen, was die konkrete Krankheit ausmacht, was ihre spezifischen Anforderungen sind, die Bedingungen guten Krankheitsmanagements und guter Handhabung von Medikation. Wissen um individuelle Bewältigungsprozesse Hier ist das gesamte Spektrum der psychologischen Bewältigungsforschung nutzbar, es liegen fundiert untersuchte und ausgezeichnet nutzbare Konzepte vor. Neben den von Filipp und Ferring vorgestellten temporalen und sozialen Vergleichsprozessen als Möglichkeiten, sich an die durch die Krankheit veränderte Lebenssituation anzupassen, lässt sich die Vielfalt der in diesem Ansatz präsentierten Konzepte von Salutogenese über Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugung bis zu subjektiven Krankheitskonzepten und Krankheitstheorien kaum angemessen darstellen. Die Studie von Wälte und Kröger zeigt in diesem Zusammenhang exemplarisch die Bedeutung, die gemeinsamen Krankheitskonzepten als Grundlage einer eine Familie verbindenden gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion zukommt. Damit verbindet sie die individuellen Perspektiven der Familienmitglieder mit der des Systems. Wissen um soziale Prozesse, die sich um die Erkrankung herum entwickelt haben Entscheidend ist die Qualität der engeren sozialen Bezugssysteme, die um die Krankheit herum ein bedeutsames Interaktionsnetz gebildet haben. Hier finden sich in den Berichten der Praktiker viele sehr konkrete Beispiele, etwa bei Noeker, Theiling oder Stump. Zwei Texte verdienen an dieser Stelle eine besondere Erwähnung. Die Studie von Papst und Dinkel zeigt, in welchem Maße die Kinder chronisch kranker Eltern durch die Krankheit mitbetroffen sind - die ganze Familie muss als die „betroffene Einheit” angesehen werden. Zum anderen zeigt der Beitrag von Wendt, dass der Blick auch über die Familie hinaus gerichtet werden muss, beispielsweise auf den Kontext Arbeitswelt. Wissen um die Kommunikationsgestaltung der jeweiligen Arzt-Patient-Beziehung Günstig ist eine Haltung von geteilter Verantwortung - „shared responsibility”. Es könnte ein erstrebenswertes Ziel sein, diesen von Susan McDaniel geprägten Begriff als eine für alle Seiten attraktive Alternative zu dem eher belasteten Begriff „Compliance” einzuführen. Wissen über Kooperationsgestaltung und Kontrakte Ein wesentlicher Punkt ist der Einbezug der beteiligten Versorgungssysteme. Ohne deren Beachtung scheitert eine psychotherapeutische Behandlung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. Es geht um das Finden gemeinsamer Sprachen, um die Kommunikation der Behandler untereinander und die Kommunikationsstrukturen in den Versorgungssystemen. Dazu gehört eine bewusste Orientierung an Interdisziplinarität, die etwas völlig anderes ist als Delegation. Vielmehr geht es um „Multi-Systems-Work” (im Sinne Susan McDaniels), wie von Kröger und Hendrischke erwähnt. Ganz konkret geht Theiling auf die Situation eines Psychologen ein, der in „Personalunion” zwei unterschiedliche „Welten” psychosozialer Tätigkeit überbrückt: zwischen Klinik und Privatpraxis. Dass Kooperation nicht gleichbedeutend sein muss mit Mehrarbeit, wird in dem Text von Jürgen Hargens, Bengta Hansen-Magnusson und Ernst Hansen-Magnusson deutlich. Die ersten ermutigenden Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass sich hier ein Feld für eine hocheffektive Nutzung der Ressourcen (auch der finanziellen) unseres Gesundheitssystems bietet. Die Kenntnis sozialrechtlicher Rahmenbedingungen Diese gehört zu den für psychotherapeutische Tätigkeit in dem Feld unerlässlichen - wenn auch im Allgemeinen nicht selbstverständlichen - Wissensbereichen, über den man verfügen sollte. Daher haben wir den Text von Begher mit in dieses Heft aufgenommen.

Die Komplexität der Wissensbereiche ist für keinen Menschen ganz zu überschauen. Diese Aufzählung sollte weder Angst machen noch dazu dienen, sich resigniert zurückzuziehen, sondern sie sollte vor allem ermutigen, aktiv in Kooperationsbeziehungen einzutreten und vor der Übernahme eines Auftrags zu reflektieren, welche anderen Personen, welche anderen Perspektiven vielleicht sinnvoll nutzbar sein könnten, um einen möglichst guten Ansatzpunkt zu finden. Und in all der Komplexität sollte vor allem eines nicht vergessen werden, was in den Fallbeispielen und Interviews (insbesondere mit Hildegund Heinl und Susan McDaniel) deutlich wird: Die Arbeit mit Menschen mit chronischer Krankheit ist auch und besonders eine Arbeit an und mit den Geschichten chronischer Krankheit. Geschichten werden von Menschen erzählt und sie werden in ihren engen sozialen Bezügen erzählt. Und wenn es um Geschichten geht, dann geht es auch um das Erzählen und Zuhören. Die Möglichkeit, ihre „Geschichte” zu erzählen, also ihre Sicht der Dinge darzustellen, sollten sich die ExpertInnen auch gegenseitig einräumen. Unser Expertengespräch kann exemplarisch dafür stehen, dass die Bereitschaft, aufeinander zu hören, gegeben ist. Das interdisziplinäre Gespräch, das von einer Haltung freundlicher Neugier auf die Perspektive des anderen getragen ist, sollte aus unserer Sicht fester Bestandteil eines normalen Versorgungsalltags werden. Das bezieht eine kritische Reflexion der bisherigen psychotherapeutischen Ausbildungspraxis mit ein: PsychotherapeutInnen sind von ihrer Ausbildung her auf einen derartigen Dialog noch zu wenig vorbereitet. Die kritischen Aussagen von Fürstenau zur Ausbildungspraxis sollten in diesem Sinn nicht nur als Ermahnung gesehen werden. Es ist vor allem eine Aufforderung, uns auch in der Politik entschieden für positive Veränderungen der Strukturen in unserem Gesundheits- und Versorgungssystem (z. B. Richtlinien und Finanzierung von entsprechenden Leistungen) einzusetzen, die interdisziplinäres Zusammenarbeiten, wie es in diesem Heft skizziert ist, behindern oder gar verhindern.

Wenn wir mit diesem Heft eine „message” mit auf den Weg geben wollen, dann ist es diese: Wir möchten Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, aus welcher Berufsgruppe auch immer Sie stammen, Mut machen, in diesem Feld tätig zu werden. Wie eine Teilnehmerin des Expertengesprächs sagt: Es macht durchaus „Spaß”, mit diesen Menschen zu arbeiten, auch wenn (oder weil?) es in vieler Hinsicht neue Herausforderungen bedeutet. Es kann nötig werden, die bequemen vier Wände zu verlassen, um flexibler auf die Erfordernisse bestimmter Krankheiten eingehen zu können oder kooperationsorientierte Gespräche mit Hausarzt, Klinik, Sozialdienst und der Familie des Kranken zu initiieren - das würde bedeuten, dass wir der Psychotherapie „Beine machen” würden, sie beweglicher, mobiler machen als bisher. Es kann auch sein, dass die eigene Haltung zur Verletzlichkeit der menschlichen Existenz neu überdacht, dass die Kränkung, die das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit bedeutet, verarbeitet werden will. Der Abschied von der - wie es ein Kollege formulierte - „Ich - weiß - im - Prinzip - besser - wie - man - das - Problem - löst - Psychotherapie” und die mit der Arbeit mit chronisch Kranken zwangsläufig einhergehende Bescheidenheit über die eigenen Möglichkeiten und der Respekt vor der Bewältigungsleistung des Gegenübers können sich für die Entwicklung der Psychotherapeutenpersönlichkeit letztlich nur vorteilhaft auswirken.

Manche von Ihnen werden sich denken, dass die Zeiten, in denen die Stimmen lauter werden, die die Psychotherapie als Wahlleistung aus der gesetzlichen Krankenversorgung streichen wollen, eine solche Ausweitung auf eine bislang nicht im Fokus psychotherapeutischer Versorgung stehende Patientengruppe berufspolitisch nicht opportun ist. Mag sein. Die eklatante Unterversorgung dieser Gruppe, die Versorgungsnöte der Hausärzte und der Kollegen in den Krankenhäusern, die stillen Risse in Familien und die Odyssee dieser Patientinnen und Patienten durch den Dschungel der Sozialgesetzgebung sind für uns Gründe, diese Diskussion in diesem Heft zu führen und auch zukünftig, beispielsweise im Rahmen unseres Berliner Kongresses, weiter zu verfolgen. Wir hoffen, mit diesem Heft einige Initiativen in Bezug auf Veränderungen der eigenen psychotherapeutischen Arbeit, aber auch im Hinblick auf Rahmenbedingungen und Ausbildungsrealitäten geben zu können und - das ist uns am wichtigsten - dazu Mut zu machen.

1 wie es Filipp und Ferring für an Krebs Erkrankte formulieren

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