Balint Journal 2002; 3(1): 23-25
DOI: 10.1055/s-2002-23106
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eindrücke eines „Neuen” auf der 6. Balint-Tagung in Kloster Schöntal vom 6.7. bis 8.7.2001

Eckart Grau1
  • 1Diakoniekrankenhaus Elbingerode
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Publication Date:
25 March 2002 (online)

Als Assistent in der Weiterbildung zum Facharzt für psychotherapeutische Medizin nahm ich erstmalig an einem Balint-Wochenende, d. h. an einer Blocktagung für Balint-Arbeit, teil. Diese Art der Gruppenarbeit an sich war mir durch meine psychotherapeutische Tätigkeit in Kliniken durchaus bekannt, manche Formen bzw. manche Aufbaustruktur jedoch auch wieder nicht und so beobachtete ich die Abläufe mit großem Interesse. Ein wichtiger Aspekt war die Zusammensetzung der Teilnehmer, so fanden sich langjährig gruppendynamisch geschulte und auch Balint-Erfahrene Kollegen mit reichlich Insider-Vokabular und schnellgängigen Gedanken und Verknüpfungen hinsichtlich psychisch-hintergründige Abläufe neben organmedizinisch ausgelegten, meist jungen Kollegen, die hier ihre psychosomatische Grundausbildung absolvierten und die der Psychotherapie allgemein und damit auch der Balint-Arbeit durchaus kritisch im grundsätzlichen Sinne, wenn nicht sogar so skeptisch gegenüber standen, dass sie die Tagung als lästiges, notwendiges Übel der Ausbildungsordnung ansahen.

Es wurde aus den einzelnen Gruppensitzungen Unterschiedlichstes berichtet, die Beurteilungen differierten von sehr ergiebig bis wenig hilfreich. Auch die Dynamik einzelner Sitzungen war starken Schwankungen unterworfen. Neben ruhigen und sachlichen, um Konstruktivität bemühte Arbeitseinheiten gesellten sich Gruppensitzungen, in denen unsachlich und aggressiv geführte Diskussionen im Mittelpunkt standen, mit dem vorrangigen Zweck der Selbstdarstellung Einzelner.

Am Beispiel einer Großgruppensitzung mit Innenkreis (ca. 10 Personen) und Außenkreis (ca. 15 Personen) möchte ich ausführen, inwieweit Balint-Arbeit eindrucksvoll, einleuchtend, etwas von der Struktur der Patient-Therapeut-Beziehung aufgreifen und widerspiegeln kann, wie aber gleichzeitig auch rasch Grenzen erreicht werden und dann im Rahmen unintegrierbarer Weltanschauungen ein ideologischer Machtkampf entstehen kann, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für die Problemstellung und damit letztlich für den Patienten nichts mehr oder doch nur sehr wenig einbringt.

Zur Situation: Eine erfahrene psychotherapeutische Kollegin stellte einen Patienten vor, der wegen einer chronischen Niereninsuffizienz mit längerfristig infauster Prognose im Alter von knapp 40 Jahren zur „Sterbebegleitung” in ihrer Praxis um psychotherapeutischen Beistand bat. Eine Hämodialyse, insbesondere die hierfür notwendige Gefäßoperation zur Shuntanlage lehnte er kategorisch ab, lieber wolle er sterben. Die notwendige Entgiftung durch Peritonealdialyse nahm er seit geraumer Zeit in Anspruch, konnte sich hiermit auch gut organisieren. Lediglich zeitlich traten im Zusammenhang mit seiner Arbeit Schwierigkeiten auf. Der Patient hatte offensichtlich eine Entscheidung in extremer Variante getroffen. „Wenn er keine Spenderniere zur Transplantation erhalten sollte und die Peritonealdialyse zur Kompensation der insuffizienten Nierenleistung nicht mehr ausreichen würde, dann plane er ohne größere Gegenwehr seinen Tod in Kauf zu nehmen und das, obwohl er bei insgesamt guter Konstitution und Kräftesituation, sowie keinesfalls abgeschlossener Lebensplanung mit einer Hämodialyse ein vielversprechendes Outcome zu erwarten hätte.” An dieser Stelle wurde deutlich, dass der Patient der zur „Sterbehilfe” in die psychotherapeutische Behandlung drängte über klare und kraftvolle Willensentscheide verfügte, dabei eher vital als hinfällig in Erscheinung trat und somit keinesfalls eindeutig mit seinem Anliegen imponierte. Neben dieser Doppelbotschaft trat er an die Therapeutin mit einem für sie ungewöhnlichen, fast schockierenden Wunsch heran, nämlich dem, dass diese die psychotherapeutischen Stunden, wenn es ihr möglich wäre, als Hausbesuche bei ihm durchführen sollte, damit er parallel hierzu seine zeitraubende Peritonealdialyse durchführen könne. An dieser Stelle war die Therapeutin dergestalt überfordert, dass sie einerseits beeindruckt war, dass jemand ein so ungewöhnliches Anliegen überhaupt an sie heran trägt, andererseits war sie empört darüber, dass der Patient es wagen konnte, ihr diesen Wunsch überhaupt auch nur gedanklich zuzumuten. Auf alle Fälle verlor sie im Zusammenhang mit dieser Anfrage des Patienten ihre Souveränität, konnte nicht einordnen, ob Naivität oder erotisches Beziehungsangebot die Ursache sein könnte und war kraft ihrer eigenen emotionalen Konfusion nicht mehr in der Lage, den Patienten ausreichend distanziert in seinen Handlungs- und Abwehrmöglichkeiten zu sehen bzw. ihm seine Verhaltensweisen ausreichend neutral objektiv zu spiegeln. Die Balint-Gruppe griff diese innere Spaltung der Therapeutin prompt und klar auf. So war in der ersten Diskussionsrunde im Innenkreis ebenfalls eine Spaltung abgebildet, die psychodynamisch-versierten Kollegen favorisierten einen unbewussten Beziehungswunsch des Patienten zur Therapeutin, u. a. begründet dadurch, dass dieser noch nie längere und stabile Partnerschaften gelebt hatte, lediglich mehrere kurzfristige, eher sexuell betonte Freundschaften gepflegt hatte, dies vorrangig mit verheirateten Frauen, bei denen die Unverbindlichkeit durch bereits vorherrschende verbindliche Partnerschaft gewährleistet war. Die Deutung war also die, dass der Patient sich unter dem Vorwand der emotionalen Betreuung im vermutlich bevorstehenden Sterbeprozess eine professionelle Zugewandheit organisieren wollte, die Unverbindlichkeit wäre hier durch Tod oder Gesundung mit jeweiligem Ende der therapeutischen Beziehung gewährleistet, und hierbei eine Versuchungssituation in seiner häuslichen Umgebung inszenierte, der die Therapeutin, falls sie sich erst einmal darauf eingelassen hätte, nicht mehr ausweichen könnte und in der er auf Mitleid bis hin zur besonderen Sympathie hoffen konnte, da er in der jeweiligen psychotherapeutischen Sitzung offensichtlich schwach und bedürftig sein würde.

Die andere Version, die Patient-Therapeutin-Beziehung zu verstehen und zu deuten zu versuchen, wurde von den organmedizinisch ausgerichteten Kollegen (mehrere Urologen) favorisiert. Hierbei stand die Frage im Vordergrund, ob denn das Ansinnen des Patienten eine Kombination aus Psychotherapie und Heimdialyse zu schaffen, tatsächlich so absurd zu sehen sei, ob hier nicht viel mehr praktischer Menschenverstand wirke und er positiv bewertet werden müsste, da der Patient schließlich gut für sich sorge. Es kam die Frage auf, inwieweit Psychotherapeuten denn Hausbesuche üblicherweise tätigen oder auch nicht. Die Selbstverständlichkeit, in der solche verneint wurden, wurde von den Fragenden mit dem Hinweis, dass viele Ärzte Hausbesuche machen, stark relativiert.

Es wurde deutlich, dass je nach primärer Ausgangssichtweise (psychodynamisch oder organmedizinisch betont) der Patient einmal ein „unbewusster triebhafter Verführer” war, zum anderen ein „praktisch denkender, ernst zu nehmender Mensch”, der seine Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln sucht. Die inneren Positionen der Therapeutin waren hierdurch gut abgebildet, es wurde verstehbar, dass diese, obwohl langjährig erfahren, hier in einen inneren Konflikt geraten war, den sie selbst, d. h. ohne die supervidierende Komponente der Balint-Gruppe, nicht hätte aufschlüsseln können.

An dieser Stelle wurde der Außenkreis befragt, der per definitionem, das weitere Umfeld, gleichsam die „Volksmeinung” repräsentiert. Hier fanden sich klar zugeordnete Meinungen neben ausgesprochener Unsicherheit. Die organmedizinischen Kollegen im Außenkreis schlossen sich ohne zu zögern ihrer Fraktion im Innenkreis an, der Großteil der Außenkreispersonen war ambivalent, also im Zustand der inneren Spaltung wie die Therapeutin selbst. Eine einzelne, sehr dogmatisch vorgetragene Haltung griff die Deutung des unbewussten Beziehungsangebotes auf und verschärfte sie zusätzlich. Hier wurde die Penetration des Abdomens durch den Peritonealkatheter sexualisiert, d. h. gleichgestellt mit einer symbolischen Kopulation, wodurch eindeutig auch über Nacktheit und Hilflosigkeit der Verführungsimpuls des Patienten gegenüber seiner Therapeutin dargestellt werden sollte. Parallel hierzu deutete der Kollege im Außenkreis die Sichtweise der organmedizinischen Kollegen im Innenkreis als rationalisierende Abwehr eigener erotischer, eventuell extravagant-perverser Impulse. Bei diesem Versuch des Kollegen im Außenkreis eine souverän deutende Position über das gesamte Geschehen einzunehmen, entstand eine spannende Konfliktsituation, in der sich auch das Strukturgebäude Innenkreis/Außenkreis kurzzeitig auflöst, d. h. über die Ringstruktur hinaus eine Diskussion entstand.

Es zeigte sich also, dass der innere Konflikt der Therapeutin offensichtlich stärkste, strukturbedrohliche Potenz in sich barg, was erneut untermalte, dass die Überforderung der Therapeutin trotz langjähriger Erfahrung nicht auf Inkompetenz oder blinde Flecken per se zurückzuführen war, sondern tatsächlich auf eine außergewöhnlich tief greifende Bedürfniskonfusion seitens des Patienten. Hier erhellte sich für die Therapeutin in ausreichendem Maße die eigene Position, sie konnte mit gutem Profit aus ihrer Falldarstellung hervorgehen und deutete an, dass sie sich in der Beziehung zu ihrem Patienten mit großer Sicherheit klären können wird.

Der Nebeneffekt der einerseits hitzigen Diskussion, andererseits strukturellen Auflösung des Doppelkreisgefüges war ebenfalls interessant und bedenkenswert. So trafen doch anhand der Spaltungssituation zwei Grundvorstellungen von Medizin und menschlichem Miteinander aufeinander, die in ihrem Ausmaße nur als ideologisch und weltanschaulich zu sehen sind und aus diesem Grunde auch unvereinbart blieben. Es kam zu keiner Klärung der Positionen, da vermutlich beide Parteien kein Interesse daran hatten, den anderen zu verstehen bzw. sich dem anderen verständlich zu machen. Zurück blieb die leicht überheblich anmutende Denkweise des psychotherapeutischen Kollegen und die ablehnende, die Balint-Arbeit an sich hinterfragende Sichtweise der Organmediziner. Ein Resultat, welches aus der Sicht der psychodynamischen Deutung hochinteressant als Abbildung der therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Therapeutin zu sehen ist, rein menschlich allerdings auch als bedauerlich gewertet werden muss, da hierdurch die psychosomatische Grundausbildung der jungen urologischen Kollegen wohl eher als Pflichtveranstaltung erlebt wird und nicht als eine methodische Bereicherung, die gegebenenfalls eines Tages einem Patienten nutzvolle Anwendung erbringen könnte.

Wem Balint-Arbeit ergiebig sein kann, dem war diese Tagung ergiebig. Wem der Austausch mit Andersdenkenden eine Bereicherung sein kann, dem war diese Tagung eine Bereicherung. Wem nicht, dem nicht.

In Anbetracht des hier beschriebenen Ablaufes und den entstandenen Dissonanzen und Diskrepanzen stellt sich nun zwangsweise die Frage, inwieweit die Balint-Arbeit als Pflichtbestandteil der Weiterbildung im Sinne der psychosomatischen Grundausbildung sinnvoll ist oder eher die Fronten von bestehenden Vorurteilen verhärtet. Nach meiner Meinung sollte das Balint-Arbeitsangebot unbedingt erhalten bleiben, da hier im Zusammentreffen mit Kollegen unterschiedlicher Ausrichtung sowohl in der Gruppenarbeit, aber auch in den Gesprächen am Mittagstisch und in der Kaffeerunde die Möglichkeit gegeben ist, etwas voneinander zu erfahren.

D. h., da bei der Balint-Arbeit die Beziehung zwischen Patient und Arzt im Mittelpunkt steht, fließen automatisch auch Befindlichkeit, strukturelle Nöte einer Fachkollegenschaft sowie die grundsätzliche Möglichkeit, eigene Persönlichkeitselemente zu reflektieren, ein. Die Bereitschaft zum konstruktiven Austausch, dies sehen wir am oben geschilderten Beispiel, hängt selbstverständlich immer stark von der jeweiligen Zusammensetzung einer Gruppe, eines Kurses ab. Grundsätzlich aber gilt, dass jeder Kollege, der ernsthaft an einer Korrektur seiner Persönlichkeit, seiner Arbeit und wie seitens der Balint-Arbeit im Eigentlichen formuliert, an seiner Arzt-Patienten-Beziehung hat, für sich fündig werden kann. Damit ist die Frage der Sinnhaftigkeit der Balint-Arbeit in der Grundausbildung bereits hinreichend beantwortet. Im Praktischen bedeutet dies aber seitens der organmedizinisch ausgerichteten Kollegen mit eventuell großer Skepsis bezüglich aller Deutung und Auslegung von Interaktionen, dass sie es grundsätzlich für möglich halten, dass auch in einem Ablauf der scheinbar recht organmedizinisch definiert ist, alle Mechanismen der zwischenmenschlichen Beziehungsabläufe auftauchen, und dass diese grundsätzlich im Austausch und der differenzierten Beleuchtung eine Veränderung und damit ein Korrekturangebot beinhalten. Seitens der psychotherapeutischen Kollegen würde ein offenes Verhalten, welches dem Kollegen, der in Beurteilung und Abläufen von psychodynamischen Prozessen ungeübt ist, ein Grundrecht menschlicher Kompetenz einräumt, wünschenswert sein. Fatal ist es aber, wie unser Beispiel zeigt, wenn in selbstherrlicher Weise die psychotherapeutische Fraktion ihre somatisch ausgerichteten Kollegen beurteilt, d. h. ihnen gleichsam den Status von Patienten, inkompetenten oder bestenfalls ungebildeten Schülern zuordnet und sich selbst als die so genannte „weiße Spiegelfläche” definiert, sich als objektiv empfindet und Störungen in der Kommunikation und Interaktion geradezu selbstverständlich dem Gegenüber zuordnet.

Sicherlich ein Grundproblem, welches sich auch in unseren Therapien mit den Patienten wiederfindet und für welches gerade Michael Balint eine hohe Sensibilität entwickelt hatte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, das die Balint-Arbeit eine gute und potenziell sehr hilfreiche Möglichkeit darstellt, in psychodynamischen Zusammenhängen Sicherheit und Klarheit zu bekommen, und dass sie als Pflichtbestand in der Weiterbildung jeder Fachrichtung, die direkten Patientenkontakt beinhaltet, großen Sinn macht. Inwieweit in praxi dann aber ein echter Nutzen entsteht, hängt vor allem von der persönlichen Korrekturbereitschaft eines jeden einzelnen Gruppenteilnehmers ab. Diese Erkenntnis ist ebenso alt, wie sie regelmäßig missachtet wird. Nicht die Frage, ob Balint-Arbeit gut oder schlecht, sinnhaft oder sinnlos ist, muss gestellt werden, sondern vielmehr, ob der Einzelne bereit ist, aus einem durchaus gut angelegten Angebot etwas Sinn- und Nutzvolles zu machen.

Eckart Grau

Assistenzarzt in Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapeutische Medizin


Diakoniekrankenhaus Elbingerode

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