Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37(2): 65
DOI: 10.1055/s-2002-20389
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Anästhesist und Phylogenese -
was lehrt uns die Biologie?

Anesthesiologist and Phylogenesis - What are the Conclusions Based on Biology?H.  A.  Adams1 , G.  Gros2
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule Hannover
  • 2Zentrum Physiologie, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
26 February 2002 (online)

Es ist nicht ohne weiteres einsehbar, warum ein Anästhesist sich mit einem Spezialfach der Biologie, hier der Phylogenese oder Entwicklungsgeschichte, beschäftigen sollte. Und doch enthält dieses Heft der „ains” in der neuen Rubrik „Aktuelle Medizin und Forschung” einen Beitrag (R. Lindner: „Phylogenese des Immunsystems”), der sich mit der Entwicklungsgeschichte anästhesierelevanter Organsysteme befasst. Dieses Thema soll in loser Folge mit der Darstellung anderer Organsysteme weiter vertieft werden. Dabei kann es kaum um unmittelbare klinische Nutzanwendungen gehen - wenn aber die Anästhesiologie als angewandte Physiologie, Pathophysiologie und Pharmakologie verstanden wird, lohnt sich diese Weitung des Horizonts durchaus. Es geht um eine vertiefte medizinische Allgemeinbildung im besten Sinne, um die Freude und die Teilhabe am Wissen anderer Disziplinen, was zum einen nicht schaden kann, und zum anderen sehr wohl auch fachliche Perspektiven eröffnet.
Als Beispiel sei ein Oligopeptid genannt, das aus lediglich neun Aminosäuren besteht und nach seiner Synthese im Hypothalamus in der Neurohypophyse freigesetzt wird. Dieses als Antidiuretisches Hormon (ADH) bezeichnete Hormon ist schon bei den frühesten Trägern eines Nervensystems, den Nesseltieren, nachweisbar, die jedoch nicht über eine Niere verfügen. Es steht beispielhaft für gemeinsame Urformen bestimmter Neuropeptide, die sich entwicklungsgeschichtlich etwa 450 Millionen Jahre zurückverfolgen lassen. Während dem ADH beim Menschen gemeinhin die Rückresorption von freiem Wasser im distalen Nephron und damit die Konstanthaltung des osmotischen Drucks der Körperflüssigkeiten zugeordnet wird, und dem Anästhesisten iatrogene Mangelzustände mit Diabetes insipidus bei und nach neurochirurgischen Eingriffen durchaus geläufig sind, sind darüber hinaus gehende Effekte weniger bekannt. So zielt die Freisetzung von ADH im Stresszustand auf die rasche Konservierung der Wasserbestände des Organismus, und höhere Konzentrationen führen zur Vasokonstriktion, die der Substanz den Zweitnamen Vasopressin eingetragen hat. Bei beeinträchtigter sympathoadrenerger Reaktionsfähigkeit, etwa bei einer Spinalanästhesie, kann ADH damit als Reservesystem zur Blutdruckstabilisierung dienen. Damit nicht genug - Analoga des Vasopressin setzen den Gerinnungsfaktor VIII sowie von-Willebrand-Faktor frei und tragen wesentlich zur Thrombozytenaggregation bei. Bei bestimmten Thrombozytopathien stehen sie in täglicher Anwendung. Als weiteres Beispiel kann das Adrenocorticotrope Hormon (ACTH) der Adenohypophyse dienen, das in der Nebennierenrinde die Synthese und Freisetzung von Cortisol stimuliert. Die ACTH-Vorstufe Prooopiomelanocortin (POMC) enthält neben der Aminosäurensequenz des ACTH auch die von β-Endorphin und von Melanozyten-stimulierendem Hormon (MSH), so dass hier eine Verbindung zur zentralen Schmerzverarbeitung anzunehmen ist.
Diese beiden Beispiele sollen genügen, um das Interesse an der Biologie und damit an der Grundlagenwissenschaft vom Leben zu wecken, die sehr wohl zu einem vertieften Verständnis unserer täglichen Arbeit beitragen kann. Die Schriftleitung ist für weitere Anregungen zu diesem Thema dankbar.

H. A. Adams, G. Gros, Hannover

Prof. Dr. med. H. A. Adams

Zentrum Anästhesiologie

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: adams.ha@mh-hannover.de