Aktuelle Traumatol 2002; 32(1): 27-28
DOI: 10.1055/s-2002-19914
Rechts- und Begutachtungsfragen
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Spondylodesen nach sog. Schleudertrauma der HWS

Gutachtliche AspekteSpondylosyndesis after So-called Whiplash Trauma of the Cervical SpineE.  Ludolph1
  • 1Institut für Ärztliche Begutachtung, Düsseldorf
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Publication Date:
31 January 2002 (online)

Das sog. Schleudertrauma der Halswirbelsäule ist - abgesehen von reiner Simulation - ein Beschwerde- bzw. Schadensbild, dessen Bogen sich von einer rein psychischen Reaktion auf ein Unfallereignis bis hin zu schwersten strukturellen Verletzungen spannt. Der Dauerbrenner der letzten Jahre ist die Diskussion um das subjektive Beschwerdebild ohne objektivierbares morphologisches Substrat.

Zwei Extrempositionen begrenzen ein weites Feld diagnostischer und therapeutischer Ansätze. Beide Extrempositionen argumentieren streng medizinisch-naturwissenschaftlich, kommen dabei aber zu völlig konträren Ergebnissen.

Der unfallanalytische, also kfz-technische Ansatz verneint bei Unfällen mit niedrigen Geschwindigkeiten bereits das Verletzungsrisiko als Minimalanforderung an die Sicherung einer stattgehabten Körperverletzung [2] [3]. Der andere, vermeintlich „Opfer”-orientierte Ansatz, schafft sich bei gleicher Ausgangslage ein schweres morphologisches Substrat mit der Indikation zur Fusion der Kopfgelenke [5] [6]. Dies ist ein spezifisch deutsches Therapiemodell, während in der Schweiz bei vergleichbarer Ausgangslage Wirbelsegmente im Bereich der mittleren und unteren Halswirbelsäule fusioniert wurden [4]. Auf internationaler Ebene hat dieses Vorgehen deutliche Ablehnung erfahren.

Der unfallanalytische Ansatz stellt die operativen Aktivitäten deutlich infrage und geht - überraschenderweise - von einer psychogenen Überlagerung aus. Die Fantasie der Unfallanalytiker wurde durch eine kanadische Studie im Jahre 1998 angeregt, bei der 29 % der Testpersonen nach Fahrzeugbeschleunigungen von 4 km/h, also nach einer banalen alltäglichen Einwirkung, wie sie z. B. mit dem Anschieben eines Rollstuhls oder Kinderwagens verbunden ist, über sog. Zervikalsymptome klagten [1]. Dies führte zu der Fragestellung, wie sich die Testpersonen verhalten würden, wenn ein Unfall nur simuliert würde. Eine Arbeitsgruppe [2] [3] aus Technikern (Unfallanalytikern), Rechtsmedizinern, Psychologen und Traumatologen erarbeitete 1998 folgende Versuchsreihe: Durchgeführt wurde eine testpsychologische Untersuchung, aufgrund derer eine Voraussage getroffen wurde, welche Versuchspersonen anfällig für ein sog. Zervikalsyndrom waren. Nachfolgend wurde eine Heckkollision akustisch, kinetisch und optisch vorgetäuscht, wobei der Pkw, in dem sich die Testperson befand, auf einer kleinen Rampe minimal nach vorn rollte. 10 von 51 Testpersonen klagten innerhalb der ersten 3 Tage nach diesem Test über sog. schleudertrauma-typische Beschwerden. Eine Testperson musste sich erbrechen. Die Trefferquote der testpsychologischen Voraussage, welche Probanden zu einem vermeintlichen „Schleudertrauma-Opfer” werden würden, lag bei 94 %.

Bei dem Ergebnis dieser Versuchsreihen muss man sich vor Augen halten, dass es sich um Freiwillige gehandelt hat, bei denen Beschwerdeangaben finanziell nicht belohnt wurden. Verbindet man derartige psychoreaktive Beschwerdebilder mit einer finanziellen Entschädigung, wie diese im Straßenverkehr bei Heckkollisionen die Regel ist, dann ist leicht nachvollziehbar, dass aus dieser Gruppe ein harter Kern nicht zur Beschwerdefreiheit zurückkehrt, sondern das Beschwerdebild ausweitet.

Dies ist die Zielgruppe des genau diametralen Ansatzes einer Gruppe von Neuroradiologen, Neurootologen, Manualmedizinern und Neurochirurgen [5] [6]. Die Ursache von nach einem Unfall extensiv geklagter rein subjektiver (nicht objektivierbarer) Befindensstörungen wird in die Kopfgelenke verlagert und vermeintlich bildtechnisch zur Darstellung kommenden Verletzungen der Flügelbänder zugeordnet. Aufgrund kernspintomographischer Untersuchungen werden Verletzungszeichen im Bereich der Flügelbänder diagnostiziert, die in den Fällen, über deren Nachbefundung Informationen vorliegen, nicht gesichert werden konnten. Diese völlig ungesicherte Hypothese - die Aussagekraft moderner bildtechnischer Verfahren wird deutlich überstrapaziert, unfall-/biomechanisch sind die vermeintlichen Verletzungsbilder nicht zu erklären - wird ohne weitere diagnostische Absicherung (Einholung einer zweiten Meinung zur Interpretation der kernspintomographischen Aufnahmen, Abklärung des Verletzungsrisikos, Überprüfung der Verletzungskonformität des Verlaufs, psychologische Testung) zur Grundlage einer operativen Versteifung von Wirbelsäulensegmenten gemacht. Aus im Jahre 1999 veröffentlichten Zahlen ergibt sich, dass der zur Zeit in dieser Gruppe führende Neuroradiologe bei jeder 6. kernspintomographischen Untersuchung der Halswirbelsäule eine Verletzung der Flügelbänder diagnostizierte und mehr als die Hälfte der mit dieser Diagnose Beschwerten tatsächlich eine operative Fusion der Kopfgelenke durchführen ließ.

Ein ähnliches Argumentationsmuster, das aber von vornherein auf vermeintlich objektive Veränderungen verzichtet, ist das Schweizer Modell [4], das die Indikation zur Spondylodese rein an subjektiven Beschwerdeangaben ausrichtet. Die Halswirbelsäule wird versuchsweise äußerlich ruhig gestellt. Je nach subjektiver Schilderung des Verlaufs der Befindensstörungen werden einzelne Segmente versteift.

Der Behandlungserfolg einer invasiven Therapie hängt maßgeblich von deren strenger Indikation ab. Dies gilt insbesondere für in das strukturelle Gleichgewicht eingreifende Maßnahmen, wie es die Versteifung von Segmenten im Bereich der Halswirbelsäule ist. Zur strengen Indikation gehört insbesondere der kritische Umgang mit den modernen bildtechnischen Verfahren und mit begehrensneurotisch gefärbten subjektiven Klagen. Die Indikation zur Spondylodese im Bereich der Halswirbelsäule setzt - selbstverständlich - eine nachgewiesene Instabilität voraus. Dagegen wird eindrucksvoll verstoßen. Der Erfolg ist, dass das zuvor rein subjektive Beschwerdebild durch strukturell induzierte Beschwerden ausgetauscht wird. Zwar wird von den Betroffenen postoperativ eine Beschwerdebesserung angegeben, wie dies nicht selten der Fall ist, wenn ein psychogenbedingtes Beschwerdebild eine strukturelle Rechtfertigung findet. In aller Regel werden aber die präoperativ geklagten Befindensstörungen postoperativ durch Beschwerden abgelöst, die nunmehr - infolge der durch die Operation bedingten strukturellen Veränderungen - ein morphologisches Substrat haben.

Das operativ versteifte Halswirbelsäulensegment ist zwar ein eindrucksvoller objektiver Befund, der bei Medizinern und Nichtmedizinern zunächst einen erheblichen Glaubensvorsprung für dessen strukturelle unfallbedingte Verursachung erweckt. Der unfallbedingte Erstkörperschaden bleibt aber offen.

Spondylodesen nach sog. Schleudertraumen der HWS sind nur dann als unfallbedingt zu diskutieren, wenn folgende Voraussetzung erfüllt ist:

Der objektive verletzungsspezifische Erstkörperschaden ist gesichert.

Ist dies nicht der Fall, ist ein derart invasiver Eingriff nicht zu vertreten, insbesondere dann nicht, wenn auch nachfolgende Minimalanforderungen nicht erfüllt sind:

Der Verlauf ist verletzungskonform. Unfallanalytisch lässt sich ein Verletzungsrisiko begründen.

Literatur

  • 1 Brault J R. Clinical response of human subjects to rear-end automobil collisions.  Arch Phys Med Rehabil. 1998;  79 72-80
  • 2 Castro W HM, Meyer S, Becke M, Nentwig C G. No stress - no wiplash? Vortrag während der Jahrestagung Spine Society of Europe, 11. 9. 1999, München. 
  • 3 Castro W HM, Wessels U. Ein Dauerbrenner das „HWS-Schleudertrauma” - Haftungsfragen im Zusammenhang mit psychisch vermittelten Gesundheitsbeeinträchtigungen.  VersR. 2000;  7 284-289
  • 4 Grob D, Panjabi M, Dvorak J, Humke T, Lydon C, Vasavada A, Crisco J. Die instabile Wirbelsäule - eine „In-vitro-” und „In-vivo-Studie” zum besseren Verständnis der klinischen Instabilität.  Orthopäde. 1994;  23 291-298
  • 5 Volle E, Kreisler P, Wolff H D, Hülse M, Neuhuber W L. Funktionelle Darstellung der Ligamenta alaria in der Kernspintomographie.  Manuelle Medizin. 1996;  34 9-13
  • 6 Volle E. Vortrag auf dem Weltkongress in Vancouver: „Wiplash-associated-disorders, WAD” vom 7. - 11. 2. 1999. 

Dr. med. E. Ludolph

Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie, Sportmedizin, Sozialmedizin, Chirotherapie ·Institut für Ärztliche Begutachtung

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