Psychother Psychosom Med Psychol 2002; 52(1): 3-4
DOI: 10.1055/s-2002-19666
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ist die Psychotherapie in der Psychiatrie gefährdet?

May we Consider Psychotherapy to be Endargered within the Context of Psychiatry?Fritz  Hohagen1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Lübeck
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Publication Date:
22 January 2002 (online)

Die Einführung des Facharztes „Psychiatrie und Psychotherapie” auf dem Ärztetag 1992 stellt einen Meilenstein in der Entwicklung des Faches dar. Nachdem über viele Jahre neurobiologische und sozialpsychiatrische Gesichtspunkte die Psychiatrie prägten und Psychotherapie in vielen Bereichen vernachlässigt worden war, kam es in den 80er Jahren zu einem erneuten Interesse an der Psychotherapie und damit verbunden zu einem Kompetenzzuwachs auf diesem Gebiet, der sich letztendlich in der neuen Facharztbezeichnung dokumentierte. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen stellt Psychotherapie bei einer Vielzahl von Erkrankungen, die von Psychiatern behandelt werden, wie Angststörungen, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und anderen die effektivste Behandlungsmethode dar, so dass eine fundierte Weiterbildung in Psychotherapie unerlässlich ist, um das gesamte Spektrum von psychischen Erkrankungen, die im Fach betreut werden, qualifiziert zu behandeln. Auch bei psychischen Störungen, bei denen medikamentöse Behandlungsansätze eine zentrale Rolle spielen, wie beispielsweise bei den schizophrenen Störungen und schweren depressiven Störungen, wurde die klinische Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren empirisch abgesichert. Aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen war die Dichotomisierung zwischen „Psychologie” und „Neurobiologie” aufgehoben worden, nachdem zum einen eine enge Interaktion zwischen psychischen und neurobiologischen Prozessen gezeigt werden konnte, zum anderen der Nachweis erbracht wurde, dass auch „neurotische” Erkrankungen medikamentös und „endogene” Erkrankungen psychotherapeutisch erfolgreich behandelt werden können. Für eine Reihe von psychischen Erkrankungen hat sich außerdem die Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Behandlung als klinisch wirkungsvollster Ansatz belegen lassen.

Bereits zu Beginn der 90er Jahre verfügten die meisten Psychiater im ambulanten und stationären Bereich über eine psychotherapeutische Zusatzqualifikation in Form des Zusatztitels oder einer zusätzlichen psychoanalytischen Ausbildung. Fast zehn Jahre nach der Einführung des neuen Facharztes kann man sagen, dass es zu einer vollständigen Integration der Psychotherapie in die Psychiatrie gekommen ist. Eine Umfrage, die wir im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) an allen weiterbildungsberechtigten Kliniken für „Psychiatrie und Psychotherapie” in Deutschland durchgeführt haben, zeigte, wie sich die Weiterbildungssituation in den letzten Jahren dramatisch verändert hat. Fast alle Weiterbildungskliniken für „Psychiatrie und Psychotherapie” haben zwischenzeitlich - meist im Weiterbildungsverbund mit anderen Kliniken - eine strukturierte Psychotherapieausbildung eingeführt (Dinsel u. Hohagen, im Druck). Die Weiterbildung findet nicht mehr wie früher vorrangig an Psychotherapieinstituten, sondern meist im Weiterbildungsverbund mit anderen Kliniken statt. Die Assistenten werden in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und kognitiver und Verhaltenstherapie ausgebildet. Die neue Weiterbildungsordnung wurde unter zum Teil erheblichen Belastungen für die Weiterbildungskliniken mit großem Engagement umgesetzt. Die Umfrage zur Weiterbildungssituation zeigte weiter, dass an den meisten Kliniken für „Psychiatrie und Psychotherapie” zwischenzeitlich störungsorientierte, spezialisierte Behandlungskonzepte mit starkem psychotherapeutischen Schwerpunkt angeboten werden. Ohne Zweifel trägt hier die neue Weiterbildungsordnung erheblich zu einer differenzierteren Behandlung psychisch Kranker bei. Auch die Psychotherapieforschung ist in der Psychiatrie ins Zentrum gerückt, wie eine Vielzahl von Projekten zeigt, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefördert werden. Die Psychotherapiekongresse der DGPPN in Heidelberg, Freiburg, Tübingen und Lübeck fanden großes Interesse und zeigten eine beeindruckende Vielfalt und Qualität der Projekte im Bereich der Psychotherapieforschung. Die fruchtbare wissenschaftliche Diskussion auf diesen Kongressen mit Psychotherapieforschern aus Psychosomatik und Psychotherapie sowie Psychologie zeigte im Übrigen, dass das gemeinsame wissenschaftliche Interesse Verbindungen zwischen den Berufsgruppen schafft - ungeachtet der berufspolitischen Differenzen. Integration der Psychotherapie in die Psychiatrie im Bereich Weiterbildung, Klinik und Forschung haben das Fach deutlich geprägt und sicher auch verändert. Ist damit alles in Ordnung? Leider nein. Im Gegenteil gefährden berufspolitische Prozesse die Psychotherapie in der Psychiatrie.

Im ambulanten Bereich wird durch den § 85 Absatz 4 SGB 5 (die so genannte 90 %-Regelung) eine psychotherapeutische Versorgung im ambulanten psychiatrischen Setting nahezu unmöglich gemacht. Gerade für die psychotherapeutische Behandlung schwer kranker Patienten, die erfahrungsgemäß in psychiatrischen Praxen behandelt werden, bedeutet das Sozialgerichtsurteil eine Katastrophe. Wenn psychotherapeutische Leistungen in Praxen, die weniger als 90 % Richtlinienpsychotherapien durchführen, nicht mehr adäquat honoriert wird, werden viele Patienten keinen Zugang zu Psychotherapie mehr haben. Dies gilt im Übrigen auch für viele Praxen für psychotherapeutische Medizin. Umgekehrt finden in vielen Regionen Patienten, die schwerpunktmäßig sozialtherapeutisch und pharmakotherapeutisch behandelt werden müssen, kaum noch Praxen, die diese Behandlung anbieten können, da die psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxen aufgrund der „90 %-Regelung” schwerpunktmäßig nur noch Psychotherapie anbieten müssen. Dass dies zu einer Mangelversorgung gerade chronisch schwer kranker Patienten führt, kann man sich leicht vorstellen. Im stationären Bereich kommt die Psychotherapie in der Psychiatrie ebenfalls unter Druck. Immer kürzere Verweildauern, die per „Benchmarking” den Kliniken aufgezwungen werden, gefährden psychotherapeutische Behandlung im stationären psychiatrischen Setting. Es dürfte Konsens darüber bestehen, dass abgesehen von Kriseninterventionen stationäre Psychotherapie mehr Zeit in Anspruch nimmt, als 19 - 20 Tage, wie sie als mittlere Verweildauer in einigen Bundesländern vorgegeben werden. Die Bettenreduktion im Bereich Psychiatrie auf Messziffern von unter 0,5 Betten pro 1000 Einwohner trägt weiter dazu bei, dass in psychiatrischen Kliniken vorrangig „sozial auffällige” Patienten - meist Patienten mit Psychosen und Abhängigkeitserkrankungen - behandelt werden und kein adäquates gemeindenahes stationäres Versorgungsangebot für Patienten mit neurotischen und Persönlichkeitsstörungen vorgehalten werden kann. Während es zu Zeiten der Psychiatrieenquete wichtig war, Patienten aus den Kliniken in die Gemeinde zu integrieren, muss heute die Forderung erhoben werden, dass psychisch kranke Patienten ein Anrecht auf gemeindenahe psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung haben. Eine weitere Kürzung psychiatrisch-psychotherapeutischer Betten berücksichtigt nicht, dass neben Patienten mit psychotischen Störungen und Abhängigkeitserkrankungen das gesamte Spektrum psychischer Störungen in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken gemeindenah versorgt werden muss. Wenn gleichzeitig - wie in verschiedenen Bundesländern geschehen - psychosomatische Großkliniken zusätzlich zu den Rehabetten in großem Umfange Akutbetten zugeteilt bekommen, anstatt psychosomatisch-psychotherapeutische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern zu etablieren, werden Patientenströme an psychosomatische Großkliniken „auf die grüne Wiese” umgelenkt, wo gemeindefern Psychotherapie neurotischer Störungen betrieben wird - ohne die Möglichkeit, das psychosoziale Umfeld des Patienten mit einzubeziehen. Im Bereich der „Psychiatrie und Psychotherapie” werden die Großkliniken in Abteilungen umgewandelt, im Bereich „Psychosomatik und Psychotherapie” geschieht das Gegenteil! Dass hier einer Zweiklassenversorgung psychisch kranker Menschen Vorschub geleistet wird, liegt auf der Hand. Im ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting wird Psychotherapie nach der 90 %-Regelung nicht mehr adäquat vergütet und damit aus den Versorgungsleistungen für schwerkranke Menschen gestrichen, während leichter Erkrankte an reinen Psychotherapiepraxen versorgt werden. Im stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting wird Psychotherapie durch ständige Verweildauer- und Bettenkürzungen gefährdet, während leichter Kranke gemeindefern psychotherapeutisch versorgt werden. Ein Zweiklassenversorgungssystem wird zu einer weiteren Stigmatisierung schwer psychisch Kranker beitragen - ungeachtet aller Antistigmakampagnen, die sich für eine Gleichbehandlung dieser Patienten einsetzen. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige Kollegen erheblich zur Stigmatisierung beitragen, indem sie behaupten, dass neurotisch Erkrankte nicht in den gleichen Kliniken oder Praxen behandelt werden könnten, wie Abhängigkeitsstörungen oder psychotische Störungen. Das Beispiel moderner psychiatrisch-psychotherapeutischer Kliniken mit spezialisierten Stationen für Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angst- und Zwangsstörungen - um nur einige zu nennen - spricht dagegen, ebenso wie die Tatsache, dass Patienten mit einer primären Insomnie, die außer ihrer Schlafstörung an keiner weiteren psychischen Erkrankung leiden, anscheinend überhaupt keine Probleme haben, Behandlung in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken aufzusuchen. Im Interesse der schwer psychisch kranken Menschen dürfen eine Zweiklassenversorgung und weitere Stigmatisierung nicht zugelassen werden. Nicht zuletzt deshalb muss alles getan werden, um eine Weiterentwicklung und Etablierung der Psychotherapie in der Psychiatrie zu ermöglichen.

Fritz Hohagen, Lübeck

Prof. Dr. Fritz Hohagen

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Universitätsklinikum Lübeck

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: Hohagen.F@Psychiatry.MU-Luebeck.de