Cent Eur Neurosurg 2001; 62(2): 33-36
DOI: 10.1055/s-2002-19475
Wirbelsäule - Ergebnisse einer Umfrage

© Johann Ambrosius Barth

Polymethylmethacrylat (PMMA) in der Halsbandscheibenchirurgie - gegenwärtige Situation in Deutschland

Polymethylmethacrylate (PMMA) in anterior cervical spine surgery - current situation in GermanyJ. Schröder, H. Wassmann
  • Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Universitätsklinikum
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Publication Date:
11 January 2002 (online)

Zusammenfassung:

Polymethylmethacrylat (PMMA) hat als Platzhalter nach Entfernung der Halsbandscheibe im deutschsprachigem Raum große Verbreitung gefunden. Mit dem Aufkommen anderer Ersatzmaterialien wie Titan, Carbon und Polyetheretherketon (PEEK) sowie Berichten über Komplikationen im Langzeitverlauf steht dies Material in der Diskussion. Wir stellen mit einer repräsentativen Umfrage den gegenwärtigen Stand des Gebrauches von PMMA sowie beobachtete Komplikationen vor. - In 100 beteiligten deutschen neurochirurgischen Kliniken werden jährlich 8608 ventrale Diskektomien und Fusionen durchgeführt, davon 3410 (40%) mit PMMA, 2373 (27%) mit Titan, 2370 (27%) mit Knochenspan, 407 (4%) mit Carbon und 48 (1%) ohne den Einsatz von Fusionsmaterialien. In 47 von 100 Kliniken wird PMMA benutzt, in 18 gelegentlich und in 35 nie. Von den PMMA-Nutzern beschränken 12 den Einsatz auf eine Etage, 21 gebrauchen PMMA auch in 2 Etagen und 22 in mehreren Höhen. - Brüche im Material wurden bei PMMA in 13 (0,15%/Jahr), bei Knochendübeln in 33 (0,53%/Jahr ) und bei Carboncages in einem Fall (0,05%/Jahr) beobachtet. Über die Luxation von Interponaten wird beim PMMA in 66 (0,7%/Jahr), bei Knochendübeln in 32 (0,73%/Jahr), Titan-Spacern in 20 (0,37%/Jahr) und Carboncages in 4 Fällen (0,33%/Jahr) berichtet. - Zusammenfassend ist PMMA das in Deutschland meistgebrauchte Interponat nach Entfernung der Halsbandscheibe. Eine erhöhte Komplikationsrate gegenüber anderen Materialien konnte nicht bestätigt werden.

Summary:

In German speaking countries Polymethylmethacrylate (PMMA) is widely used as spacer material after ventral microdiscectomy of the cervical spine. With the introduction of other materials i.e. titanium, carbon and polyetheretherketone (PEEK) and upcoming reports about long term complications PMMA is currently in discussion. We present the results of an enquiry about the use of PMMA and the complications observed in Germany. - 100 German neurosurgical departments perform annually 8608 anterior cervical discectomies and fusions, 3410 (40%) with PMMA, 2373 (27%) with titanium, 2370 (27%) with bone graft, 407 (5%) with carbon and 48 (1%) without fusion materials. In 47 of the 100 departments PMMA is used on regular base, in 18 occasionally and in 35 never. The use of PMMA is limited to a single cervical segment in 12 departments, 21 are using PMMA in two and 22 in more than two segments. - Fracturing of fusion material was observed in PMMA in 13 cases (0.15% per year), in bone grafts in 33 (0.53% per year) and in carboncages in one case (0.05% per year). Dislocations of PMMA is reported in 66 cases (0.7% per year), of bone grafts in 32 (0.73% per year), of titanium spacers in 20 (0.37% per year) and of carboncages in 4 cases (0.33% per year). - In conclusion PMMA is still the most widely used spacer material after anterior cervical discectomy in Germany. An increased complication rate in comparison with other implants could not be observed.

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Kommentare zum Beitrag von J. Schröder und H. Wassmann

D. Stolke, J. Pospiech, Essen

Wird nach einer cervicalen Diskektomie aufgrund degenerativer Veränderungen eine gleichzeitige Fusion angestrebt, so gilt im internationalen Vergleich die Verwendung eines autologen Beckenkammspanes nach wie vor als ,,gold standard``. Die vor mehr als 30 Jahren von Grote und Röttgen etablierte Methode der cervicalen interkorporellen Fusion mit PMMA konnte sich trotz wesentlicher Vorteile insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum nicht durchsetzen. Bei einer deutlich geringeren perioperativen Komplikationsrate und einer kürzeren OP-Zeit sind die klinischen Ergebnisse sowohl im frühen als auch im späten postoperativen Verlauf zudem gleich. Eine solide knöcherne Fusion, wie sie von den Befürwortern der Cloward- oder Smith-Robinson-Technik gefordert wird, wird bei Verwendung eines PMMA-Dübels zwar in einem geringeren Prozentsatz beobachtet, scheint aber nach neueren Untersuchungen auch nicht erforderlich zu sein.

Vor diesem Hintergrund zeigen die vorliegenden Umfrageergebnisse sehr eindrucksvoll, wie weit verbreitet diese Methode unter deutschen Neurochirurgen dennoch ist. So wurde in 3410 von 8608 Fällen (d. h. in 40%) PMMA benutzt. Den zweiten Platz teilen sich mit jeweils 27% Beckenkammspäne und Titan-Implantate. Bei diesen Zahlen stellt sich zwangsläufig die Frage, warum Titan-Cages in dieser relativ großen Häufigkeit eingesetzt wurden. Eindeutige Vorteile gegenüber dem ,,gold standard`` oder gegenüber PMMA existieren nicht. Vielmehr sind - gerade in der heutigen Zeit - die deutlich höheren Kosten von Titan-Implantaten aufzuführen, die ihre Anwendung unseres Erachtens in keinster Weise rechtfertigen, sondern uns im Gegenteil dazu veranlassen sollten, die Indikation äußerst streng zu stellen. Insofern bietet die geplante deutsche Multicenterstudie der Sektion Wirbelsäule unserer Fachgesellschaft eine gute Gelegenheit, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Fusionstechniken an der HWS zu evaluieren.

J. Dvorak, Zürich

Die Autoren haben eine retrospektive Umfrage bei 100 neurochirurgischen Kliniken in Deutschland durchgeführt. Eine retrospektive Umfrage ist mit zahlreichen Nachteilen behaftet. Insbesondere Komplikationen werden durch retrospektive Umfrage nicht hinreichend erfasst. Es ist kaum anzunehmen, dass die beteiligten Kliniken ihre Komplikationen lückenlos registriert haben. Am ehesten handelt es sich bei den Angaben um Schätzungen.

In der Studie wird festgestellt, dass an den beteiligten neurochirurgischen Kliniken die Diskektomie nahezu immer mit einer Fusion kombiniert wird, obwohl in der neurochirurgischen Literatur die Diskektomie ohne Fusion ähnlich gute Langzeitresultate ergeben soll.

Dass Polymethylmethacrylat (PMMA) in einem so außergewöhnlichen Prozentsatz als Fusionsmaterial eingesetzt wird, ist beachtenswert und bedarf einer näheren Analyse und Begründung.

Diese Studie - es handelt sich eher um eine kurze Mitteilung - gibt Auskunft über eine vorherrschende Auffassung zur Behandlung von cervicalen Diskushernien. Ein aktueller Standard oder gar ein Trend lässt sich hieraus nicht ablesen. Die Autoren selbst stellen fest, dass in deutschen neurochirurgischen Kliniken, entgegen dem Trend in zahlreichen anderen Ländern, Polymethylmethacrylat noch das am häufigsten eingesetzte Dübelmaterial ist und dass die Fusion mit Beckenkammknochen trotz der Morbidität hinsichtlich der Spanentnahme noch einen festen Platz hat.

Dieser Beitrag muss den Leser nachdenklich stimmen. Der Trend in der medizinischen Behandlung sollte wissenschaftlichen Resultaten folgen (evidence based) und nicht von Budgetüberlegungen bestimmt werden. Bei ca. 10 000 cervicalen Diskushernienoperationen pro Jahr in Deutschland sollte der Ruf nach einer prospektiv randomisierten Studie mit Polymethylmethacrylat, Knochenspan, Titancage sowie Diskektomie ohne Fusion sehr stark und mit großer Beteiligung sein. Eine solche Studie kann nur in Deutschland durchgeführt werden, da in anderen Ländern Polymethylmethacrylat nur äußerst selten bei Diskushernieneingriffen eingesetzt wird.

Dr. J. Schröder

Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie

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