PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(4): 510-511
DOI: 10.1055/s-2001-19623
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Depression: Lieber komplex denken als in allzu schlichten Leitlinien

Ulrich  Streeck, Jochen  Schweitzer
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Januar 2002 (online)

Depressionen sind psychische Störungen von erheblicher, auch gesundheitspolitischer Relevanz. So sind sie neben Angststörungen die in der Praxis des Allgemeinarztes am häufigsten auftauchenden seelischen Störungen.

Depressive Störungen sind sehr gut erforscht. Das heute vorliegende Wissen über Depressionen ist enorm, hat teilweise allerdings ausgesprochen partikularen Charakter. Bekannt ist, dass in der Ätiologie depressiver Störungen genetische und biologische, neurophysiologische und entwicklungspsychologische, familiäre und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Wie diese Einflussfelder zusammenwirken und ineinander greifen, darüber werden zwar viele und weitreichende Annahmen formuliert, die jedoch kaum mehr sind als vergleichsweise grobe und mehr oder weniger schematische Spekulationen.

Derzeit wird als Erklärungsmodell für depressive Erkrankungen vielfach die neobiologistische „Theorie” der Auslenkung der Neurotransmittersysteme bzw. der Serotonin-Dysbalance im Gehirn favorisiert - bei aller Komplexität im Detail ein höchst einseitiges Erklärungsmodell! Die von Grüttert dargestellten neurobiologischen Wirkungsnachweise der (interpersonalen) Psychotherapie der Depression zeigen dagegen eine auch umgekehrte Kausalbeziehung von der Psyche in die Biologie an und laden damit zur Formulierung zirkulärer Ursache-Wirkungstheorien ein. Der von Backenstrass und Mitarbeitern dargestellte Einfluss sehr spezifischer Paarbeziehungsprozesse auf die Rückfallwahrscheinlichkeit liefert empirische Grundlagenargumente für die Notwendigkeit einer (hier paarbezogenen) psychotherapeutisch orientierten Intervention.

Depressionen als isolierte seelische Krankheiten gibt es nicht. Depressive Störungen sind immer in einem Umfeld situiert. Eine schwere depressive Episode bei einem Menschen, dessen soziales Umfeld stabil ist, ist ganz offenkundig nicht dasselbe wie eine depressive Episode bei jemandem, der ohne emotionale und soziale Unterstützung weitgehend isoliert ist. Die an reduktionistischen medizinischen Krankheitsvorstellungen ausgerichteten, vermeintlich nur beschreibenden diagnostischen Kategorien der ICD täuschen über solche grundlegenden Unterschiede hinweg. Kaum jemand käme wohl auf die Idee zu meinen, dass es nur die Pharmakologie der Medikamente war, die Walter Jens geholfen hat. Wie wäre wohl die Behandlung ohne die täglichen Gespräche mit seiner Frau Inge und ohne die unbeirrten Besuche von Freunden verlaufen? Und welche Rolle spielt der Umstand, dass Inge Jens bei der Therapie, die sie mit ihrem Mann (mit dem sie seit 50 Jahren verheiratet ist) durchgeführt hat, eine Art von wissenschaftlicher Neugier aufbringen konnte, die es ihr ermöglicht hat, über Wochen hinweg für ihn präsent zu sein, dabei aber zugleich so viel inneren Abstand aufzubringen, dass sie davor bewahrt blieb, in den Sog des depressiven Jammertals hineingezogen zu werden? Auch verschiedene Hinweise in anderen Beiträgen machen deutlich, dass Depressionen immer Depressionen in einem sozialen Kontext sind und sich insofern nie als isoliertes Krankheitsgeschehen ereignen. Das ist bekanntlich etwas anderes als die große Addition von biologischen, neurophysiologischen, psychischen und sozialen Faktoren, die gelegentlich als Modell eines psychosomatischen Krankheitsgeschehens der Depression ausgegeben wird.

Depressive Störungen können gut und effektiv psychotherapeutisch behandelt werden. Unabhängig von der Ausrichtung des gewählten Behandlungsverfahrens scheint für den Beginn der Therapie wichtig zu sein, dass der Patient daran glaubt, dass ihm die angebotene Behandlung helfen kann. Ob es dem Patienten möglich ist, das Gefühl zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten, dass der Therapeut über Mittel verfügt, die geeignet sind, ihn aus seinem Zustand herauszuführen, ist auch eine Frage dessen, wie der Therapeut dem Patienten gegenübertritt. Wenn der Patient den Psychotherapeuten bzw. den Psychiater idealisiert, sollte das nicht infrage gestellt werden - auf keinen Fall in der Anfangsphase der Behandlung. Im Gegenteil ist die Idealisierung unter Umständen die wichtigste Schiene, über die eine effektive Behandlung zustande kommt.

Schwerere Depressionen müssen auch medikamentös behandelt werden. Dass die Wirkung von Psychopharmaka bei der Behandlung von Depressionen ein ausschließlich pharmakologischer Effekt ist, dürfte dabei aber eher unwahrscheinlich sein. Vielmehr scheint in diesem Zusammenhang auch der Glaube eine Rolle zu spielen, den der Patient an die Wirksamkeit des Medikaments knüpft und die der Psychiater ihm vermittelt. Deshalb dürfte für die kombinierte medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung wichtig sein, dass der Psychotherapeut, solange die medikamentöse Behandlung erforderlich ist, davon selber überzeugt ist und dies dem Patienten auch vermittelt. Nicht überzeugt haben uns Auswüchse US-amerikanischer Versicherungen, maximal acht Psychotherapiestunden nur dann zu bezahlen, wenn zugleich Antidepressiva verordnet werden.

Alle psychotherapeutischen Verfahren, die zur Behandlung von depressiven Störungen eingesetzt werden, scheinen wirksam zu sein. Jedenfalls sind das die Erfahrungen derjenigen, die mit diesen Verfahren arbeiten und darüber in diesem Heft berichten. Wir könnten an diesen Erfahrungen zweifeln mit dem Argument, dass es eigentlich nur für zwei Therapieansätze (die kognitive Verhaltenstherapie und die Interpersonale Therapie) depressionsspefizische Wirksamkeitsnachweise in randomisierten kontrollierten Studien gibt. Dagegen spricht aber, dass diese in den anderen Therapieschulen aus zwei simplen Gründen fehlen: weil sie bislang in Hochschulen und Forschungsförderung schwach verankert sind und weil ihr Wissenschaftsbegriff mit der Experimentallogik über Kreuz liegt. Die Fallbeispiele lassen uns vermuten, dass mit verschiedenen psychotherapeutischen Zugangswegen bei der Behandlung der Depression sehr Unterschiedliches getan und bewirkt wird. Es sieht nicht so aus, als werde mit der einen Methode kürzer, schneller, effektiver und billiger dasselbe bewirkt wie mit den anderen.

Dass eine psychotherapeutische Methode eine begrenzte Reichweite hat, nicht für alle Patienten geeignet sein muss und bei einem bestimmten Patienten möglicherweise nicht unter allen Umständen und in allen Phasen seiner Erkrankung gleich gut geeignet ist, wird vor allem dort deutlich, wo multiprofessionell zusammengesetzte Teams mit Patienten mit depressiven Störungen arbeiten, etwa in der Familienmedizin und in der stationären Psychotherapie. In diesen Teams sind oftmals weitreichendes Wissen und breite Erfahrungen dazu versammelt, wie in der therapeutischen Arbeit verschiedene Verfahren und Methoden in welcher Weise und mit welchen Effekten kombiniert eingesetzt werden können, wie sie sich ergänzen können, wann sie sich aber möglicherweise auch ausschließen und wie welche Patienten davon profitieren können.

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