PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 339-342
DOI: 10.1055/s-2001-17172
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Entwicklungslinien:
Sexualität, sexuelle
Störungen, Sexualtherapie

Sophinette  Becker, Steffen  Fliegel
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. September 2001 (online)

PiD: Mit welchen Problemen kommen die Patienten und Patientinnen in die Ambulanz des Frankfurter Instituts? Gibt es bestimme Problem-Schwerpunkte?

S. Becker: Die Patienten und Patientinnen suchen uns wegen sehr unterschiedlicher Probleme auf: Wegen sexueller Funktionsstörungen und Lustlosigkeit, wegen konflikthafter Homosexualität und sexueller Probleme im Zusammenhang mit HIV und AIDS, wegen sexueller Traumatisierung, wegen Geschlechtsidentitätsstörungen und wegen Perversionen. Natürlich kommen in Spezialabteilungen wie die in Frankfurt, Hamburg oder Aachen Patienten und Patientinnen mit allen denkbaren sexuellen Störungen. Aber es haben sich auch lokale Schwerpunkte gebildet: Hamburg ist bekannt für Paartherapie und für die Behandlung von Sexualstraftätern, Frankfurt für die Behandlung von Patienten mit Geschlechtsidentitätsstörungen und von Patienten mit konflikthafter Homosexualität und mit Problemen im Zusammenhang mit HIV/AIDS.

PiD: Gibt es bei den Perversionen bestimmte Schwerpunkte, die heute häufiger auftreten bzw. mit denen Betroffene heute häufiger Beratung und Behandlung aufsuchen?

S. Becker: Diese Patienten kommen eigentlich immer erst dann, wenn ihre Symptomatik ihnen entgleist. Sie kommen entweder, wenn sie von Strafe bedroht sind oder wenn sie Angst davor haben, die Kontrolle zu verlieren, z. B. eine Frau zu vergewaltigen oder zum Mörder zu werden. Wenn nicht aus Angst vor einer drohenden Sanktion oder davor, dass ihr Leben aus den Fugen geraten könnte, kommen sie, wenn die Perversion, die sie schon viele Jahre haben, ihre schützende Funktion verliert, das heißt wenn die Perversion nicht mehr als das funktioniert, was man in der Psychoanalyse die „narzisstische Plombe” nennt. Hilfe sucht z. B. jemand, der trotz Perversion depressiv wird, oder jemand, der sich die Perversion nicht mehr leisten kann; eine Domina kostet z. B. viel Geld.
Ansonsten kann man sagen, dass wir manchmal erstaunt sind, wie oft wir noch die richtigen altmodischen Perversionen sehen, bis hin zu den Gummimänteln.

PiD: Ist der Begriff Perversion wieder modern?

S. Becker: Nein, aber ich sage immer noch „Perversion”, da ich die heute gebräuchlichen Begriffe „Paraphilie” und „Störung der Sexualpräferenz” weder klarer noch weniger diskriminierend finde. Manche Kollegen nennen wohl diejenigen Perversionen „Paraphilien”, die mit einer größeren Persönlichkeitsstörung verbunden sind und diejenigen, die sich noch im neurotischen Bereich befinden, „Deviationen”. Zur Vermeidung von Begriffsverwirrungen spreche ich nach wie vor von „Perversionen”, obwohl ich weiß, dass es hoffnungslos altmodisch ist.

PiD: Teilen Sie Patientinnen und Patienten diesen Begriff, diese Diagnose „Perversion” mit?

S. Becker: Natürlich nicht, da ich nie in Diagnosen mit Patientinnen und Patienten spreche. Die Kommunikation läuft auf einer anderen Ebene. Sie orientiert sich auch am Anliegen der Patienten, das sie oft sehr genau formulieren. So sagt ein Patient z. B.: „Ich habe meiner Frau von Anfang an gesagt, dass ich transvestitische Neigungen habe. Aber es ist immer stärker geworden, und seit ein paar Jahren beklagt sich meine Frau, dass sie das Gefühl hat, als Person bei unseren sexuellen Begegnungen nicht mehr vorzukommen”.

PiD: Können Sie vielleicht zwei, drei Beispiele für Perversionen nennen?

S. Becker: Zum Beispiel den ganzen sadomasochistischen Bereich. Auch Transvestismus kommt häufig vor, sehr oft integriert in Ehen. Und Frauen machen auch lange dabei mit, solange sie das Gefühl haben, dass es eine Eigenart ihres Partners ist, mit der sie umgehen können. Wenn aber die Beziehung immer mehr vom Fetisch bestimmt wird und die Frau zunehmend empfindet, dass sie von ihrem Partner nicht mehr als Person wahrgenommen wird, dann kommt es zu Konflikten. Angst davor, dass die Frau sich von ihm trennen könnte, ist dann oft ein Motiv für den Mann, uns aufzusuchen.

PiD: Sie haben jetzt die ganze Bandbreite von sexuellen Störungen benannt. Gibt es Störungen im sexuellen Bereich, bei denen Sie denken, die Leute sollten eigentlich kommen, aber sie kommen nicht?

S. Becker: Bei vielen Patienten und Patientinnen wünschte ich mir, dass sie früher kommen würden. Etwa Patienten mit einer Perversion nicht erst dann, wenn die Problematik entgleist ist oder wegen einer gerichtlichen Therapieauflage oder um eine Gefängnisstrafe zu vermeiden. Natürlich freue ich mich, wenn z. B. Patienten mit sehr aggressiven sexuellen Fantasien kommen, die ihre Fantasien noch nicht in die Tat umgesetzt haben. Oder Pädosexuelle, die noch mit sich kämpfen, die noch einen Konflikt zwischen ihrer sexuellen Fixierung und den Bedürfnissen von Kindern erleben. Später ist die Behandlung von pädosexuellen Patienten ja sehr schwierig und oft von therapeutischer Resignation geprägt, weil sich die sexuelle Fixierung fast nie auflösen lässt und man letzlich einen Verzicht auf Sexualität von ihnen verlangt.
Es ist aber nicht nur bei Patienten mit strafbaren sexuellen Neigungen wünschenswert, dass sie zu einem Zeitpunkt kommen, wo noch vieles in ihrer Entwicklung offen ist. Auch bei Transsexuellen ist es mir lieber, wenn sie uns möglichst früh aufsuchen, weil sie dann noch individueller und noch nicht völlig gelabelt sind und auch noch nicht in einer Selbsthilfegruppe gelernt haben, wie sie sich angeblich gegenüber Therapeuten und Gutachtern ausdrücken müssen.

PiD: Wie ist das quantitative Verhältnis von Luststörungen zu Funktionsstörungen in Ihrer Ambulanz?

S. Becker: Frauen kommen schon seit vielen Jahren vermehrt wegen Lustlosigkeit und sie können genauer ausdrücken, ob es bei ihnen um Lustlosigkeit oder um eine sexuelle Funktionsstörung geht. Männer kommen erst in den letzten Jahren häufiger wegen Lustlosigkeit. Sie stellen diese allerdings meistens erst einmal als Potenzstörung dar, weil sie ihre Luststörung als eine Potenzeinbuße erleben und definieren. Und erst wenn man genauer fragt, erfährt man, dass sie keine Lust haben und das als unnormal erleben.
Interessant finde ich, dass es bei allem Wandel der Symptomatik ein sexuelles Symptom gibt, das nach meinem Eindruck sowohl quantitativ als auch von der Psychodynamik fast unverändert geblieben ist, nämlich der Vaginismus bei Frauen.

PiD: Spielen bei den Männern, die wegen einer Luststörung kommen, auch Erektionsstörungen eine Rolle?

S. Becker: Nur bei manchen. Bei den Männern mit Erektionsstörungen fällt mir auf, dass die Anzahl derjenigen, die nicht mehr ein primär technisches Verhältnis zur Funktionsstörung haben, zugenommen hat.

PiD: Wodurch kommt es, dass Männer jetzt auch mehr bereit sind zu sagen: „Ich habe keine Lust” und nicht nur sagen: „Ich bin impotent”? Liegt das an der Öffentlichkeitsarbeit, an den Medien oder wodurch wurde diese Entwicklung bewirkt?

S. Becker: Wenn ich das wüsste: Ich glaube, den Männern fällt es immer noch schwer, über die eigene Unlust zu sprechen. Für Frauen war es ihre Möglichkeit der Verweigerung und sie haben sich nicht geschämt, auszudrücken, dass sie keine Lust haben. Wohl auch deshalb, weil sie die Machtseite ihrer Symptomatik mitbekommen bzw. geahnt haben. Lustlose Männer sind dagegen oft ganz erstaunt, wenn man ihnen sagt, dass sie mit ihrer Lustlosigkeit auch Macht durch Verweigerung ausüben, weil das dem traditionellen Männerbild widerspricht. Vielleicht ist die zunehmende Lustlosigkeit der Männer auch eine Folge der Aufweichung der traditionellen Geschlechtsrollenklischees. Ich meine, dass Männer insgesamt nicht mehr so sehr unter dem Druck stehen, immer können zu müssen. Viele lustlose Männer, die ich sehe, haben vorher eine exzessive Sexualität gehabt. Sie haben Sexualität oft auch als ein Medikament gegen innere Leere, gegen Depression, gegen Kränkungen etc. eingesetzt. Und plötzlich geht das nicht mehr.

PiD: Die Sexualwissenschaftler, die auch den gesellschaftlichen Kontext von Sexualität stärker berücksichtigen, wie in Frankfurt oder Hamburg, betonen die Veränderung der Sexualität von Frauen auch durch die Frauenbewegung. Frauen seien selbstbewusster geworden, übernähmen mehr Verantwortung für ihre eigenen Gefühle, für ihre eigenen Körper und ihre Sexualität. Kann es sein, dass Männer auch jetzt mehr bereit sind, auf diesen Weg einzuschwenken und vielleicht deshalb auch die Sichtweise stärker auf die Lust lenken?

S. Becker: In Bezug auf die Lust weiß ich es nicht, aber insgesamt schon. Ich arbeite jetzt 12 Jahre hier und anfangs hatte die Mehrheit der Männer, die mit Erektionsstörungen herkamen, ein sehr technisches Verständnis von ihrer Problematik; so in etwa mit der Haltung: „Bitte reparieren Sie dieses Teil da unten, das mit mir als Person ansonsten nichts zu tun hat, außer dass es funktionieren soll”. Im Laufe der Jahre hat sich an dieser Einstellung viel verändert. Es ist heute mit vielen Patienten mit Erektionsstörungen sehr viel leichter möglich, schneller auf emotionale Konflikte im Zusammenhang mit ihrer Sexualität zu kommen. Inzwischen sehe ich auch häufig Patienten, die Viagra bereits ausprobiert haben und damit unzufrieden sind: Zum einen sind ihre Frauen oft dagegen, weil ihnen durch Viagra die Macht über die männliche Erregung genommen wird. Zum anderen empfinden sie aber oft auch selbst Viagra als eine Scheinlösung ihres Potenzproblems, weil zu technisch und zu losgelöst von der sexuellen Situation und von ihnen als Gesamtperson.

PiD: Gibt es auch andere Ursachen für die Veränderung dieser Sichtweisen bei Männern wie bei Frauen?

S. Becker: Kollektive Männerbilder und Frauenbilder sind immer im Umbruch. Die Abgrenzung der Geschlechterräume ist in den letzten Jahrzehnten viel durchlässiger worden. Ob sich solche Veränderungen jedoch wirklich so unmittelbar auf die konkrete gelebte Sexualität auswirken, da bin ich allerdings sehr skeptisch. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass das derzeitige Zerreden der Sexualität in den Medien die Menschen frei und locker macht. Die Ängste, die die Leute haben, sind sicherlich andere als früher, also z. B. Gewissensängste wegen des Übertretens sexueller Verbote, Angst vor ungewollter Schwangerschaft etc. spielen kaum mehr eine Rolle. Aber alle Ängste im Zusammenhang mit Identität, Sicherheit und Autonomie, also Angst vor zu viel oder zu wenig Nähe und Abgrenzung, Angst, sich zu verlieren, überwältigt zu werden, die Kontrolle zu verlieren etc. - diese Ängste scheinen mir ziemlich konstant und von diesem ganzen Gerede über Sexualität relativ unbeeinflusst zu sein.

PiD: Glauben Sie, dass der Leistungsdruck und Leistungsstress, den viele im beruflichen Bereich wie auch in Partnerschaften erleben, auch einen Leistungsdruck in der Sexualität bewirkt?

S. Becker: Teilweise ja. Wenn man unter dem Druck steht, sozusagen alles können zu müssen, also in allen Bereichen optimal zu funktionieren, eine Topfrau/ein Topmann sein zu müssen, dann führt das sicherlich auch zu einem Leistungsdruck im Sexuellen.

PiD: Kommen wir zur Therapie. Wie wird heutzutage therapiert? Es gibt die These, dass jeder Therapeut und jede Therapeutin ein festes Standbein in einer, nämlich seiner oder ihrer Therapierichtung haben soll. Zusätzlich sind Öffnungen und Erweiterungen möglich und sinnvoll. Wo liegt Ihr therapeutischer Schwerpunkt? Wo sehen Sie eine Perspektive für die Weiterentwicklung von Psychotherapie bei sexuellen Störungen?

S. Becker: Ich komme am leichtesten mit KollegInnen aus, die überhaupt noch keine klare therapeutische Identität haben. Z. B. kann ich mich in der Regel mit einem Verhaltenstherapeuten über Patienten verständigen, obwohl ich als psychoanalytische Psychotherapeutin vollkommen anders denke und arbeite. Viel schwerer habe ich es mit den heute allmählich die Mehrheit darstellenden Eklektizisten, die von allem ein bisschen gelernt haben und deren therapeutische Haltung ich dubios bis manipulativ finde.
Die Psychoanalyse hat sich vor allem in ihren Pionierzeiten produktiv mit der Sexualität beschäftigt. Viele dieser frühen aus meiner Sicht immer noch interessanten und aktuellen psychoanalytischen Beiträge zu sexuellen Störungen und ihrer Behandlung sind leider in Vergessenheit geraten. Zu den Perversionen gibt es nach wie vor wichtige psychoanalytische Aufsätze, die sexuellen Funktionsstörungen sind jedoch leider kaum mehr Gegenstand psychoanalytischen Interesses. Deshalb und auch, weil sich an der sexuellen Funktionsstörung im Laufe einer psychoanalytischen Psychotherapie oft nichts ändert, schicken Psychoanalytiker solche Patienten oft schon am Telefon oder im Erstinterview zu uns. Meines Erachtens kommt es für den Erfolg in der psychoanalytischen Behandlung von Patienten und Patienten mit sexuellen Störungen wesentlich darauf an, dass man den sexuellen Körper in den Blick nimmt und über ihn auch in einer leibnahen Sprache redet. Wenn ich ausschließlich die unbewusste Bedeutung der Impotenz thematisiere und nie das konkrete Erleben in den einzelnen Abschnitten der sexuellen Interaktion, also z. B. was wann mit der Erektion passiert, wie sie zusammenfällt, wann bei dem vorzeitigen Samenerguss jemand sich von Erregung überwältigt fühlt etc., dann komme ich nicht weiter. Das ist ganz ähnlich wie in der Psychosomatik: Man kann auch keinen Patienten mit einer Hauterkrankung therapieren, wenn man sich nicht auch auf das Erleben des Juckens und Kratzens ganz handfest einlässt.

PiD: Entspricht der derzeitige Stand der heutigen Therapie sexueller Störungen Ihren Vorstellungen? Oder wie würde eine Vision von Ihnen - unabhängig von Krankenkassen und von bestimmten vorherrschenden Konzepten - aussehen?

S. Becker: Ich würde mir ein konturiertes Nebeneinander von verschiedenen Therapieansätzen wünschen, bei dem differenziert überlegt wird, welche Therapie bei welchen PatientInnen indiziert ist. Geeignete TherapeutInnen müssen nicht unbedingt immer Experten für sexuelle Störungen sein, besonders dann nicht, wenn es sich bei dem sexuellen Symptom um ein „Vorzeigesymptom” handelt, hinter dem sich eine tief greifende Störung der Persönlichkeit verbirgt.
Meine beiden Schreckensvisionen in Bezug auf die Therapie der Zukunft sind folgende: Die eine ist der bereits erwähnte Eklektizist, der von allen therapeutischen Richtungen ein bisschen nimmt und ohne einen Begriff von Konflikt zu einem additiven Gebräu von „Techniken” vermischt und der keinen Respekt vor der Abwehr des Patienten hat. Die andere Schreckensvision - die wahrscheinlich bald Wirklichkeit sein wird - ist, dass es für jede Störung eine Vorschrift geben wird, wie diese zu behandeln sei. Dass also zum Beispiel alle PatientInnen mit einer Angstsymptomatik nur noch medikamentös und verhaltenstherapeutisch behandelt werden dürfen, alle Identitätsstörungen nur psychoanalytisch, wobei letzteres eher unwahrscheinlich ist. Diese Modul- und Manual-Konzepte vom exakt geplanten Ablauf der Therapie, die nur noch am Symptom und nicht mehr an der Gesamtperson orientiert sind, finde ich furchtbar.

PiD: Das Interview ist ja für eine Zeitschrift, die „Psychotherapie im Dialog” heißt und die versucht, die Brücken zwischen den Therapieschulen herzustellen. Ein Dialog ist abhängig einerseits von der Person und der Kompetenz des Therapeuten und andererseits von der Person und Kompetenz des Patienten, das heißt eben nicht nur von der Störung, genau so wenig wie nur von der Art der Therapie.

S. Becker: Ja. Aufgrund meiner Orientierung empfehle ich natürlich viel häufiger Psychoanalyse in irgend einer Variante als Verhaltenstherapie, aber ich könnte mir auch gut so etwas wie einen runden Tisch in einer Region vorstellen, an dem die verschiedenen Schulen vertreten sind und an dem man das gegenseitige Indikationsstellen aufgrund bestimmter Basiserkenntnisse zusammen erlernt.

PiD: Sie haben die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie genannt. Gibt es noch andere therapeutische Ansätze, die bei der Bewältigung sexueller Störungen hilfreich sind?

S. Becker: Die soliden, nicht-esoterischen Formen der Körpertherapie, die Patienten und Patientinnen nicht überrennen, finde ich manchmal indiziert; besonders bei Patienten mit einer grundsätzlichen Störung des Körperselbst, mit denen man eigentlich die ganze negative Besetzung des weiblichen oder männlichen Körpers von der Kindheit an bearbeiten muss. Derartige Formen der Körpertherapie werden unter anderem von guten Gestalttherapeuten durchgeführt.

<$>raster(11%,p)="LOGO_PID"<$>Brauchen Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung, die unter sexuellen Funktionsstörungen, Luststörungen oder Perversionen leiden, unterschiedliche therapeutische Kompetenzen? Mit anderen Worten: Sollten Schwule Schwule oder Lesben Lesben therapieren oder ist es eher notwendig - für welchen Therapeuten auch immer - sich in das Lebens- und Liebesfeld von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung einfühlen zu können?

S. Becker: Ich bin davon überzeugt, dass man auch Kenntnisse über das spezielle Leben und die speziellen Lebensumstände von Patienten braucht. Weil es ein Schwerpunkt in unserer Ambulanz ist, sehen wir relativ viele männliche Homosexuelle, sehr viel weniger lesbische Frauen. Diese kommen am häufigsten zu uns, weil die sexuelle Lust in einer längeren Beziehung abhanden gekommen ist. Aber die viel größere Gruppe sind homosexuelle Männer, die uns wegen konflikthafter Sexualität aufsuchen. Und nachdem ich sehr viele von ihnen behandelt habe, glaube ich, dass man sie nicht behandeln kann, wenn man ausschließlich über Lehrbuchwissen verfügt. Man muss auch ein paar Romane gelesen haben oder ansonsten etwas vom schwulen Leben wissen, sonst versteht man ihre speziellen Konflikte nicht und interpretiert sie in traditionellen Schemata, die so nicht stimmen.

PiD: Muss man also nicht schwul sein für eine Therapie mit schwulen Männern?

S. Becker: Man muss ebenso wenig schwul sein für die Therapie von schwulen Männern wie man heterosexuell sein muss für die Therapie mit heterosexuellen Männern und Frauen. Schwule Therapeuten, die ihr Schwulsein als Qualitätsmerkmal sozusagen im Praxisschild führen, sind mir allerdings in der Regel ein Graus. Ich habe zu viele Expatienten von „schwulen Therapeuten” gesehen, die sich von ihrem vermeintlich so freien Therapeuten ungeheuer unter Druck gesetzt fühlten, weil sie glaubten, ebenso „befreit schwul” wie dieser sein zu müssen; sie fühlten sich in der Therapie gehemmt und beschämt, besonders wenn sie trotz eines so leuchtenden Vorbildes immer noch Probleme damit hatten, ihr Schwulsein und dessen spezifische Ausformung zu akzeptieren. Außerdem ist es aus psychoanalytischer Sicht generell ohnehin nicht so günstig, wenn die Patienten zu viel vom Leben des Therapeuten wissen, weil ihnen dann die Möglichkeit verbaut ist, ihm je nach dem das eine oder andere zu unterstellen, z. B. ihn in verschiedenen Phasen der Therapie mal als homosexuell, mal als heterosexuell zu fantasieren. Ich glaube nicht, dass man ein schwuler Therapeut sein muss, um schwule Männer behandeln zu können, aber man muss etwas vom schwulen Leben und über die besonderen Bedingungen in diesem Land, auch über die historischen und sozialen, wissen. Ebenso muss man, wenn man Patienten aus einer anderen Kultur behandelt, meines Erachtens nicht ihrer Kultur angehören, aber etwas von ihrer Kultur und den politischen Bedingungen in ihrem Land wissen bzw. sich aneignen. Bei Patienten aus anderen Kulturen mit sexuellen Funktionsstörungen sollte man darüber informiert sein, ob sie aus einem Land kommen, in dem gefoltert wird oder andere Formen schwerer staatlicher Repression stattfinden. Solche Erfahrungen können sich hinter einer aggraviert erscheinenden Impotenz verbergen, aber diese Patienten erwähnen es von sich aus nicht.

PiD: Zu den neuen Medien, Internet, Chat, Cybersex, usw. ... Haben Sie Erfahrungen gemacht, ob sich diese Medien auf die Art des sexuellen Lebens bisher ausgewirkt haben? Kommen Leute auch wegen des Konsums dieser Medien und des Umgangs mit Sexualität in diesen Medien zu Ihnen?

S. Becker: Die Leute kommen meistens dann, wenn das zu viel Geld gekostet hat oder wenn ihre Firma herausgefunden hat, dass sie auf Firmenkosten Pornographie heruntergeladen haben. An die schnellen Auswirkungen auf die Sexualität glaube ich auch bei diesem Thema nicht; ich halte die Sexualität für eine Schnecke, die sich nicht so schnell verändert. Ich glaube eher, dass die Leute, die bestimmte Pathologien haben, zu dieser Art von Internetnutzung neigen und dass das Vorhandensein von Material natürlich die Suchtmöglichkeit verstärkt, weil alles so rasch verfügbar ist. Im Übrigen habe ich gerade von einer interessanten empirischen Untersuchung gehört, in der herausgefunden wurde, dass im Internet - entgegen einer naheliegenden Annahme - eher mehr klischeehafte Geschlechtsrollenstereotypien transportiert werden als im realen Leben. Vielleicht hat das etwas damit zu tun hat, dass Leute im Internet nicht selten im anderen Geschlecht auftreten und deshalb erst einmal in die andere Richtung übertreiben. Also ein Mann, der als Frau auftritt im Internet, wird sich oberfeminin geben, während eine wirkliche Frau vielleicht mehr Schattierungen zulassen kann.

PiD: Die Nachschlagfrage: Ist Sex überhaupt wichtig?

S. Becker: Was soll ich dazu sagen: Sex ist wichtig und bleibt wichtig, auch wenn alle Konnotationen der Heilsbringerschaften sich sicherlich seit 1968 etwas abgeschliffen haben. Also, Sexualität verliert ihre mythische Funktion als Medikament, als Heilsbringer, als Gesellschaftsveränderung, als Schutz gegen faschistische Gesinnung oder was man dem Sex auch immer angedichtet hat, aber Sexualität bleibt wichtig.

PiD: Letzte Frage zu Viagra & Co.: Wie wird die Zukunft dieser Medikamente oder im anderen Sinne Lifestyledrogen aussehen?

S. Becker: Na ja, die Subjekte sind nicht ganz so blöd, wie die Medizin sie manchmal haben will. Das sehe ich an Viagra, worum ja ein riesiges Tamtam gemacht wurde, alles werde sich dadurch verändern usw. Und viele sind dann doch enttäuscht. Ich habe eine pragmatische Haltung zu Viagra. Ich halte Viagra in fortgeschrittenen Psychotherapien gelegentlich als „Anschubfinanzierung” für indiziert. Ich empfehle dann, es zweimal einzunehmenen, einmal zum Onanieren und einmal mit PartnerIn, und das reicht oft, weil es nicht kontextlos empfohlen wurde. Aber als „Wunderwaffen” werden Viagra & Co. meines Erachtens überschätzt. Sie sind ein weiterer Versuch, den männlichen und den weiblichen Körper unter die Kontrolle der Medizin zu bekommen und das ist den Menschen letztlich nie so gut bekommen.

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