PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 360-362
DOI: 10.1055/s-2001-17161
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexualität im Tantra

Frank  Fiess, Steffen  Fliegel
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. September 2001 (online)

PiD: Frank Fiess, können Sie zunächst etwas zu Ihnen persönlich sagen?

F. Fiess: Gerne, ich lebe mit meiner Frau und meinem kleinen Sohn zusammen und unterrichte Tantra seit 10 Jahren. Neben meinem Interesse für Spiritualität war ich immer auch ein gesellschaftlich interessierter, politischer Mensch. Als junger Mann habe ich hier in besetzten Häusern gelebt und war in vielen anderen Bewegungen wie z. B. der Friedensbewegung engagiert. Es ging mir immer und vor allem um Liebe, Freiheit, Befreiung und Gerechtigkeit. Die Bejahung der zwei Urkräfte des Menschen, des Körpers als Tempel und der Seele als spirituelles Wesen, das hat mich begeistert.

PiD: Was sind in Bezug auf diese menschliche Sexualität die Grundlagen oder Grundzüge des Tantra? Wie sieht Tantra die menschliche Sexualität?

F. Fiess: Erstens, dass wir alle aus Sexualität entstanden sind. Jeder Mensch ist aus Sexualität entstanden, Sexualität ist heilig, weil sie Leben erschafft. Sie hat meinen Körper erschaffen, den Körper des Lesers und der Leserin. Sexualität hat jeden Menschen physisch erschaffen. Deshalb ist sie erstens heilig und zweitens ist sie natürlich. Die Medizin kann heute lange nachweisen, wie gesund Sexualität ist, für unser Nervensystem, für unsere Organe, für viele Systeme im Körper. Dies ist einfach entspannend, nährend und steigert unser Wohlbefinden. Wir sind unser ganzes Leben immer auch Körper, und deshalb beginnt Tantra mit der liebevollen Hinwendung zum Körper. Wie fühle ich mich in meinem Körper, wenn ich hier sitze. Wie fühlt sich mein Bauch an, meine Brust, mein Herz. Wie spüre ich meinen Körper? Wie lebe ich in meinem Körper, wenn ich etwas einkaufe, wenn ich auf der Straße gehe. Wie bewohne ich meinen Körper? Das ist der Anfang. Und dann von dort aus natürlich in der Sexualität, die ja auch von der physischen Kraft mit die stärkste Kraft des Menschen ist, die uns alle treibt, umtreibt, bewegt. Wie kann ich diese Sexualität, die ja mit unsere stärkste Urkraft ist, bewusst leben? Das ist das Thema von Tantra. Wie kann ich bewusst sein in meiner Sexualität? Wie kann ich meine Sexualität heiligen, sodass sie nicht roh ist, nicht gierig, total verzerrt und seelenlos. So, wie es oft in unserer Kultur dargestellt wird, wo Sexualität oft nicht mehr ist als eine Ware, sinnentleert, Stellungskrieg, nur noch Gier und Äußerlichkeit.

PiD: Hat sich die menschliche Sexualität in den letzten 10 Jahren, in denen Sie tantrisch arbeiten, aus Ihrer Sicht verändert? Die Menschen, die in die Seminare kommen und für die auch die Sexualität Thema ist, erleben Sie Veränderungen bei diesen Menschen in Bezug auf ihre Sexualität?

F. Fiess: Oft kommen Menschen aus dem Reiz des Neuen. Sie haben irgendetwas gehört oder kommen einfach über Empfehlungen. Bestimmt 70-80 % unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Seminaren kommen über Empfehlungen.
Und was sich dann verändert bei diesen Menschen? Sie spüren, dass es nicht die Quantität ist, nicht der Reiz, der Kick, eine neue Frau, ein neuer Mann, ein erotisches Abenteuer. Das ist für viele wichtig, das ist immer noch Befreiung, mit seinen Impulsen zu gehen, mit seiner Energie zu gehen, auch seiner erotischen Energie. Nur auf der zweiten Ebene merken die Menschen dann oft, dass ihre Themen aus der Kindheit kommen, aus früheren Beziehungen, aus ihrer Lebensgeschichte. Und dann ist halt die Frage, geht man tiefer mit diesem Weg und damit auch tiefer mit eigener Sexualität. Soll heißen, am Anfang ist Sexualität einfach sehr stark außen, ist der Partner attraktiv, ist der Partner so, wie ich will, wie ist die Figur, die Brüste, der Po, all dieses Äußerliche. Wenn Frauen und Männer ihre Sexualität wirklich leben und ausleben, dann stellt sich früher oder später für viele Menschen das Bedürfnis ein, der Sexualität Seele zu schenken, das heißt, Sexualität und Bewusstsein zu verbinden, Sexualität und Seele als Einheit zu erfahren.

PiD: Tauchen in den Seminaren Menschen auf, die von sich sagen, sie seien impotent oder frigide, haben keine Lust mehr, haben Schmerzen, das heißt, die klassischen Funktions- oder Luststörungen auch beklagen. Kommen solche Menschen und kann die tantrische Arbeit diesen Menschen helfen?

F. Fiess: Also, ganz klar gesagt, ja, diese Menschen tauchen in unseren Seminaren auf. Nur, der Rahmen ist so respektvoll und lässt erst einmal so viel Raum, dass die Menschen jetzt nicht wie in der Therapie gleich damit rauskommen und sagen zum Beispiel als Mann, ich ejakuliere zu früh oder ich bin impotent. Oder als Frau, ich habe keinen Orgasmus oder ich habe gehört, ich wäre frigide. Unsere Arbeit richtet sich zunächst einmal an den ganzen Menschen, weil für uns Sexualität immer eingebettet ist in die Wahrnehmung des ganzen Menschen. Sexualität ist die Spitze des Eisberges, und deshalb muss ich auch tiefer mit den anderen Ebenen des Menschen arbeiten, was wir auch machen. Deshalb ist die Arbeit sehr langsam, sehr respektvoll, sehr liebevoll in dem eigenen Tempo. Wenn die Menschen sich sicher fühlen, dann zeigen sie sich natürlich mit ihren Themen und dann arbeiten wir mit ihnen in dem Sinne dieses Satzes: Was ist, wenn deine „Impotenz” oder dein „Zu-früh-Kommen”, - was ist, wenn deine „Frigidität” oder dein „Kein-Orgasmus-zu-bekommen” nicht dein persönlicher Makel ist, sondern eine Tür zu einer neuen tieferen Form, einer wahrhaftigen Form von Sinnlichkeit und Sexualität. Und so sehen wir das. Es ist kein Makel, es ist kein persönliches Versagen, sondern es hat Gründe, und die können die Menschen langsam mit unserer Hilfe verwandeln - wenn sie das wollen. Aber am Anfang ist wichtig, dass die Menschen sich sicher fühlen, dass ihr ganzes Sein willkommen ist und dass sie sich langsam ihren Themen öffnen können.

PiD: Dieser Ansatz, die sexuelle Störung als Chance zu sehen, als Chance, um zu einer neuen Kraft auch zu finden, ist der psychotherapeutischen Arbeit durchaus vertraut. Warum ist es in der tantrischen Arbeit notwendig, eine bestimmte Sprache zu wählen, wie Garten der Liebe oder die Sexualität ins Herz zu führen oder Selbstliebe-Rituale? Warum bedient sich die tantrische Arbeit nicht der einfachen Sprache, die zunächst einmal jedem Menschen zugänglich ist?

F. Fiess: Vieles in unserer Kultur baut auf Analyse, auf Ratio, auf Verstand und Vernunft auf. Das ist in Ordnung, das hat unserer Kultur und unserer Gesellschaft vieles geschenkt. Nur, die Schönheit, die Seele, das hat etwas mit Poesie zu tun, mit Wunder, mit Staunen, über eine Blume, über eine Kerze, über die Sonne, über den Mond, über deine Augen, über die Augen meines dreijährigen Sohnes. Und wenn ich mich in diesem Raum von Seele bewege, von Wesen, dann spreche ich anders als wenn ich sage, eins und eins ist zwei. Die Menschen, die zu uns kommen, sind oft wohlhabende Menschen, die vieles oder alles erreicht haben, aber was ihnen fehlt, ist Poesie, ist Schönheit, ist innerer Frieden, ist Seele in ihrem Leben auf jeder Ebene. Und deshalb diese Worte.

PiD: Was bedeutet das aber ganz konkret für Menschen, die in der tantrischen Arbeit auch ihre Sexualität verändern lernen. Wie verhalten sich diese Menschen, zum Beispiel in der partnerschaftlichen Sexualität, dann anders?

F. Fiess: In unseren Seminaren geht es immer auch um Verantwortung. Es geht darum, die Projektion auf unser Gegenüber zurückzunehmen und immer wieder inmitten unserer Vorwürfe, Anklagen, Schuldzuweisungen „wenn Du so oder so wärest usw.” innezuhalten und zu erkennen: mein Partner, meine Partnerin ist ein Spiegel für mich, und wer zerschlägt schon gerne seinen Badezimmerspiegel, wenn ihm nicht gefällt, was er/sie darin sieht! Da heißt Verantwortung für unsere Sexualität auf den vier Ebenen Körper, Gedanken, Gefühle und Seele zu übernehmen.
Jeder Mann, jede Frau kann lernen, sich am eigenen Körper zu erfreuen, die Ströme der Lebens- und Sexualenergie im eigenen Körper zu erfahren, ohne dass uns irgendjemand berührt. Selbst-Liebe und Selbst-Annahme ist immer die Basis für tantrische Sexualität.
Die Menschen lernen in der partnerschaftlichen Sexualität auf der einen Seite konkret über Kommunikation als Brücke der Körper, Herzen und Seelen. Auf der anderen Seite Sexualität wieder mit Entspannung, Wohlbefinden und Freude zu verbinden, sie zu feiern. Das heißt einen schönen äußeren Rahmen zu schaffen. Sich als König/Königin zu begegnen. Verletzlich und offen zu sein und das zu teilen was wahr ist - nicht das was im Lifestyle-Magazin steht - sondern das, was in diesem Moment stimmt, sei es eine Umarmung, ein Gespräch oder eine zweistündige Vereinigung voller Ekstase.

PiD: Es wird beim Tantra oft von Training gesprochen. Wird etwas trainiert?

F. Fiess: Es wird trainiert, Bewusstsein in unser Leben zu bringen. Es wird trainiert oder es wird eingeladen, dass die Menschen, wenn sie möchten, erkennen können, dass alles ein Wunder ist: alles, was da draußen jetzt geschieht, Millionen von Menschen, die alle einen wertvollen Beitrag leisten zu unserem vielschichtigen und reichen All-Tag. Zu erkennen, dass Gott sich in jedem Kind, jeder Frau, jedem Mann versteckt hat, in jeder Blume, jedem Stein, in der Sonne, in den Sternen, im Mond. Dass alles ein Wunder und eine Gnade ist. Dann höre ich auf mit der Erbsenzählerei und mit meiner Rechthaberei, sehe meine Partnerin vielleicht ganz anders, meine Kinder, meine Arbeit. Ich tue vielleicht äußerlich das Gleiche, aber ich tue es innerlich von einem Platz von Liebe aus, die nicht schwülstig ist oder romantisiert, sondern sehr real; in der sehr klar ist, dass der Tod in jedem Moment neben mir sitzt und dass jeder Moment eine Chance ist, bewusst zu leben.

PiD: Die Sexualität und damit auch sexuelle Probleme sind ja sehr bestimmt durch das Spannungsfeld der sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen. Abhängig von Stressbedingungen, von Arbeitsbelastungen, von Überforderungen, vom Lärm, von Kindern, von Haushaltsführung und und und ... Finden solche Bedingungen, die ja die sehr empfindliche Sexualität auch sehr stark beeinflussen, auch in der tantrischen Arbeit Berücksichtigung?

F. Fiess: Natürlich. Zum Beispiel ich habe jetzt einen kleinen Sohn und lebe selber in einer Familie und weiß sehr genau, wie viele Nerven, Zeit und Energie die Alltagsbelastungen erfordern. Und deshalb ist eines der wichtigsten Anliegen, die Menschen, die mit uns auch diesen Weg gehen, spielerisch dazu zu bringen, tägliche Übungen zu machen. Meditation kann unsere Medizin sein. So klug wir auch unsere Theorien und Denkmodelle ausfeilen - der Verstand kann nicht den Verstand befreien. Befreiung beginnt, wenn wir in der Meditation fähig sind, den Strom der endlosen Gedanken des greifenden Geistes zum Stillstand zu bringen, unsere nach außen gerichteten Sinne nach innen zu bringen und zur Ruhe zu kommen. Den Raum hinter den Gedanken betreten - eintreten in unseren eigenen Tempel. Jeder, der einen spirituellen Weg geht, weiß, es nützt nichts, wenn ich einfach nur am Wochenende einmal ein paar Übungen mache und ein nettes Seminar. Es braucht tägliche Praxis, es braucht täglich, und wenn es nur 10 Minuten sind, eine Viertelstunde, oder besser eine halbe Stunde, einfach kontinuierliche Übungen für den Körper und auch für das Innere, um uns tiefer zu zentrieren an dem Platz, wo ich einfach meine Gedanken beobachte, wo ich meine Sinne beobachte, meine Gefühle, meine Verhaltensweisen, die ich immer wieder reproduziere. Die Menschen werden angetrieben von der Sehnsucht nach Liebe, sie werden angetrieben von der Sehnsucht, erkannt und verstanden zu werden. Und sie werden insbesondere angetrieben von der Sehnsucht, den Sinn von dem was sie tun und sind zu erfahren. Und dazu braucht es tägliche Praxis, zu meditieren, Körperübungen zu machen. Ansonsten ist Tantra, so wie jeder andere Weg auch, irgend ein Kick, irgend eine exotische Sache, aber nach ein paar Monaten oder Wochen verpufft es einfach, und es war halt auch wieder nur eine Illusion. Tantra ist eine Lebenshaltung, ein substanzieller, spiritueller Weg zur Befreiung.

PiD: Ich gehe davon aus, dass auch Menschen, die unter schwerwiegenden und psychischen Problemen leiden, in tantrischen Seminaren Hilfe suchen. Welche Kompetenz braucht ein Tantra-Lehrer, um psychische Probleme erkennen und die Menschen adäquat auch einer kompetenten Hilfe zuführen zu können?

F. Fiess: Ich bin seit vielen Jahren kontinuierlich in fachspezifischen Fortbildungen auf verschiedenen Ebenen des menschlichen Seins, um meine berufliche Qualifikation kontinuierlich zu verbessern. Eine meiner Lehrerinnen, Dr. Julie Henderson, ist eine Expertin auf dem Gebiet der Psychosomatik und der modernen Psychotherapie. Ein Tantra-Lehrer, so wie jeder Lehrer, der mit Menschen arbeitet, muss sich ganz klar sein, dass mit Menschen zu arbeiten die höchste Verantwortung ist, die jemand übernehmen kann. Unsere Ethik und unsere Kompetenz müssen höchsten Ansprüchen genügen. Mit Menschen zu arbeiten, sie zu lieben und das Beste in ihnen zu unterstützen, heißt für uns als Lehrer oder Lehrende immer weiter zu lernen, selbst immer mehr zu werden und zu wachsen. Sodass unsere Betrachtungsweise nicht nur von einer Methode oder Sichtweise ausgeht, sondern mehr und mehr fähig ist, alle Ebenen des Mensch-Seins zu verstehen.
Wir arbeiten mit verschiedenen Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten zusammen, zu denen wir Menschen weiterempfehlen, wenn wir wahrnehmen, dass unser Angebot im Moment nicht das Richtige für den betreffenden Menschen ist. Der Teilnehmer bekommt dann nach einem Gespräch sein Geld zurück, und wir empfehlen sie oder ihn ganz gezielt an einen befreundeten Arzt, Psychologen oder Psychotherapeuten. Das gebietet ganz klar die Verantwortung.

PiD: Noch ein Schlusswort?

F. Fiess: Also für die Männer ist ganz klar wichtig zu sagen: Männer, es gibt ein Leben nach der Ejakulation. Und für die Frauen ist zu sagen, einfach die Freude an der Sexualität wiederzufinden. Nicht durch irgend eine Zeit und durch irgendeine Mode uns erdrücken zu lassen, sondern verstehen, dass jeder Mensch sein eigenes Aussehen und jeder Mensch seinen eigenen Ausdruck von Sexualität hat. Wir müssten alle das Schild mit der Aufschrift tragen, „ich lerne noch”. Wir lernen unser ganzes Leben. Niemand ist perfekt in Sexualität. Lernen, Abschied zu nehmen von der Verrücktheit, wir müssen immer toll sein, immer lustvoll. Und heimzukehren zu unserer Liebe, zu unserer Lust. Dann Liebe zu machen, in Liebe zu sein, Sexualität zu feiern, wenn ich es möchte und wenn meine Geliebte oder mein Geliebter es möchte, das heißt uns zu befreien, von all dem Ballast, von müsste, sollte, könnte, höher, schneller, besser und weiter. Zutiefst heimkehren in meinen Körpertempel, den mir der liebe Gott geschenkt hat. Meinen Atem, mein Herz spüren, die Kostbarkeit dieses Augenblicks, und von dort aus einen geliebten Menschen in Würde, in Liebe, in Freude zu begegnen. Im Bewusstsein: wir sind alle ein Teil des Göttlichen Geliebten - wir sind alle eingebunden in das große Herz des Lebens!

    >