Psychother Psychosom Med Psychol 2001; 51(9/10): 335
DOI: 10.1055/s-2001-16903
EDITORIAL
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wissen und klinisches Handeln

Knowledge and Clinical Action
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Publication Date:
31 August 2001 (online)

Ein altes Thema, das immer wieder zur Auseinandersetzung herausfordert: Was vom eigentlich verfügbaren Wissen wissen wir als klinisch Handelnde eigentlich, und was von dem, was wir wissen, setzen wir im Handeln um? Was heißt überhaupt „Wissen”, was „verfügbares Wissen”? Ist vollständig informiertes Handeln eigentlich erreichbar? Dürfen wir unvollständig informiert handeln, wenn es dabei vielleicht sogar um Leben und Tod geht? Sie werden wohl zustimmen, dass ein Mehr an fachlichem Wissen einen entscheidenden Unterschied zwischen Profis und Laien darstellt in dem Feld, in dem Leserinnen und Leser überwiegend arbeiten. Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass der Spruch „Wissen ist Macht - Ich weiß nichts - Macht nichts?” im Feld der psychosozialen Versorgung in der einen oder anderen Form, etwa der Berufung auf Intuition und das Lob eines unverbildeten Zuganges zum Menschen ebenfalls lebt und erheblichen Einfluss hat.

„Offiziell” und wohl auch in der tatsächlichen Überzeugung der Meisten dürfte gelten: Das Wissen von Profis sollte zum Zeitpunkt der Aufnahme beruflicher Tätigkeit für den Bereich dieser Tätigkeit im Wesentlichen vollständig sein, und es sollte fortlaufend erneuert und dem aktuellen Stand angepasst werden. Viel wird getan, um das als notwendig angesehene Wissen zu vermitteln und zumindest vor Antritt der beruflichen Tätigkeit auch zu prüfen, was an vorhandenem und angebotenem Wissen tatsächlich erfolgreich vermittelt und gespeichert wurde. Kriterium ist dabei weitgehend die explizite Abrufbarkeit inhaltlichen Wissens, etwa in Staatsexamina. Das ist am leichtesten zu erheben. Ob in der Auseinandersetzung mit Wissen auch Verarbeitungsprozesse und -strategien herausgebildet werden, ist schon schwerer zu erfassen. Das führt m. E. im Übrigen auch zu einer Unterschätzung der Wichtigkeit einer Auseinandersetzung mit Theorien und Konzepten: Absolventen einer Ausbildung können sich bemühen, theoretisches Wissen z. B. nach Studienabschluss selektiv oder vollständig „zu vergessen”; sie wurden doch unausweichlich in der Auseinandersetzung damit geformt. Vielleicht ist es sogar weniger wichtig, noch etwas mehr zu wissen, als gute Strategien entwickelt zu haben, das „wirklich” relevante Wissen zu selegieren und zu integrieren. Was ist überhaupt relevantes Wissen? Sollte etwa ein Psychotherapeut stets nach dem Stand der neuesten Studien handeln? Auf den ersten Blick mag dies vernünftig erscheinen, nur: Oft werden die neuesten Ergebnisse durch noch neuere Ergebnisse oder Diskussionen wieder relativiert. Etwas abzuwarten erscheint damit nicht mehr einfach als Zeichen einer konservativen Haltung oder von Uninformiertheit, es ist vielleicht sogar weise!

Konsensus-Konferenzen, an denen Leitlinien zur Behandlung bestimmter Störungen entwickelt werden, führen in aller Deutlichkeit vor Augen: Auch wenn Wissen vorhanden ist, ist selbst für bestinformierte Fachleute längst nicht klar, was relevantes Wissen ist, was bei widersprüchlichen Informationen gilt, und welches Handeln aus dem als relevant betrachteten Wissen abzuleiten ist.

Überhaupt: Nicht-Wissen und Nicht-Reagieren kann anscheinend durchaus positiv sein; Clara Hill aus Maryland fand etwa, dass Psychotherapeuten besser intervenierten, wenn sie gewisse versteckte negative Reaktionen ihrer Patienten übersahen, Georg Vogel aus Bochum fand, dass das allzu „flexible” Berücksichtigen, das zu starke Ausrichten des Handelns an neuer Informationen Therapien schlechter machen kann. Hinweise darauf, dass ein einfaches „je mehr, desto besser” zumindest nicht in allen Fällen stimmt. Wenn oben von Intuitionen als schlechtem Ersatz für fehlendes Wissen die Rede war: Wir alle kennen Attacken aus dem wissenschaftlichen Lager, aus der Position der Evidence-based Medicine oder der Empirically Validated Treatments gegen Ignoranz und Unwissenschaftlichkeit, nur: Lässt sich klinisches Handeln überhaupt lückenlos in explizitem, solidem Wissen begründen? Müssen nicht zwangsläufig Lücken gefüllt werden, muss nicht auf unwissenschaftlicheres, implizites Wissen zurückgegriffen werden? Kann ein Kliniker einen Tag ohne Intuition überleben (gemeint die „gute”, in langjähriger Erfahrung herausgebildete Expertenintuition, nicht unreflektierte Laienintuition)? Braucht er nicht neben wissenschaftlichem Wissen Arten der Informationsverarbeitung, die auch die schnelle Verarbeitung von komplexen, weichen, „fuzzy” Informationen erlaubt? Es ist leicht, Klinikern Fallen zu stellen, wie das in der Forschung oft getan wurde, um zu zeigen, dass sie zu wenig wissen oder Wissen nicht richtig anwenden. Es ist aber leichter, von normativen Modellen ausgehend zu kritisieren, als zu sagen, wie denn Wissen in der klinischen Praxis richtig verwendet werden soll, geschweige denn, optimale Hilfe dafür zu geben. Zeitschriften wie PPmP haben die wichtige Aufgabe, nicht nur für die Weiterbildung, sondern auch bereits für den Stoff in Studium und Ausbildung Informationen zu vermitteln. Es ist aber unrealistisch, dass man in werdende oder tätige Praktiker einfach nur immer Informationen hineinstecken muss, um zu optimalem, rationalem und qualitätsgesichertem Handeln zu kommen, um das es letzlich ja geht. Manchmal kann ein Journal auch Verdauungshilfe leisten, etwa mit der Publikation einer Metaanalyse oder eines zusammenfassenden Kommentars. Im Wesentlichen lassen wir aber heute unsere Kollegen noch viel zu sehr allein, wenn es um das Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen und deren Umsetzung im Handeln geht. Der wichtigste Grund dafür ist: Wir wissen tatsächlich empirisch noch recht wenig über diese Prozesse in der realen Praxis. Es ist zu hoffen, dass die Wissenschaft hier erheblich Fortschritte macht und wir alle, Herausgeber, Autoren, Konsumenten von Büchern und Artikeln, und handelnde Therapeuten im Interesse unserer Patienten noch besser lernen, Wissen zu vermitteln, aufzunehmen, zu selegieren, zu verarbeiten und integrieren, in Handeln umzusetzen und last not least die Effekte des Handelns wieder vor dem Hintergrund des Wissens zu reflektieren. Wenn es unethisch, vielleicht sogar juristisch, auf jeden Fall aber unter Effizienzbesichtspunkten bedenklich ist, auf der Basis unvollständigen Wissen zu handeln, gilt das vielleicht auch für das Schreiben, Lesen und Publizieren auf der Basis eines sehr lückenhaften Modells, was im Umgang mit Wissen eigentlich wirklich geschieht.

Ich habe bewusst viele Gedanken in Fragen gepackt. Zu einzelnen gibt es - meist allerdings sehr unvollständige und widersprüchliche Antworten in der Literatur. Zu den meisten aber nicht. Wenn Sie Gedanken dazu haben, oder gar etwas wissen, lassen Sie es mich wissen!

Franz Caspar, Freiburg