Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(SH1): 48-52
DOI: 10.1055/s-2001-15937
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Neurologie in Heidelberg heute - Impressionen eines interessierten Beobachters

W. Christian
  • Heidelberg
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Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Die Entwicklung der Neurologie in Heidelberg ist vielgestaltig. Grundsätzlich neue Anschauungen haben an Boden gewonnen. Wir haben hierzu manche Tatsachen in den vorausgehenden Vorträgen gehört. Wenn nun die Eindrücke über die heutige neurologische Klinik von einem nicht mehr tätigen, aber stets interessierten Beobachter wiedergegeben werden sollen, ist dies sicher kein leichtes Unterfangen. Impressionen haben ihre Wurzeln in Erinnerungen und fordern zum Vergleich mit den Verhältnissen aus früherer Zeit auf. Wie erlebt also ein Ehemaliger aus seiner Sicht die derzeitige Neurologie in Heidelberg?

Den vielen neuen Erkenntnissen, die sich aus der Forschung und Praxis ergeben, steht man als quasi Neuling oft etwas hilflos gegenüber. Das breite Spektrum der Referate im Rahmen der Seminare und Weiterbildungsveranstaltungen, an denen ich als dankbarer Zuhörer teilnehmen durfte, ist beeindruckend. Die vielen Informationen animieren zum Nachdenken und auch zu einer kritischen Selbstreflexion. Zweifellos war die Neurologie zu Vogels Zeiten - verglichen mit heute - besser überschaubar und weniger kompliziert. Damals hatte man das Empfinden, man könnte alle neurologischen Erkrankungen ohne Schwierigkeiten verstehen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Es hat sich ein enormer Wandel vollzogen, der uns zweifellos manche Bereicherung unserer Erkenntnisse geschenkt hat. Mein Eindruck ist die Super-Spezialisierung. Aber bereits Leibniz hat schon 1667 „von einer notwendig gewordenen Perfektionierung der Medizin gesprochen”.

Worauf gründet sich nun unser besseres Wissen? Hans Schäfer hat das einmal so formuliert: „Der wahre Fortschritt heißt Methode. Was an Fortschritten erzielt wurde, basiert auf neuen Methoden” [1]. Ich denke hierbei an die Biophysik - das kommt der Elektro- bzw. Neurophysiologie zugute - und ich denke an die Biochemie. Davon partizipiert in erster Linie die Molekularbiologie und die Molekulargenetik, die tiefe Einblicke in die Geheimnisse der Grundphänomene des Lebens ermöglichen. Bei den elektrischen Methoden stehen der Klinik heute weit sensiblere Apparate mit viel genaueren Registriermöglichkeiten zur Verfügung, um die Lebensvorgänge auch im pathologischen Geschehen zu analysieren. Ich denke dabei speziell an den Biomagnetismus.

Besondere Erwähnung verdienen die bildgebenden Verfahren, in erster Linie die 1973 von Hounsfield entwickelte Computertomographie und die Magnetresonanztomographie zum direkten Nachweis umschriebener oder diffuser Prozesse des Gehirns oder Rückenmarks. Hierfür zuständig ist in der Klinik eine spezielle Neuroradiologische Abteilung.

Zu Vogels Zeiten hat man von solchen Methoden nichts geahnt. Es gab natürlich die Röntgennativdiagnostik, und nicht selten war eine Pneumenzephalographie, eine den Patienten recht peinigende Untersuchungsmethode, erforderlich. Hin und wieder wurde in der Röntgenabteilung der psychiatrischen Klinik von Otto Hallen auch eine Arteriographie durchgeführt, natürlich noch keine digitale Subtraktions-Angiographie.

Die Entwicklung neuer Konzepte und Methoden im Bereich der Molekularbiologie und Molekulargenetik haben mit unterschiedlichem Gewicht unsere Vorstellungen von Pathogenese, Pathologie und Krankheitsgeschehen verändert. Linus Pauling hat bereits 1947 - also schon vor der Entdeckung der molekularen Struktur der Erbsubstanz durch Watson u. Crick (1952) - den Begriff der molekularen Krankheit geprägt und damit dem Einzug des molekularen Denkens in die Medizin das Tor geöffnet [2]. Die Aufdeckung pathologischer Genstrukturen und der entsprechenden Proteinstrukturen durch monoklonale Antikörper ist im vollen Gang. Damit eröffnet sich auch die Möglichkeit der Erkennung einer genetischen Disposition für bestimmte Erkrankungen bereits viele Jahre vor deren klinischer Manifestation. Schwerpunkt der neuro-immunologischen Arbeitsgruppe der Neurologischen Klinik sind die infektiösen Erkrankungen des Nervensystems. Bei der Diagnostik spielt dabei die Polymerase-Kettenreaktion zum Nachweis erregerspezifischer DNA und RNA im Liquor eine große Rolle. Mehrere Grundlagen orientierte Forschungsprojekte befassen sich mit der molekularen Pathologie der AIDS-Demenz und der Herpes-Simplex-Virus-Enzephalitis sowie der Alzheimer-Erkrankung. Hierzu gehören verschiedene Spezialambulanzen, so die HIV-Ambulanz und die immunologische Ambulanz, die Patienten mit akuten und chronischen demyelinisierenden neurologischen Erkrankungen, Immunoneuropathien betreut, ferner Patienten mit vaskulitischen Beteiligungen des peripheren und zentralen Nervensystems sowie Patienten mit einer Multiplen Sklerose und die diesbezüglich neue Therapieansätze entwickelt und überprüft. Zu nennen wäre auch die neurogenetische Sprechstunde. Alle Einsätze geschehen in enger Kooperation mit Kollegen aus anderen Kliniken oder Instituten.

Zu Vogels Zeiten gab es nur eine Zusammenarbeit mit dem Humangenetischen Institut und ein entsprechendes Forschungsstipendium für EEG-Studien bei Patienten mit Erkrankungen aus dem epileptischen Formenkreis.

Ich bin heute noch Frau Wildemann dankbar dafür, dass sie uns zu Gänshirts Zeiten im Rahmen mehrerer Seminare sozusagen Nachhilfestunden in Molekularbiologie und Immunologie gegeben hat.

Sicherlich ist es aber zu simpel und allzu nüchtern ausgedrückt, wenn man meint, die Grundfunktionen des Lebens basieren nur auf der Kenntnis von Chemie und Physik, und wenn man die Erkrankungen monokausal zu erklären versucht. Man vergisst allzu leicht den psychosomatischen Aspekt, der in der Krankheit mehr oder weniger zum Tragen kommt. C. F. v. Weizsäcker, der Neffe von V. v. Weizsäcker, hat es einmal so formuliert: „Es gibt in der Medizin neben der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse stets die Forderung, den Patienten als Mitmenschen zu verstehen. Das Verstehen gibt reale Aufschlüsse, die der Kausalanalyse, nicht prinzipiell, aber wegen der Kompliziertheit der Vorgänge, versagt bleiben; denn das Verstehen bezieht sich direkt auf den großen, biographischen Zusammenhang, den ‚Sinn’ der zahllosen Regelkreise des Organismus” [3].

Damit ist wieder eine Wissenschaft angesprochen, die sicherlich auch manches pathologische Geschehen in der Neurologie erklären könnte. Ich meine die Kybernetik, besonders wenn ich an die Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen in V. v. Weizsäckers Gestaltkreis denke. Er und Nobert Wiener haben sich aber offenbar nicht gekannt. Zusammenhänge zwischen Kybernetik und Gestaltkreis wurden aber schon verschiedentlich erörtert und sollten m. E. auch weiterhin diskutiert werden.

Kybernetisches Denken versucht komplizierte Zusammenhänge strukturell zu erfassen und setzt dem eindimensionalen Ursache-Wirkung-Denken eine Vorstellung von allseitigen Beziehungen in einem System entgegen, dessen Gleichgewicht sich über Regelkreise, Rückkopplung, Vernetzung und Steuerung selbst reguliert. In einem Regelkreis kann jedes Element sowohl Ursache als auch Wirkung sein. Piaget sprach deshalb von einer Rückkopplungskausalität. Die Biokybernetik analysiert biologische Systeme, z. B. die Übertragung von Signalen durch Nervenimpulse und Hormone, die physiologische Verarbeitung von Reizen und die Regelung von Stoffwechselprozessen. Das gilt natürlich auch für die Krankheit. Dabei spielen bei der Kompliziertheit der Krankheitsmuster polykausale molekulargenetische oder molekularbiologische Wirkungsverknüpfungen im dynamischen Ablauf eine Rolle.

Wenn wir es biologisch betrachten, ist Kyernetik also auch Erhaltung des lebensnotwendigen Funktionsgleichgewichtes, der Harmonie der Gesundheit. Jeder Mensch ist Empfänger, Speicher, Verarbeiter und Sender von Informationen. Seine fünf Sinne sind dabei die Handwerkszeuge, sein Nervensystem ist der Befehlsübermittler und sein Gehirn mit allen seinen komplizierten Schaltungen und Gedächtniseigenschaften ist die Kommandozentrale (Marfeld [4]).

Meinen - vielleicht allzu theoretischen - Ausführungen liegen Gedanken, Überlegungen zugrunde, die sich nach den Besuchen der Seminare oder beim Studium der Jahrbücher der Neurologie einstellten. Bevor ich versuche, meine spezielleren Eindrücke über die heutige Neurologie in Heidelberg zu vermitteln, gestatten Sie mir einen Rückblick in die Zeit, in der Paul Vogel die Klinik geleitet hat, um die Vergleiche von damals und heute hervorzuheben. Ich möchte aber nicht versäumen, über ihn selbst noch einige persönliche Bemerkungen einzuflechten, schließlich ist der Anlass des heutigen Symposiums der 100. Geburtstag von Paul Vogel. Herr Neundörfer hat mit Recht seinen Vortrag: „Paul Vogel - Repräsentant der klinischen Neurologie” betitelt. Auch für mich war er der entscheidende klinische Mentor gewesen, bei dem ich nicht nur das ärztliche Handwerk der Neurologie gelernt habe, sondern vor allem das Weiterdenken in vielen klinischen Fragestellungen. Richtig kennengelernt habe ich Paul Vogel aber erst nach seiner Emeritierung, als ich mit ihm 11 Jahre lang bei meinen wöchentlichen Besuchen über viele medizinische, naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Probleme diskutieren durfte. Manche seiner damaligen Fragen lassen sich heute beantworten.

Ich erinnere mich noch gut an unsere Gespräche z. B. über das Universalgenie Imhotep, soz. unseren ärztlichen Vorfahren, über Plato, Kant, Nietzsche - dabei legte er Wert darauf, dass man die Schlechta-Ausgabe benützte -, über Henri Bergsons Matière et mémoire, eine Abhandlung über das Verhältnis von Körper und Geist, ferner über Sherrington's großartiges, auch heute noch lesenswertes Buch mit dem gleichen Titel: „Körper und Geist” oder über Jackson's Croon-Vorlesungen über: „Auf- und Abbau des Nervensystems”. Fasziniert hatte ihn damals auch ein 1969 im Studium generale veröffentlichter großartiger Beitrag unseres Medizinhistorikers Heinrich Schipperges: „Zum Selbstverständnis einer Medizin zwischen gestern und morgen” [5] - eine programmatische Schrift mit einer prospektiven Betrachtung moderner Wissenschaften, wozu auch die Medizin und natürlich auch die Neurologie gehört.

Vogel war ein glänzender Beobachter und ein großartiger Lehrer. Seine Vorlesungen, auf die er sich immer bestens vorbereitete, waren für alle Zuhörer ein Erlebnis. Bei seinen wöchentlichen Visiten hat man viel gelernt. Ich erinnere mich u. a. an einen aggressiven Patienten, der von ausgesprochenem Heißhunger geplagt wurde. Vogel wusste, dass Adrenalin ein möglicher Gegenspieler des Insulins ist. Eine massive Hypoglykämie wirkt jedoch als Stimulus für eine Adrenalinfreisetzung. Hunger macht schließlich aggressiv [6]. Mit Hilfe der Stimmgabel, die er stets zur Prüfung der Vibrationsempfindungen bei sich trug, vermochte er auch eine Schwerhörigkeit des Mittel- oder Innenohrs durch den Rinne' oder Weberschen Versuch zu klären. Einmal stellte er in der Vorlesung gleichzeitig einen Patienten mit einer Bulbärparalyse und einen Kranken mit einer Pseudobulbärparalyse vor. Das hatte die Studenten damals sehr beeindruckt.

Auch legte er großen Wert darauf, dass man sich die Namen des Erstbeschreibers eines besonderen Syndroms merkte. So sprach er z. B. von einem Vanzetti-Zeichen - nach einem Chirurgen in Padua benannt -, wenn ein Kranker mit einer Skoliose und dadurch bedingtem Ischias in gebeugter Haltung einherging. Die Skala, der von ihm gelernten Namen bestimmter Syndrome ist groß. Ich nenne nur einige, die mir gerade einfallen: das Wallenberg-Syndrom, das opthalmoplegische, schmerzhafte Tolosa-Hunt-Syndrom oder das Kearns-Sayre-Syndrom, das Gradenigo-Syndrom, das McArdle-Syndrom, das Arnold-Chiari-Syndrom (Arnold lebte in Heidelberg) oder das Gerstmann-Syndrom bei einem Symptomenquartett: Re-Li-Störung, Fingeragnosie, Akalkulie und Agraphie.

Herr Poeck u. Herr Orgass haben später allerdings verschiedentlich dargelegt, dass es sich dabei um kein geschlossenes Syndrom handelt, und dass es meist durch aphasische Sprachstörungen zu erklären ist [7]. Das wussten wir damals noch nicht, wir waren nur sehr beeindruckt von dem Phänomen als solchem.

Vogel bezweifelte auch die Psychologie des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms. Ich musste daran denken, als ich vor einigen Monaten im Eingang der Kopfklinik einen Patienten mit einer Maladie des Tics bemerkte, der obszöne Worte ausstieß, so dass die anderen wartenden Patienten auf Distanz zu ihm gingen. Wahrscheinlich hat er die für ihn zuständige Spezialambulanz der Neurologischen Klinik aufgesucht.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Laser-Therapie in der Augenklinik und bei bestimmten Hauterkrankungen eingesetzt wurde, fragte sich Vogel damals, ob man mit einem Laserstrahl evtl. auch gegen Gefäßverschlüsse angehen könnte. Sein besonderes Interesse galt auch den Polyneuritiden. Er kannte u. a. das 1945 von Refsum beschriebene und nach ihm benannte Syndrom der Heredopathia atactica polyneuritiformis. Nicht bekannt war uns damals, dass die Erkrankung auf einer autosomal-rezessiv-vererbten Störung des Phytansäurestoffwechsels beruht. Einmal wunderte er sich auch über einen ihm mitgeteilten Befund einer Amyloid-Einlagerung im Epineurium als wahrscheinliche Ursache eines Karpaltunnel-Syndroms.

Was die Multiple Sklerose betrifft, galt Anfang der 50er Jahre noch die Meinung von Pette u. v. Weizsäcker, dass bei der damaligen Unkenntnis des Leidens das primum non nocere als oberstes Gesetz aller therapeutischen Maßnahmen gelten sollte.

Meines Erachens hat die Berliner Zeit in der dortigen Hansa-Klinik entscheidend den Werdegang von Paul Vogel mitgeprägt. Vorbilder, mit denen er sich auch später immer wieder befasste, waren der früher in Berlin tätige Johannes Müller und Rudolf Virchow gewesen. Der berühmte Physiologe Johannes Müller, der bekanntlich 1826 das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien entdeckte, stellte die Erfahrung über alles. Wörtlich heißt es bei ihm: „Die Erfahrung wird zum Zeugungsferment des Geistes” [8], für Virchow ist die Krankheit ein Lebensvorgang, der sich vom normalen Leben nur dadurch unterscheidet, dass er sich am ungehörigen Ort, zur ungehörigen Zeit oder im unrichtigen Maß und mit dem Charakter der Gefahr abspielt. Auch Vogels besonderes Interesse für die Myasthenie mag mit dadurch bedingt sein, dass Sauerbruch 1937 in Berlin erstmals bei diesem Leiden eine Thymektomie durchführte.

Meine Damen und Herren! Man schwelgt in Erinnerungen. Erinnerung ist aber auch Dankbarkeit des Herzens. Verübeln Sie mir bitte nicht den allzu langen Exkurs über die damalige Nervenabteilung. Aber nur die Vergleiche der Fakten zu Vogels Zeit mit dem heutigen Stand und den so grundlegend anderen Gegebenheiten lässt erfassen, wieviel sich aus meiner Sicht in der Zwischenzeit geändert hat [9].

In den 50er und 60er Jahren verfügte die Nervenklinik über 120 Betten. Die Patienten waren - abgesehen von einer kleinen Privatstation - auf 4 Stationen in 4 Krankensälen mit jeweils anschließendem kleineren Raum untergebracht. Die Ärzte und Schwestern hatten ihren Schreibtisch mitten im Krankensaal. Das hatte schon v. Krehl für die Med. Klinik so organisiert. Außerdem gab es für jeweils 2 Stationen noch einen Raum für persönliche Gespräche mit den Patienten. Das Miteinander der Kranken - dazu gehörten anfänglich auch Kinder - verlief in der Regel ganz harmonisch. Ich erinnere mich nicht daran, dass sich ein Patient darüber beschwert hat. Erst Gänshirt hat dies geändert und die Krankensäle unterteilt. Die Kommunikation zur Neurochirurgie war durch die weite Entfernung über den Neckar etwas schwierig.

Zerebrale Leistungsstörungen, die wir damals zu Gesicht bekamen, waren oft noch Folgeerscheinungen von Kriegsverletzungen, die behandelt und begutachtet wurden. Auslandsaufenthalte für Mitarbeiter der Klinik gab es seinerzeit so gut wie keine, mit Ausnahme für Herrn Janz, der einige Monate in der Schweiz verbrachte.

Nachfolger von Heinz Gänshirt als Leiter der Heidelberger Neurologischen Klinik wurde Werner Hacke. In der Berufungskommission waren sich damals nach seinem Vortrag alle einig, dass er es werden sollte.

Die Struktur der Neurologischen Klinik hat sich nach ihrem Umzug in die Kopfklinik grundsätzlich geändert. Die enge Nachbarschaft - sozusagen unter einem Dach - zur Neurochirurgie, Radiologie, Hals-Nasen-Ohren- und Augenklinik bedeutet eine wesentlich engere Kooperation mit den einzelnen Fachgebieten, ein großer Vorteil gegenüber früher. Die Bettenzahl hat sich deutlich verringert, die mittlere Verweildauer im Krankenhaus ist wesentlich kürzer geworden, obwohl die Anzahl der stationären Patienten gegenüber früher deutlich zugenommen hat. Neue Methoden in den einzelnen Funktionsbereichen sind zur Routine geworden und werden teilweise mit Hilfe von Mathematikern und Informatikern breit eingesetzt. Die Neurologische Klinik verfügt über eine Abt. Neurologie mit Poliklinik, Notambulanz, Intensivstation, einer Sektion Klinische Neurophysiologie und einer Sektion Biomagnetismus, ferner über eine Neuroradiologische Abt. Im Februar nächsten Jahres kommt offenbar noch eine schon länger geplante 3. Abt. Klinische Neurobiologie hinzu.

Ein Schwerpunkt der Klinik ist die sog. Stroke Unit, also eine spezialisierte Einrichtung, in der Schlaganfallpatienten in der Akutphase betreut werden. Der große Vorteil dieser Station ist, dass ein Spezialistenteam von Neurologen, Internisten, Neurochirurgen und Radiologen rund um die Uhr bei Patienten, die einen Schlaganfall erlitten, zur Verfügung steht, und dass somit innerhalb weniger Stunden die Weichen für die Lebensqualität der nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte gestellt werden.

Der Stroke-Unit-Station ist eine Semi-Intensiv-Station angegliedert, also eine zwischen der Intensiv- und Normal-Station liegende Obhut, eine Einheit für noch überwachungspflichtige, aber nicht mehr beatmungsnotwendige Kranke. Auch in den gut besuchten Seminaren werden immer wieder Fragen der Anschlussbehandlung nach einem Schlaganfall, der Prävention, der Integration von Akut-Medizin und Rehabilitation und der Sekundär-Prophylaxe diskutiert und die Wichtigkeit der Aufklärung über das zeitliche Limit für eine rasche Rekanalisierung von Gefäßverschlüssen - man spricht von einem therapeutischen 3-Stunden-Zeitfenster - für eine Thrombolysebehandlung hervorgehoben. Neuroprotektive Substanzen stehen zur Zeit offenbar noch in klinischer Erprobung.

Hohe Wissenschaft kann auch literarisch umrahmt präsentiert werden. Vor einigen Jahren traf ich im Foyer der Alten Universität einen Studenten, der eifrig im Forschungsmagazin der Ruperto Carola las. Ich kam mit ihm ins Gespräch. Seine Lektüre war ein Beitrag von Herrn Hennerici u. Kuschinsky über „Schlaganfall: Rasche Therapie begrenzt Schäden”. Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erörterungen war Stefan Zweigs Erzählung über „Georg Friedrich Händels Auferstehung” in seinem berühmten Sternstunden der Menschheit [10].

Händel kam damals wutentbrannt nach einer Probe seines Messias nach Hause und erlitt unmittelbar danach einen Schlaganfall. Stundenlange, von seinem Arzt Dr. Jenkins verordnete heiße Bäder in Aachen erbrachten langsam die Heilung, so dass er schließlich doch noch sein großartiges Werk mit dem wunderschönen Halleluja beenden konnte. Der Aufsatz mit seinen diagnostischen, pathophysiologischen und therapeutischen Erörterungen hat mich sehr beeindruckt. Als ich vor über fünfzig Jahren erstmals Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit gelesen habe, waren mir derartige wissenschaftliche Erkenntnisse natürlich noch nicht zugänglich.

Als weiterer Schwerpunkt der Klinik wären die experimentelle Neurophysiologie und der Biomagnetismus zu nennen, der ein Ganz-Kopf-Magneto-Enzephalographiegerät zur nicht-invasiven Messung der Hirnstromaktivität bei ischämischen Hirnläsionen und vor neurochirurgischen Eingriffen zur Verfügung steht sowie ein digitales EEG-Gerät zur Lokalisation epileptogener Herde. Fokale oder generalisierte epileptische Anfälle können auch einmal als Vorboten apoplektischer Insulte auftreten. Barolin sprach von sog. vaskulären Präkursiv-Epilepsien.

Ein Behandlungs- und Forschungsteam der Klinik beschäftigt sich in Kooperation mit Kollegen der Neurochirurgie mit der Stereotaxie bei Bewegungsstörungen, also mit der Frage der stereotaktischen Implantation von Stimulationselektroden bei Patienten mit einem Morbus Parkinson, bei denen die medikamentöse Therapie erfolglos blieb, oder bei Patienten mit einem schweren essentiellen oder zerebellaren Tremor.

Auch hierbei denke ich an frühere Zeiten, vor allem an meine Ausbildung in Freiburg bei Richard Jung. Ich hatte damals öfter Gelegenheit zuzusehen, wie der Neurochirurg Traugott Riechert mit einem von Spiegel u. Wycis entwickelten, später von Riechert selbst u. Wolff verbesserten Gerät gezielte Elektrokoagulationen durchführte. Mit Hilfe eines derartigen Zielapparates wurde durch eine kleine Trepanationslücke eine Punktionsnadel ins Gehirn zu den gewünschten subkortikalen Ganglien bzw. zum dorsomedialen Thalamus eingeführt und diese dann durch Elektrokoagulation zerstört. Die erforderlichen Zielbügel der Geräte waren enorm groß und erinnerten mich mit ihren Meridianen zur Einstellung der Zielpunkte an optische Geräte zu Kepplers Zeiten. Lage und Ausdehnung der betreffenden Zentren wurden im Pneumenzephalogramm festgelegt. Die Kontrolle der Nadellage erfolgte röntgenologisch oder mit Hilfe von elektrophysiologischen Methoden [11]. Hassler war dabei ein treuer Helfer gewesen. Dass bei derartigen Eingriffen gelegentlich Komplikationen auftraten, sei dahingestellt. Heute sind solche Verfahren wahrscheinlich weniger aufwendig.

Seinerzeit habe ich daran gedacht, ob nicht vielleicht in ferner Zukunft einmal Roboter bei derartigen neurochirurgischen Eingriffen eine gewisse Rolle spielen könnten. Hat doch schon Homer im 18. Buch der Ilias von automatischen Kellnern und geschickten künstlichen Mädchen erzählt, die der göttliche Handwerker Hephaistos konstruiert hatte und die ihm zur Seite standen.

Über die Tätigkeit der neuroimmunologischen Arbeitsgruppe und ihre zugehörigen Ambulanzen habe ich bereits gesprochen. Zu erwähnen wäre noch eine Spezialambulanz für Patienten mit Bewegungsstörungen und für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen sowie eine Spezialambulanz für eine Botulinumtoxin-Therapie. Darüber war zu Vogels und auch zu Gänshirts Zeiten noch nichts bekannt. Ich schickte damals einen Patienten mit einem Spasmus hemifacialis zur operativen Behandlung, d. h. zur Dekompression des Nerven im canalis Fallopii, nach Hannover zu Herrn Samii, dem Mitbegründer des kürzlich etablierten internationalen Neurowissenschaftlichen Instituts.

Unter der großen Zahl der Forschungsprojekte der Klinik möchte ich nur noch einige erwähnen. Ich nenne die Pathogenese von Dissektionen zerebraler Arterien und denke dabei auch an Einrenkmanöver als eine der möglichen Ursachen, wenn früher Patienten mit zerebralen Störungen nach solchen Prozeduren zur Aufnahme kamen. Wichtig scheint mir auch der Frage der Entstehung einer Critical illness-Polyneuropathie nachzugehen. Als Konsiliarius in der Krehl-Klinik sah man gelegentlich ein derartiges Krankheitsbild als Komplikation bei intensivmedizinisch behandelten Patienten.

Bei einem weiteren Forschungsprojekt steht die Frage im Raum: Welche Rolle spielen akute oder chronische Infektionen als Risikofaktor für eine zerebrovaskuläre Ischämie? Können es evtl. Chlamydien sein, die ja ursächlich als mitbedingender Faktor bei der Entstehung eines Herzinfarktes diskutiert werden.

Ein weiteres Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Stiff-man-Syndrom. Was liegt ihm zugrunde, immunologische Defizite oder psychische Störungen oder beides?

Die Reihe der interessanten, offenbar über Drittmittel geförderten Forschungsprojekte der Klinik ließe sich noch lange fortsetzen. Für ein besseres Verstehen müsste man allerdings selbst Teilnehmer einer solchen Forschungsgruppe sein, um bei den wissenschaftlichen Erörterungen mitdiskutieren zu können.

Leider gibt es im Rahmen der Heidelberger Neurologischen Klinik keine spezielle Anfallsambulanz mehr, obwohl die Epilepsie wahrscheinlich eine der am längsten bekannten neurologischen Erkrankungen ist; denn bereits vor 3700 Jahren wird im Gesetzeskodex des babylonischen Königs Hammurabi, in einem der ersten Schrifttexte der Menschheit, die Epilepsie unter dem Namen „bennu-Krankheit” erwähnt. Die Anfallskranken werden aber offenbar bestens von Herrn Pohlmann-Eden und seinem Team in der Mannheimer Neurologischen Klinik betreut.

Eine Frage würde ich gern an Herrn Hacke richten: Gibt es in der Heidelberger Neurologischen Klinik auch eine spezielle Einrichtung für Patienten mit neuropsychologischen Defiziten? Zu Vogels Zeiten war dies nicht der Fall, obwohl sich Herr Bay, unser damaliger Oberarzt, bekanntermaßen sehr intensiv mit Hirnleistungsstörungen befasst hat. Gerade in einer solchen Einrichtung ist das Miteinander von Krankem und Therapeut von großer Wichtigkeit. Ich denke besonders an Patienten mit einer Aphasie. Was die Sprache anbelangt, ist es ja nicht so, dass der sprachliche Akt ein singuläres Subjekt mit einem anderen singulären Subjekt additiv wie 2 = 1 + 1 verbindet, sondern Sprache ist - wie es mein Bruder einmal ausgedrückt hat - „ein Explikat einer Wir-heit”, also ein kommunikatives Geschehen. Das sind so Überlegungen, die sich sicherlich auch bei der Behandlung von sprachgestörten Patienten realisieren lassen.

Mit großem Gewinn lese ich immer wieder in Poecks inhaltsreichem Buch über die „Klinische Neuropsychologie”. Wie viele neue Erkenntnisse werden darin vermittelt [7].

Die Riesenfortschritte, die auf dem gesamten Gebiet der Neurologie erkennbar sind, bringen natürlich auch gewisse Schwierigkeiten mit sich, z. B. der Umgang mit der modernen Nomenklatur und die ziemlich hoch spezialisierte Fachsprache, die zwar sicherlich notwendig ist, um moderne Erkenntnisse sachgemäß zu präzisieren. Trotzdem habe ich den Eindruck beim Gespräch mit niedergelassenen Kollegen, dass diese damit gewisse Probleme haben. Dazu gehören die vielen Abkürzungen. Ich empfand es deshalb als große Hilfe, dass in Poecks und Hackes außerordentlich instruktivem Neurologie-Lehrbuch ein umfangreiches Abkürzungsverzeichnis aufgeführt ist [12].

Wohin steuert nun die Neurologie bei der raschen Entwicklung und Umsetzung zukunftweisender Konzepte? Wo liegt in Zukunft die Anziehungskraft der Neurologie für wissenschaftlich interessierte junge Forscher? Fragen, die mich natürlich bewegen.

Die Analyse des Erbguts führt zu wirksameren Medikamenten und eröffnet ein weites Feld neuer medizinischer Perspektiven. Das gilt auch für die Neurologie. Die Molekularbiologie und die Molekulargenetik spielen dabei sicher eine große Rolle. Die Superspezialisierung sollte aber nicht nur die Krankheit als solche im Blickfeld behalten und dabei den kranken Menschen im Hintergrund stehen lassen. Die Krankengeschichte ist immer zugleich eine Lebensgeschichte. Jeder trägt - wie es Siebeck einmal ausgedrückt hat - in seiner Persönlichkeit die Kraft in sich, die Entstehung und Gestaltung, den Ablauf und die Heilung der Krankheit mitzubestimmen [13]. Und nicht sollte man vergessen, dass aller Fortschritt ein Weiterschreiten auf der Basis einer Tradition ist (C. F. v. Weizsäcker) [3].

Literatur

  • 1 Schäfer H. Emeriti erinnern sich. Bd. 1. Die Medizin. Fak 1993: 15
  • 2 Hess B. Emeriti erinnern sich. Bd. 1. Die Medizin. Fak 1993: 229
  • 3 von Weizsäcker C Fr. Die Einheit der Natur. dtv 1995: 27-29
  • 4 Marfeld A F. Kybernetik des Gehirns. Safari-Verlag: Berlin 1970: 235
  • 5 Schipperges H. Zum Selbstverständnis einer Medizin zwischen gestern und morgen.  Studium generale. 1969;  22 569
  • 6 Steinhausen M. Medizinische Physiologie. Gustav Fischer Verlag, IV. Aufl. 1996: 281
  • 7 Poeck K. Klinische Neuropsychologie. Thieme, Stuttgart 1982
  • 8 Doerr W. Die Pathologie Rudolf Virchows und die Medizin unserer Zeit.  Dtsch med Wschr. 1958;  83 370
  • 9 10 Jahre Neurologie in der Kopfklinik. Neurolog Univ Klin Ruprecht-Karls-Univ: Heidelberg 1996-1997
  • 10 Hennerici M, Kuschinsky W. Schlaganfall: Rasche Therapie begrenzt Schäden. Ruperto Carola Forsch. Magazin der Univ. Heidelberg 1/95
  • 11 Riechert T. Neurochirurg. Therapie Handbuch der Inneren Medizin. Neurologie Bd. 1 1953: 1514
  • 12 Poeck K, Hacke W. Neurologie. 10. Aufl, Springer, Berlin 1998
  • 13 Siebeck R. Die prämorbide Persönlichkeit.  Veröff. Berlin. Akademie f. ärztl. Fortbildung: Jena,. 1939;  5

Prof. Dr. W. Christian

Tischbeinstr. 15

69121 Heidelberg